Höhere Gewalt

Höhere Gewalt

Die höhere Gewalt (von lat. vis maior) liegt nach deutscher Rechtsprechung vor, wenn das schadenverursachende Ereignis von außen einwirkt, also seinen Grund nicht in der Natur der gefährdeten Sache hat (objektive Voraussetzung) und das Ereignis auch durch die äußerst zumutbare Sorgfalt weder abgewendet noch unschädlich gemacht werden kann (subjektive Voraussetzung). Allerdings muss beachtet werden, dass der französische und der englische Begriff mit der deutschen „höheren Gewalt“ nicht deckungsgleich sind[1]. Ein „Act of God“ ist vielmehr eine Art „Unterfall“ der höheren Gewalt.

Inhaltsverzeichnis

Ereignisse im Rahmen der höheren Gewalt

Höhere Gewalt sind unabwendbare Ereignisse wie z. B. Naturkatastrophen jeder Art, insbesondere Unwetter, Erdbeben, Überschwemmungen, Vulkanausbrüche, aber auch Brand, Verkehrsunfälle, Geiselnahmen, Krieg, Unruhe, Bürgerkrieg, Revolution, Terrorismus, Sabotage, Streiks, sofern diese bei einem Dritten stattfinden (Beispiel: Vertrag zwischen Verbraucher und Fluggesellschaft und Streik bei Fluglotsen, nicht jedoch bei einem Streik bei der Fluggesellschaft), Atom-/ Reaktorunfälle oder im industriellen Sinne Maschinenschäden/Produktionsstörungen. Höhere Gewalt erfordert regelmäßig einen völlig unerwarteten Eintritt eines dieser Ereignisse. Wenn jedoch mit dem Eintritt eines Ereignisses durchaus gerechnet werden kann wie etwa bei Überschwemmungen, die immer wieder in denselben Regionen auftreten, liegt keine höhere Gewalt vor. So setzt höhere Gewalt bei einem Verkehrsunfall voraus, dass das schädigende Ereignis von außen her auf den Betrieb des Fahrzeugs eingewirkt haben muss und so außergewöhnlich gewesen sein muss, dass der Halter oder der Fahrer überhaupt nicht damit zu rechnen brauchte und dieses Ereignis auch nicht durch die größte Sorgfalt abwenden konnte. Nach der Rechtsprechung des BGH zu anderen Anwendungsfällen des Haftungsmaßstabes der höheren Gewalt muss dieses schädigende Ereignis durch elementare Naturkräfte oder durch Handlungen dritter Personen herbeigeführt worden sein, nach menschlicher Einsicht und Erfahrung unvorhersehbar sein, mit wirtschaftlich erträglichen Mitteln und auch durch äußerste und nach Sachlage mit vernünftiger Weise zu erwartende Sorgfalt nicht verhütet oder unschädlich gemacht werden können und auch nicht wegen seiner Häufigkeit in Kauf zu nehmen sein[2].

Die Ereignisse dürfen auch nicht aus der Sphäre einer der Vertragsparteien kommen. Der Brand auf einem Nil-Kreuzfahrtschiff ist jedoch der Sphäre des Veranstalters zuzurechnen, sodass höhere Gewalt ausscheidet[3].

Vertragsgestaltung

Als höhere Gewalt bezeichnet die Rechtsprechung ein von außen kommendes, nicht voraussehbares und auch durch äußerste vernünftigerweise zu erwartende Sorgfalt nicht abwendbares Ereignis[4]. Voraussetzung ist regelmäßig, dass es sich um Ereignisse handelt, die von außen auf die Vertragsparteien einwirken und die von den Vertragsparteien bei der Vertragsgestaltung nicht bedacht worden sind. Wenn in einem solchen Fall auch die höchstmögliche Sorgfalt den Eintritt der Ereignisse nicht zu verhindern vermag, liegt höhere Gewalt vor.

Das internationale Handels- und Vertragsrecht will alle erdenklichen Fallgestaltungen regeln, selbst wenn ihr Eintritt als eher unwahrscheinlich eingestuft wird. Erfahrungen mit derartigen Ereignissen haben jedoch gezeigt, dass sie eintreten und damit eventuell die Erfüllung von Verträgen unmöglich machen. Der Abschluss eines - möglicherweise langfristig bindenden - Vertrages verpflichtet jedoch die Vertragsparteien, ihre eingegangenen Verpflichtungen vollständig zu erfüllen. Vom Vertrag nicht vorhergesehene Ereignisse außerhalb des Einflussbereiches der Parteien können jedoch die gegenseitigen Verpflichtungen grundlegend ändern und sogar die Erfüllung des Vertrages verhindern. Für diesen Fall sind Abreden zu treffen, die den Umgang mit diesen Ereignissen regeln.

Die International Chamber of Commerce (ICC) hat dazu eine Broschüre herausgegeben[5]. Diese in englischer Sprache verfasste Broschüre schlägt angemessene vertragliche Regelungen für höhere Gewalt und Unzumutbarkeit („hardship“) vor. Die erste Revision dieser erstmals 1985 veröffentlichten Publikation versucht, die legitimen Interessen aller an einem Vertrag beteiligten Parteien in ein faires Gleichgewicht zu bringen. In Ziffer 3 sind die möglichen Ereignisse minutiös aufgezählt. Liegt demnach höhere Gewalt vor, kann für die Vertragsparteien die Erfüllung einzelner Verpflichtungen oder gar das Festhalten am gesamten Vertrag unzumutbar werden; in diesem Falle wird die betroffene Vertragspartei von ihren Verpflichtungen temporär oder dauerhaft befreit[6].

Force-majeure-Klauseln

Um Streitigkeiten oder Auslegungsrisiken über etwaige Haftungsfragen zu vermeiden, wird in vielen Verträgen zum vorbeugenden Haftungsausschluss im Falle extremer unerwarteter Ereignisse eine sogenannte Force-majeure-Klausel integriert. Diese räumt einer oder allen Vertragsparteien im Fall höherer Gewalt das Recht ein, von dem ansonsten bindenden Vertrag zurückzutreten. Die Klausel ist geeignet, das geltende positive Recht zu verdrängen. Während der erste Teil der Klausel sich mit der Definition der Fälle von höherer Gewalt durch detaillierte Auflistung aller geltenden Ereignisse befasst und die Tatbestandsvoraussetzungen für eine Haftungsbefreiung aufzählt, ist ihr zweiter Teil den Rechtsfolgen vorbehalten. Diese sehen eine Befreiung von Schadenersatzpflichten, die etwaige Gewährung einer Nachfrist und das Recht zur Vertragskündigung oder Vertragsauflösung vor.

Tritt ein Ereignis der höheren Gewalt ein, wird die Erfüllung der vertraglichen Pflichten - zumindest vorübergehend - suspendiert. Das bedeutet im Hinblick auf die Risikoverteilung, dass letztlich jeder der beiden Vertragspartner die für ihn schädlichen Folgen der Störung oder Verzögerung der Leistung selbst zu tragen hat. Gegenseitige Ansprüche auf Ausgleich der Risikofolgen bestehen dann nicht. Im Ergebnis wird das Risiko demjenigen Vertragspartner zugewiesen, der primär vom Risiko und dessen schädigenden Folgen betroffen wird. Die Aufhebung der Vertragspflichten bewirkt, dass Erfüllungszeiten außer Kraft treten, weil es an der Voraussetzung der Fälligkeit der Leistung fehlt. Die eine Vertragspartei hat keinen Anspruch auf Schadensersatz wegen der nicht zeitgerechten Erfüllung durch die andere. Sie muss die Risikofolgen der Verzögerung selbst tragen. Wirkt das störende Ereignis nicht mehr auf den Vertrag ein, so kann die Klausel Regelungen vorsehen, die das Wiederaufleben des Vertrags ermöglichen.

Beispielsweise sehen die international angewandten FIDIC-Musterbauverträge neben einer weiten, möglichst viele Ereignisse zulassenden „Force-majeur“-Klausel in Ziff. 19.4 eine Bauzeitverlängerung vor, falls sich die Fertigstellung des Bauwerks durch höhere Gewalt verzögert. Sollte die Ausführung der Bauarbeiten durch höhere Gewalt unterbrochen werden und die Unterbrechung 84 Tage hintereinander andauern oder mehrere Unterbrechungen infolge von höherer Gewalt mehr als 140 Tage betragen, kann der Vertrag von jeder der Vertragsparteien gekündigt werden. Im Falle der Vertragskündigung auf Grund von höherer Gewalt erhält der Bauunternehmer nach der Unterklausel 19.6 eine Vergütung für die bereits ausgeführten Leistungen sowie Erstattung der Kosten für Material und Gerätebestellungen sowie sonstige Verbindlichkeiten, die der Bauunternehmer in Erwartung der Fertigstellung der Arbeiten vernünftigerweise eingegangen ist, die Kosten des Abbaus von Bauhilfswerken, der Rücksendung des Baugeräts und für die Rückführung seines Personals.

Zivilrecht

Im deutschen Zivilrecht ist die höhere Gewalt als Vertragsstörung anerkannt. Sie kann dazu führen, dass der Gläubiger an der Durchsetzung vertraglicher Ansprüche gehindert ist, weil etwa Naturkatastrophen zur Störung der Kommunikation geführt haben. In solchen Fällen wird die Rechtsverfolgung vertraglicher Ansprüche nach deutschem Recht gehemmt, solange der Gläubiger innerhalb der letzten 6 Monate der Verjährungsfrist durch höhere Gewalt gehindert ist (§ 206 BGB).

Reiserecht

Der Begriff höhere Gewalt kommt auch im deutschen Reiserecht vor (z. B. § 651j BGB).[7] Hiernach kann ein Reisevertrag vom Reisenden und vom Reiseveranstalter gekündigt werden, wenn die Reise wegen höherer Gewalt erheblich erschwert, gefährdet oder beeinträchtigt wird und wenn dies bei Vertragsschluss noch nicht voraussehbar war. Der Veranstalter verliert dann den Anspruch auf den vereinbarten Reisepreis. Für bereits erbrachte Reiseleistungen kann er eine angemessene Entschädigung verlangen. Der Veranstalter muss für die Rückbeförderung des Reisenden sorgen; die Kosten der Rückbeförderung tragen der Veranstalter und der Reisende je zur Hälfte. Schadensersatzansprüche des Reisenden gegen den Veranstalter entstehen nicht.

Unterinstanzliche Gerichte hatten sich in einer Vielzahl von Fällen mit der Frage zu befassen, ob bestimmte Ereignisse bereits die reiserechtliche Schwelle der höheren Gewalt erreicht hatten. Danach sind einzelne, gezielte Terroranschläge keine höhere Gewalt, sondern müssen zu flächendeckenden, unkontrollierbaren inneren Unruhen mit bürgerkriegsähnlichem Charakter eskalieren. Auch allgemein bekannte Unruhen, die bereits einen längeren Zeitraum vor Reisebeginn andauern, sind demnach keine höhere Gewalt; sie fallen wegen ihrer Vorhersehbarkeit unter das allgemeine Lebensrisiko. Höhere Gewalt liegt jedoch vor, wenn der Reiseveranstalter eine Reise an die „türkische Riviera“ wegen Ausbruchs des Golfkrieges abbricht, sofern er das Kriegsrisiko, das den Reiseerfolg gefährdet, bei Abschluss des Reisevertrages (hier im August 1990) nicht konkret vorhersehen konnte.[8]

Die reiserechtliche Schwelle der höheren Gewalt liegt mithin höher als im übrigen Handels- und Vertragsrecht. Dort genügt in der Regel bereits ein einzelner, gezielter Terroranschlag, um die „Force majeur“-Klausel auszulösen.

Weitere Einzelfälle

Im Straßenverkehrsrecht führt das Vorliegen von höherer Gewalt als Unfallursache gem. § 7 Abs. 2 Straßenverkehrsgesetz (StVG) zum Ausschluss der Gefährdungshaftung für den Halter, der ansonsten verschuldensunabhängig für die bei dem Betrieb seines Kraftfahrzeuges verursachten Schäden haftet.

Im Baurecht führt das Vorliegen von höherer Gewalt nach § 6 Nr. 2 Abs. 1c) VOB/B zur Verlängerung der Ausführungszeit für den Auftragnehmer.

Beim Underwriting im Rahmen von Börsengängen, Kapitalerhöhungen oder internationalen Kreditsyndizierungen werden derartige Klauseln berücksichtigt, um sich vor Ereignissen wie dem 11. September 2001 zu schützen.

Rechtsfolgen

Liegt höhere Gewalt vor, so scheidet eine Haftung im Schadensfall in der Regel aus, weil keiner der Vertragsparteien ein Verschulden anzulasten ist. Das gilt auch gemäß § 7 Abs. 2 StVG, wenn ein Verkehrsunfall durch höhere Gewalt verursacht wird. Mit der höheren Gewalt sollen nur solche Risiken ausgeschlossen werden, welche mit dem Kfz- oder Anhängerbetrieb nichts zu tun haben und daher bei rechtlicher Bewertung nicht diesem zuzurechnen sind, sondern ausschließlich einem Drittereignis.

Eine Haftung trotz höherer Gewalt kommt ausnahmsweise im Fall des Schuldnerverzugs § 287 BGB) und bei der Sachentziehung (§ 848 BGB) in Betracht.

Versicherung

Viele Exportkreditversicherungen bieten im Rahmen der Absicherung gegen politische Risiken auch die Indeckungnahme typischer Ereignisse der höheren Gewalt an. Im Hinblick auf den Versicherungsumfang werden nicht alle Unterfälle der höheren Gewalt in Deckung genommen, weshalb der individuelle Haftungsausschluss durch die „Force-majeure-Klausel“ von entscheidender Bedeutung ist. Ebenfalls nicht gedeckt sind Schäden, die durch Kernenergie oder durch Umwelteinwirkungen im Sinne des Umwelthaftungsgesetzes oder des Wasserhaushaltsgesetzes mit verursacht worden sind.

Einzelnachweise

  1. Handelsgesetzbuch: Grosskommentar. Begründet von Hermann Staub, 2002, S. 255, ISBN 3-110-16811-1
  2. BGHZ 62, 351, 354 = BauR 1991, 331, 335
  3. BGHZ 100, 157 = NJW 1987, 1931
  4. BGHZ 100, 157 = NJW 1987, 1931
  5. „ICC Force Majeure Clause 2003/ICC Hardship Clause 2003“, 2. Auflage 2003, Publ.-Nr. 650
  6. ICC Force Majeure Clause 2003 (www.Trans-Lex.org)
  7. Wolfgang Fikentscher/ Andreas Heinemann, „Schuldrecht“, 2006, S. 616, ISBN 3899491483
  8. OLG Köln, Urteil vom 18. März 1992 (Az: 16 U 136/91)

Literatur

  • Andreas Blaschczok: Gefährdungshaftung und Risikozuweisung, Heymanns, Köln 1998, ISBN 3-452-22472-4
  • Nils Jansen: Die Struktur des Haftungsrechts, Mohr Siebeck, Tübingen 2003, ISBN 3-16-147988-2
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