Hermann Schneider (Philosoph)

Hermann Schneider (Philosoph)

Hermann Louis Heinrich Schneider (* 29. April 1874 in Pforzheim; † 26. Oktober 1953 in Delmenhorst) war ein deutscher Psychiater, Philosoph und Pädagoge. Er lehrte als Professor an der Universität Leipzig.

Inhaltsverzeichnis

Leben

Schneiders Vater war Großkaufmann, Hermann Schneider daher vermögend.[1] Er wuchs in Alexandrien in Ägypten auf.[1] In München studierte er Medizin.[1] Er wurde 1897/1898 dort zum Dr.med. promoviert; der Titel der Dissertation lautete: Über die Stillung von Leber- und Nierenblutungen durch Dampf und heiße Luft. Um seine Ausbildung zu erweitern, ging er nach London und Paris.[1] Er war von 1898 bis 1901 Assistent an der psychiatrischen Klinik in Heidelberg, am pharmakologischen Institut Marburg und an der königlichen Charité und Poliklinik der Prof. Wendel und Litten in Berlin.[2] Er unternahm dort „psychiatrische, psychologische und physiologische Studien“.[2] 1901 ließ er sich „als Spezialist für ‚Narren- und Geisteskrankheiten‘“ in Freiburg im Breisgau nieder.[2] Zu dieser Zeit hörte er auch Vorlesungen in Philosophie. 1903 gab er die Arztpraxis auf und begann eine Doktorarbeit in Philosophie an der Universität Leipzig. 1904 erfolgte die Promotion zum Dr. phil. mit der Dissertation Die Stellung Gassendis zu Descartes. Die „äußere Veranlassung“ war die „Ausschreibung des Krugschen Preisstipendiums für 1903 durch die Philosophische Fakultät der Universität Leipzig“.[3]

Er habilitierte sich bereits 1905 in Leipzig; der Titel der Habilitationsschrift lautete Das kausale Denken in deutschen Quellen zur Geschichte und Literatur des 10., 11. und 12. Jahrhunderts. Hans Volkelt hatte diese Studie kritisiert als eine „mit philosophischem Geist unternommene geschichtswissenschaftliche Arbeit“.[1] Die Probevorlesung als Privatdozent fand unter dem Titel Goethes naturphilosophische Leitgedanken statt.[4] 1911 wurde Hermann Schneider ao. Prof. für Philosophie in Leipzig (Antrittsvorlesung: Jesus als Philosoph). 1922 wurde ihm vom Sächsischen Ministerium außerdem die Lehrbefugnis für Geschichtsphilosophie erteilt.[1] 1923 wurde er ao. Prof. für Philosophie und Pädagogik. Die Berufung erfolgte unter Einfluss sozialdemokratischer Protektion[5] am 25. August 1923, obwohl die Fakultät dessen Inkompetenz für pädagogische Fragen hervorgehoben hatte.[1] 1939 wurde er emeritiert, sein Lehrstuhl fiel ersatzlos weg.[6]

Fast zwei Jahrzehnte, von 1912 bis 1931, arbeitete er an seinem Hauptwerk Die Kulturleistungen der Menschheit. Wie in anderen Werken ist sein thematischer Schwerpunkt der Darstellung der jeweiligen Beiträge einzelner Völker zur Kultur der Menschheit erkennbar.

Politische Position

Schneider ist den „liberalen“ Philosophen zuzurechnen[7]; er wendet sich aber gegen Kapitalismus und ein „westlich-liberale[s] System der Selbstsucht“.[8] Tilitzki spricht von „anti-christlicher, anti-bürgerlicher und einer heftigen anti-monarchistischen, gegen Wilhelm II. gerichteten Grundhaltung“.[9] Schneider stand zunächst der SPD nahe, hielt „den Kapitalismus für das Grundübel“ und warf „den Angelsachsen“ vor, „sie hätten in ihrem enthemmten Materialismus den ‚Juden überjudet‘“.[10] Die Novemberrevolution von 1918 habe mit dem bürgerlichen Klassenstaat „längst bruchreif[es]“ umgestoßen; er hoffte auf einen „Sozialismus ohne Marxismus“.[11] Karl Marx galt ihm als Schüler Fichtes, der „geschlossene Handelsstaat“ als Produkt des Marxismus.[11]

Schneider postulierte, dass die kulturellen Hochleistungen gerade nicht auf „Rassenreinheit“, sondern auf „Durchmischung“ beruhen. Kurz vor der Machtergreifung der Nationalsozialisten äußerte er damit eine Auffassung, die im Gegensatz zur Rassentheorie stand. Tilitzki schreibt ihm zu, dem „Antisemitismus“ widerstanden zu haben, aber „keineswegs philosemitisch“ gewesen zu sein.[12] Seiner Kulturgeschichte der Juden und Babylonier von 1910 fügt Schneider ein Nachwort zum modernen Judentum bei, das ambivalente Wertungen gibt: Juden seien als „Individualatomisten“ „parasitäre Nutznießer der bürgerlich-demokratischen Sozialform, des Kapitalismus und Kosmopolitismus“ – aber das „moderne Judentum“ wegen der „Immunität gegen die christlichen Kirchen“ auch „Bundesgenosse des Fortschritts“.[13] Hermann Schneider bestritt mit seinem Satz, dass neue Kulturleistungen möglich bleiben, wenn es zu neuen Völkermischungen kommt, die Formulierungen Oswald Spenglers[14]. Auch wenn Schneider damit im Widerspruch zur Nazi-Propaganda stand, so finden sich doch in seinen Schriften (insbes. in Erziehung zum Deutschsein) antisemitische Anschauungen und die Forderung nach Aufgabe der kulturellen Identität der Juden.

Schneider war Mitglied der NSDAP seit Anfang 1933 und trat zusätzlich dem NSLB bei; er legte das Bekenntnis der Professoren an den deutschen Universitäten und Hochschulen zu Adolf Hitler im November 1933 ab.

Einzelnachweise

  1. a b c d e f g Tilitzki, l.c., 111
  2. a b c www.uni-leipzig.de - 404-Error
  3. Rudolph F. Pfaff: Die Unterschiede zwischen der Naturphilosophie Descartes und derjenigen Gassendis und der Gegensatz beider Philosophen ueberhaupt. Ayer Publishing 1964, 2
  4. Publikation: Goethes naturphilosophische Leitgedanken v. Herm. Schneider. Eine Einführung in die naturwissenschaftl. Werke. Berlin, Gose & Tetzlaff, 25 Seiten
  5. Tilitzki, l.c., 111f und 382f
  6. Tilitzki, l.c., 850
  7. Tilitzki, l.c., 72
  8. n. Tilitzki, l.c., 382
  9. Tilitzki, l.c., 112
  10. So Tilitzki, l.c., 30 mit Bezug auf Schneider 1925, 107-109
  11. a b Tilitzki, l.c., 381
  12. Tilitzki, l.c, 434
  13. Tilitzki, l.c., 436
  14. vgl. Lit. 1974

Werke (in Auswahl)

  • Die Stellung Gassendis zu Deskartes. Dissertation, Leipzig 1904
  • Das kausale Denken in deutschen Quellen zur Geschichte und Literatur des 10., 11. und 12. Jahrhunderts. Gotha 1905
  • Kultur und Denken der Alten Ägypter. Leipzig 1907
  • Kultur und Denken der Babylonier und Juden. Leipzig 1910
  • Religion und Philosophie. Ihr Wesen und ihre Aufgaben in der Gegenwart. Leipzig 1912, 2. 1924
  • Metaphysik als exakte Wissenschaft. 3 Hefte, Leipzig 1919–1920
  • Philosophie der Geschichte. Band I: Geschichte der Geschichtswissenschaft. Breslau 1923
  • Philosophie der Geschichte. Band II: Logik und Gesetze der Geschichte. Breslau 1923
  • Zur Reform des Privatdozentenwesens. In: Akademische Nachrichten. Band 5/7, 1923–24, S. 40–42
  • Erziehung zum Deutschsein. Breslau 1925
  • Das Gesetz des Übergangs geistiger Leistungen in die Massen. In: Japanisch-Deutsche Zeitschrift für Wissenschaft und Technik. Band 3, 1925, S. 14–26
  • Die Kulturleistungen der Menschheit. 2 Bände, Leipzig 1927 und 1931
  • Grundwissenschaft. Die nicht-psychologische Wissenschaft von der Wissenschaft. Kiel 1957

Literatur

  • Der Anti-Spengler. Vor hundert Jahren wurde Hermann Schneider geboren. In: Die Welt. 29. April 1974
  • Carsten Heinze: Die Pädagogik an der Universität Leipzig in der Zeit des Nationalsozialismus 1933–1945. Bad Heilbrunn/Obb. 2001
  • Christian Tilitzki: Die deutsche Universitätsphilosophie in der Weimarer Republik und im dritten Reich. 2 Bände, Akademie Verlag 2002, ISBN 3050036478, Seiten 109f, 381–383, 434–436 u.ö.

Weblinks


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