Hans Herbjørnsrud

Hans Herbjørnsrud
Hans Herbjørnsrud auf einer Veranstaltung in Germersheim, 2008

Hans Herbjørnsrud (* 2. Januar 1938 in Heddal, Norwegen) ist ein norwegischer Autor von längeren Erzählungen und Kurzgeschichten. Er wuchs in der Provinz Telemark auf, arbeitete zeitweise als Lehrer im Gudbrandsdalen in Ost-Norwegen und bewirtschaftet seit 1976 wieder den elterlichen Bauernhof in der Nähe von Notodden.

Inhaltsverzeichnis

Leben und Werk

Herbjørnsrud führt eine lange Tradition seines Landes fort und lebt eine Doppelexistenz als Autor und Landwirt. Seinem relativ späten literarischen Debüt im Jahre 1979 mit dem Prosaband Vitner folgten bis zum Jahr 2006 sechs weitere schmale Bücher, die Erzählungen unterschiedlichen Umfangs von etwa 10 bis 100 Seiten enthalten. Galt er zunächst als Geheimtipp und „author's author“, genießt sein Oeuvre inzwischen in ganz Skandinavien hohe Wertschätzung. 1997 erhielt Herbjørnsrud den renommierten Kritikerpreis, die Bände Blinddøra und Vi vet så mye wurden jeweils für den Literaturpreis des Nordischen Rates nominiert. Seine Erzählungen liegen in mehreren Sprachen, so auf Deutsch, Englisch, Französisch, Russisch, Tschechisch, Slowenisch, Ungarisch, Hindi und Bangla vor.

Sprache und Identität

Herbjørnsruds Ausgangspunkt ist nicht selten die Volkskultur seiner Landschaft Telemark, vor allem deren reiche Überlieferung an Balladenstoffen, ohne dass sich seine Erzählungen an die ideologisch fragwürdige Heimatliteratur anlehnen würden. Die facettenreich ins Verhältnis zueinander gesetzten Themen Sprache und Identität platzieren sein Werk ganz im Gegenteil in eine Tradition der Moderne, die in Norwegen erst spät rezipiert wurde. Herbjørnsrud bedient sich häufig mehrerer Sprachformen und Dialekte sowie einer ornamentalen Rhetorik.

Eine seiner bekanntesten Erzählungen, Kai Sandemo (auf Norwegisch 1997 in Blinddøra, auf Deutsch in einer 2005 erschienenen bilingualen Ausgabe veröffentlicht), beginnt auf Dänisch, entfaltet sich aber allmählich in mehreren Varianten des Norwegischen. Mit Hilfe dieser Technik werden die Konflikte des norwegischen Ich-Erzählers, der in seiner Heimat einen Brudermord begangen hat und nach Verbüßung der Gefängnisstrafe in Dänemark lebt, anschaulich gemacht. Je mehr er sich in einem langen Brief den Vorfällen in der Vergangenheit nähert, zu denen auch Brandschatzung und Inzest zählen, desto weniger ist er in der Lage, dem Lebensideal einer rationalistischen Existenz zu entsprechen. Fast unmerklich gleitet er in den Dialekt seiner Jugendjahre hinein und verfällt in ein Stakkato, das den Zusammenbruch der Ordnung indiziert.

Realismus und Phantastik

Das Balladeske der Texte setzt sich aus realistischen und phantastischen Elementen zusammen, die allerdings kaum als solche voneinander zu unterscheiden sind. In der kurzen Erzählung På Gamletun i Europa (etwa: Auf dem alten Vorhof Europas, veröffentlicht im Band Eks og Sett) werden die Bewohner eines norwegischen Bauernhofes zu Beginn des 17. Jahrhunderts Opfer einer verheerenden Überschwemmung, die im Laufe nur weniger Tage die mythische Dimension einer Sintflut annimmt. Gleichzeitig spiegelt dieser Vorgang an der Peripherie Europas das barocke Lebensgefühl verlorener Göttlichkeit. Ein junges Mädchen überlebt die Katastrophe in der Krone einer Esche und fertigt über ihre Erlebnisse ein 29 Strophen umfassendes Lied an – „Strophen so viele wie das Alphabet der Sprache, die sie nicht beherrschte“. Die vielen Unerklärlichkeiten dieser Ballade sorgen dafür, so der Erzähler in einem poetologischen Kommentar, dass sie bis in die Gegenwart tradiert wird und dadurch „das Wundern lebendig“ bleibt. Aussagen wie diese platzieren das Werk Herbjørnsruds für manche Kritiker in die Nähe des magischen Realismus.

Ähnlich lässt er in der Novelle Die blinde Tür (aus dem gleichnamigen Band Blinddøra) eine Schlosserin „mit windschiefem Lachen“ zwischen Alltag und Magie oszillieren und eine „unerhörte Begebenheit“ in der Tradition Goethes aufspüren: Hinter einer als „Mahagonigöttin“ verklärten blinden Tür findet sich das Skelett eines Kindes, das eine Magd im Jahr 1882 abgetrieben hatte.

Intertextualität

Zu den weiteren Besonderheiten der Prosa Herbjørnsruds gehören ihre kunstvolle Komposition und ihre intertextuellen Verflechtungen. Die Erzählung Jens Helland (aus dem Band Han) setzt sich z. B. mit dem großen norwegischen Erzähler Johan Borgen auseinander, während andere Texte den Einfluss u. a. von Tarjei Vesaas und Aksel Sandemose verraten. In einem europäischen Kontext ist Herbjørnsrud unter anderem mit Bruno Schulz verglichen worden.

Auf Deutsch liegt mit Die blinde Tür eine Übersetzung des Bandes Blinddøra, sowie in einer freien Nachdichtung die zunächst als unübersetzbar eingestufte Erzählung Kai Sandemo vor. 2010 erschien der Erzählband Die Brunnen.

Auszeichnungen

  • 1979 Tarjei-Vesaas-Preis (für das beste Debüt des Jahres)
  • 1988 Legat des Verlages Gyldendal
  • 1997 Kritikerpreis (für Blinddøra)
  • 1998 Nominierungsliste Literaturpreis des Nordischen Rates (Blinddøra)
  • 1999 Nominierungsliste Aristeion-Preis (Blinddøra)
  • 2002 Nominierungsliste Literaturpreis des Nordischen Rates (Vi vet så mye)
  • 2005 Doblougpreis der Schwedischen Akademie (für das Gesamtwerk)
  • 2005 Aschehougpreis (für das Gesamtwerk)

Bibliographie

Primärliteratur

  • 1979: Vitner (Zeugen)
  • 1984: Vannbæreren (Der Wasserträger)
  • 1987: Han (Er)
  • 1992: Eks og Sett (Iks und Zett)
  • 1997: Blinddøra (Die blinde Tür)
  • 2001: Vi vet så mye (Wir wissen so viel)
  • 2003: Samlede noveller (Gesammelte Erzählungen)
  • 2006: Brønnene (Die Brunnen)

Übersetzungen

  • Die blinde Tür. Aus dem Norwegischen von Siegfried Weibel. Luchterhand Verlag, München 2000. ISBN 3-630-87069-4
  • Kai Sandemo / Kai Sandmoser. Herausgegeben von Elisabeth Berg und Uwe Englert. Nachdichtung von Michael Baumgartner u. a. Mars Verlag, Frankfurt/Zürich 2005. ISBN 3-00-015759-X
  • Die Brunnen. Erzählungen. Aus dem Norwegischen von Ulrich Sonnenberg. Luchterhand Verlag, München 2010. ISBN 978-3-630-87269-8

Sekundärliteratur (Auswahl)

  • Linn Ullmann: Den tredje stemmen. Hans Herbjørnsruds tvisyn. In: Bøk, H. 2, 1994, S. 77-88.
  • Frode Helland: Hans Herbjørnsruds novellesamling Blinddøra (1997). En lesning. In: Norsk litterær ordbok. Oslo 1999, S. 134-149.
  • Benedikt Jager: The Locked Room der Erinnerung. Annäherung an Hans Herbjørnsruds Erzählung Blinddøra. In: Annegret Heitmann (Hrsg.): Arbeiten zur Skandinavistik. 14. Arbeitstagung der deutschsprachigen Skandinavistik, 1.-5. September 1999 in München. Frankfurt am Main 2001, S. 509-517.
  • Eva Stadler, Die Funktion von Spiegeln und Spiegelungen in ausgewählten Erzähltexten Hans Herbjørnsruds. München 2000 (= Magisterarbeit, Ludwig-Maximilians-Universität).
  • Geir Uvsløkk: Speilbilder. Melankoli og identitet i en novelle av Hans Herbjørnsrud. In: Norskrift, H. 99, 2000, S. 20-32.
  • Uwe Englert: Die blinde Tür. In: Norrøna, H. 30, 2001, S. 88-89.
  • Arild Vange: Sover du tekst? Nei, jeg blir satt over. Om å mestre og miste, med utgangspunkt i oversettelsen av Hans Herbjørnsruds novelle Kai Sandemo til tysk. In: Aasne Vikøy (Hrsg.): Mellomrom. Tolv tekster om oversettelse. Bergen 2007, S. 25-34.
  • Marit Holm (Hrsg.): Iscenesettelse av jeg'et. Realisme og mystikk. Kompendium fra Herbjørnsrud-seminaret 2005. Oslo/Notodden 2007.

Siehe auch

Weblinks


Wikimedia Foundation.

Игры ⚽ Нужен реферат?

Schlagen Sie auch in anderen Wörterbüchern nach:

  • Hans Herbjörnsrud — Hans Herbjørnsrud, 2005 Hans Herbjørnsrud (* 2. Januar 1938 in Heddal, Norwegen) ist ein norwegischer Autor von längeren Erzählungen und Kurzgeschichten. Er wuchs in der Provinz Telemark auf, arbeitete zeitweise als Lehrer in Gudbrands …   Deutsch Wikipedia

  • Hans Herbjørnsrud — (born 2 January 1938 in Heddal) is a Norwegian author of short stories. His works frequently play with the differences between Norwegian languages Bokmål and Nynorsk and the various Norwegian dialects. His stories characters sometimes playfully… …   Wikipedia

  • Hans Herbjoernsrud — Hans Herbjørnsrud, 2005 Hans Herbjørnsrud (* 2. Januar 1938 in Heddal, Norwegen) ist ein norwegischer Autor von längeren Erzählungen und Kurzgeschichten. Er wuchs in der Provinz Telemark auf, arbeitete zeitweise als Lehrer in Gudbrands …   Deutsch Wikipedia

  • Herbjornsrud — Hans Herbjørnsrud, 2005 Hans Herbjørnsrud (* 2. Januar 1938 in Heddal, Norwegen) ist ein norwegischer Autor von längeren Erzählungen und Kurzgeschichten. Er wuchs in der Provinz Telemark auf, arbeitete zeitweise als Lehrer in Gudbrands …   Deutsch Wikipedia

  • Herbjørnsrud — Hans Herbjørnsrud, 2005 Hans Herbjørnsrud (* 2. Januar 1938 in Heddal, Norwegen) ist ein norwegischer Autor von längeren Erzählungen und Kurzgeschichten. Er wuchs in der Provinz Telemark auf, arbeitete zeitweise als Lehrer in Gudbrands …   Deutsch Wikipedia

  • Hans (name) — Infobox Given Name Revised name = Hans imagesize= caption= pronunciation= Hahns gender = Male meaning = God is gracious region = German, Dutch, Scandinavian origin = Pet Form of Johannes related names = Jack, Ian, Jan, Jannes, Jean, Jo, Joan… …   Wikipedia

  • Dag Herbjørnsrud — (born 11 January 1971) is a Norwegian historian and journalist. He has been editor in chief of the Norwegian weekly left wing periodical Ny Tid since 1 February 2008.[1][2] He is the son of writer Hans Herbjørnsrud and historian Anna Tranberg. In …   Wikipedia

  • Hanns — Hans ist eine Kurzform des männlichen hebräischen Vornamens Johannes, ist aber als eigenständige Form standesamtlich anerkannt. Er kommt relativ selten auch als Familienname vor. Er tritt auch gerne in Kombination – immer vor – anderen Vornamen… …   Deutsch Wikipedia

  • Liste der Biografien/Hep–Her — Biografien: A B C D E F G H I J K L M N O P Q …   Deutsch Wikipedia

  • 2. Jänner — Der 2. Januar (in Österreich und Südtirol: 2. Jänner) ist der 2. Tag des Gregorianischen Kalenders: somit bleiben noch 363 (in Schaltjahren 364) Tage bis zum Jahresende. Historische Jahrestage Dezember · Januar · Februar 1 …   Deutsch Wikipedia

Share the article and excerpts

Direct link
Do a right-click on the link above
and select “Copy Link”