- Judenrat
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„Judenrat“ ist der Oberbegriff, der für die während der Zeit des Nationalsozialismus von den deutschen Behörden eingesetzten Zwangskörperschaften der Juden in den von Deutschland kontrollierten Gebieten, verwendet wurde. Die Herkunft des Begriffs ist nicht völlig geklärt, es ist jedoch bekannt, dass jüdische Gemeindegremien, hebräisch „Kahal“ oder „Kehillah“, in Deutschland bereits im Mittelalter von den Behörden teilweise als „Judenräte“ bezeichnet wurden. Struktur und Aufgaben der „Judenräte“ unter nationalsozialistischer Herrschaft waren verschieden, je nachdem ob sie für ein einzelnes Ghetto, eine Region oder ein Land eingesetzt wurden.
Inhaltsverzeichnis
Antijüdische Gesetzgebung
In einem kurz nach Antritt der nationalsozialistischen Regierung in Auftrag gegebenen, Anfang April 1933 vorgelegten Bericht zur „Judenbekämpfung“ wurde die Errichtung eines rechtlich anerkannten „Verbands der Juden in Deutschland“, dem alle Juden Deutschlands zwangsweise beizutreten hätten, empfohlen. Dieser sollte einem durch den Reichskanzler ernannten deutschen „Volkswart“ unterstellt werden. Als führendes Organ der jüdischen Zwangsorganisation war ein alle vier Jahre von den Mitgliedern gewählter 25köpfiger „Judenrat“ vorgesehen. Der Bericht der Regierungskommission wurde nicht offiziell umgesetzt. Der israelische Historiker Dan Michman erachtet es als wahrscheinlich, dass die Kommission, die sich nachweislich mit den Rechtsbeziehungen zwischen Juden und Nichtjuden in Deutschland vor der Emanzipation auseinandergesetzt hatte, auf die für das Mittelalter beispielsweise für Augsburg [1] und Nürnberg belegte Bezeichnung „Judenrat“ zurückgriff, was, so Michman, die Ziele der Kommission erhellen würde, „nämlich Emanzipation und Assimilation rückgängig zu machen und die Juden auf ihren mittelalterlichen Status zurückzuwerfen.“[2]
Besetzte Gebiete
Die ersten Judenräte entstanden auf Befehl von Reinhard Heydrich seit dem 21. September 1939 kurz nach dem Polenfeldzug. Sie sollten die antijüdischen Maßnahmen der Besatzer im westlichen und mittleren Teil des Landes durchsetzen und hatten keine eigenen Machtbefugnisse. Sie sollten sich möglichst aus Rabbinern und anderen einflussreichen Mitgliedern bestehender jüdischer Gemeinden zusammensetzen, damit diese ihre Anweisungen unter deutscher Kontrolle befolgen würden. Zugleich sollte diese Einbindung die Glaubwürdigkeit der bisherigen Führungspersonen gegenüber ihren Mitjuden untergraben.
Weitere Judenräte in Ostpolen zu bilden befahl Hans Frank, Chef des neugebildeten „Generalgouvernements“, am 18. November 1939. Diese sollten für Orte mit bis zu 10.000 jüdischen Einwohnern aus 12, für größere Anteile aus 24 Personen bestehen. Sie sollten bis zum Jahresende von ihren Gemeinden gewählt werden und dann unter sich einen ersten und zweiten Vorsitzenden wählen. Das Ergebnis musste dem jeweiligen deutschen Stadt- oder Kreishauptmann vorgelegt und von diesem anerkannt werden: Ihre Wahl war also nur formal demokratisch, faktisch diktierten die Besatzer die Zusammensetzung der Räte. Sie mischten sich aber nur begrenzt in die Kandidatenwahl ein. Von ihnen benannte Personen weigerten sich öfter, in den Rat einzutreten, um sich nicht von den Besatzern missbrauchen zu lassen. In der Regel wurden die traditionellen Sprecher der jüdischen Gemeinden gewählt und ernannt, so dass die Kontinuität der Führung von beiden Seiten aus gesichert wurde.
Aufgaben
Die Nationalsozialisten strebten danach, die Judengemeinden Osteuropas auszuhungern und ihre Widerstandskräfte und -möglichkeiten systematisch zu schwächen. Die ersten Judenräte mussten für sie vor allem die jüdische Bevölkerung ihres Ortes zählen, Wohnungen räumen lassen und ihnen übergeben, Zwangsarbeiter zur Verfügung stellen, Wertsachen konfiszieren, Tribute sammeln und auszahlen.
Durch diese Maßnahmen der Besatzer, die zudem alle staatlichen Dienstleistungen strichen und verhinderten, entstanden enorme Versorgungsprobleme in den jüdischen Gemeinden. Daher nahmen die Judenräte auch am Aufbau eigener Ersatzinstitutionen teil. Sie versuchten, die Lebensmittelverteilung zu organisieren, Krankenstationen, Altenheime, Waisenhäuser und Schulen aufzubauen. Zugleich versuchten sie mit den ihnen verbliebenen Möglichkeiten, den Zwangsmaßnahmen entgegenzuwirken und Zeit zu gewinnen. Dazu verzögerten sie die Umsetzung der Befehle und bemühten sich, diese abzuschwächen, indem sie Rivalitäten verschiedener Besatzungsstellen auszunutzen versuchten. Sie stellten ihre Arbeitskräfte als möglichst unentbehrlich für die Deutschen dar, um ihre Versorgungslage zu verbessern und die Deutschen zur Rücknahme einiger Kollektivstrafen zu bewegen.
Dies gelang jedoch nur sehr begrenzt; auch führte die allgemeine aufgezwungene Notlage vielfach zu persönlichen Vorteilsnahmen, Günstlingswirtschaft und Protektionismus der relativ Begüterten. Dies führte in den jüdischen Gemeinden zu heftiger Kritik und teilweise Ablehnung der Judenräte.
Ghetto-Situation
Der Judenrat war verantwortlich für die lokale Verwaltung der Ghettos und stand zwischen der nationalsozialistischen Besatzungsmacht und der einfachen Bevölkerung der Ghettos. Ihm unterstand eine jüdische Ordnungspolizei. Im allgemeinen setzten sich die Judenräte aus den jeweiligen Eliten der jüdischen Gemeinschaft zusammen. Sie wurden gezwungen, Juden als Sklavenarbeiter an die Deutschen zu liefern und diesen bei der Deportation von Juden in die Konzentrationslager zu helfen. Diejenigen, die sich weigerten, den Befehlen Folge zu leisten, wurden selbst erschossen oder in Konzentrationslager deportiert und sofort durch andere Mitgefangene ersetzt.
Literatur
- Dan Diner: Gedächtniszeiten. Über jüdische und andere Geschichten. Beck, München 2003, ISBN 3-406-50560-0.
- Dan Diner: Jenseits des Vorstellbaren – Der „Judenrat“ als Situation. In: Hanno Loewy, Gerhard Schoenberner (Hrsg.): „Unser einziger Weg ist Arbeit.“ Das Ghetto in Łódź 1940–1944. Löcker, Wien 1990, ISBN 3-85409-169-9.
- Marian Fuks: Das Problem der Judenräte und Adam Czerniaks Anständigkeit. In: Stefi Jersch-Wenzel: Deutsche – Polen – Juden. Ihre Beziehungen von den Anfängen bis ins 20. Jahrhundert. Colloquium-Verlag, Berlin 1987, ISBN 3-7678-0694-0, S. 229–239 (Einzelveröffentlichungen der Historischen Kommission zu Berlin 58).
- Doron Rabinovici: Instanzen der Ohnmacht. Wien 1938–1945. Der Weg zum Judenrat. Jüdischer Verlag bei Suhrkamp, Frankfurt am Main 2000, ISBN 3-633-54162-4.
- Isaiah Trunk: Judenrat. The Jewish Councils in Eastern Europe under Nazi Occupation. Stein & Day, New York NY 1977, ISBN 0-8128-2170-X (A Scarborough Book).
- Verena Wahlen: Select Bibliography on Judenraete under Nazi Rule. In: Yad Vashem Studies. 10, 1974, ISSN 0084-3296, S. 277–294.
- Aharon Weiss: Jewish Leadersdhip in Occupied Poland. Postures and Attitudes. In: Yad Vashem Studies. 12, 1977, S. 335–365.
Weblinks
- Wolf Murmelstein: Die Judenrat-Frage: Tragisch überfordert oder ewig schuldig?
- Yad Vashem: Judenrat (PDF-Datei; 95 kB)
- Aharon Weiss: The Relations Between the Judenrat and the Jewish Police (PDF-Datei; 92 kB)
- Die Wiener Judenräte unter der NS-Herrschaft, Doron Rabinovici, Vortrag am 14. Februar 2002 in Ebensee
- Ältestenrat Das Theresienstadt-Lexikon
- Mark Paul (Oktober 2009): Patterns of Cooperation, Collaboration and Betrayal: Jews, Germans and Poles in Occupied Poland during World War II
- Hans-Dieter Arntz: Jupp Weiss aus Flamersheim, der Judenälteste von Bergen-Belsen (shoa.de)
- Hans-Dieter Arntz: Josef Weiss, ein Held in der Zeit des Holocaust
Einzelbelege
- ↑ Shmuel Spector: The Encyclopedia of Jewish life before and during the Holocaust; New York University Press, New York 2001 ISBN 0-8147-9356-8, Band 1, S. 61 (englisch)
- ↑ Dan Michman: Die Historiographie der Shoah aus jüdischer Sicht. Konzeptualisierungen, Terminologie, Anschauungen, Grundfragen; Dölling und Galitz, Hamburg 2002 ISBN 3-935549-08-3, S. 106
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