Kalte Progression

Kalte Progression
Kalte Progression aufgrund der Einkommenssteuer in Deutschland: Änderung des Realeinkommens bei einer angenommenen Preissteigrungsrate von 2% und einer Lohnerhöhung.

Kalte Progression ist die Steuermehrbelastung, die dann eintritt, wenn Lohnsteigerungen lediglich zu einem Inflationsausgleich führen und gleichzeitig die Einkommensteuersätze nicht der Preissteigerungsrate angepasst werden. Durch den progressiven Einkommensteuertarif wird für jeden über dem Grundfreibetrag verdienten Euro ein höherer Einkommenssteuersatz (Grenzsteuersatz) fällig – das Realeinkommen sinkt.[1] Dabei ist jedoch zu beachten, dass die nach einem normierten Warenkorb ermittelte Preissteigerungsrate nicht für alle Einkommensgruppen gleich ist, da niedrige Einkommen Lebenswichtiges und hohe Einkommen vermehrt Luxusgüter konsumieren. Im nebenstehenden Bild ist vereinfachend eine Preissteigerungsrate von 2% für alle angenommen.

Inhaltsverzeichnis

Beseitigungsmöglichkeit

Allgemein

Die versteckte Steuererhöhung durch kalte Progression kann durch regelmäßige Anpassung des Einkommensteuertarifs an die Kaufkraftentwicklung vermieden werden. Um eine ständige Diskussion um eine Anpassung zu vermeiden, schlagen einige Stimmen einen automatischen Anpassungsmechanismus vor. So schlug z. B. das Institut für Angewandte Wirtschaftsforschung eine Kopplung an die Preissteigerung oder die Wachstumsrate des Volkseinkommens vor.[2] Dabei wird vom Bundesfinanzministerium allerdings die Gefahr der Inflationsförderung gesehen.[3]

Historische Entwicklung der effektiven Steuersätze 1990 bis 2010 in Deutschland
Historische Entwicklung der Grenzsteuersätze 1990 bis 2010 in Deutschland
Steuermodelle der Parteien im Bundestagswahlkampf 2009 in Deutschland

Das Problem ließe sich auch durch die Abschaffung der Steuerprogression lösen, beispielsweise durch die Einführung eines Einheitssteuersatzes oder einer Pauschalsteuer, jeweils ohne Grundfreibetrag. Dagegen wird eingewendet, dass eine Besteuerung nach der Leistungsfähigkeit durch die Einheitssteuer nicht ausreichend und durch die Pauschalsteuer überhaupt nicht möglich sei, weswegen sie als sozial ungerecht kritisiert wird.[4] Die Regierung der britischen Premierministerin Margaret Thatcher führte Ende der 80er Jahre in Großbritannien die Kopfsteuer community charge (besser bekannt als poll tax) ein. Jedoch weigerten sich 18 Millionen Briten, die Steuer zu bezahlen, und es kam zu gewalttätigen Protesten. Letztendlich war die community charge ausschlaggebend für die Krise und den Rücktritt der Regierung Thatcher.

Entwicklung in Deutschland

Die Einkünfte in Deutschland hatten sich von 1975 bis 1989 verdoppelt, während der Eckwert von 130.020 DM (66.480 €), bei dem der Spitzensteuersatz von 56 % zu wirken begann, gleich geblieben war. Dies bedeutete, dass immer mehr Steuerpflichtige in einen höheren Steuersatz „hineinwuchsen“. Ab 1990 wurde diese Situation durch Änderung der Tarifverläufe etwas gemildert.

Von 1999 bis 2005 wurden die Einkommensteuersätze unter der Regierung Schröder/Fischer stark gesenkt (siehe nebenstehende Bilder). Unter der Regierung Merkel/Steinmeier wurden diese Steuersätze bis 2008 für zu versteuernde Jahreseinkommen unter 250.000 Euro beibehalten. Für 2009 und 2010 wurde der Tarifverlauf so geändert, dass damit der kalten Progression leicht entgegengewirkt wird. Dies erfolgte durch Senkung des Eingangssteuersatzes auf 14% und eine leichte Erhöhung des Grundfreibetrages auf 8.004 Euro und der oberen Eckwerte auf 52.881 Euro bzw. 250.730 Euro (Tarif 2010). Eine automatische Anpassung an die Inflationsrate gibt es nicht.

In den Koalitionsverhandlungen nach der Bundestagswahl 2009 forderte die FDP die Einführung eines Stufentarifs[5] wie beispielsweise in Österreich. Aber auch der Stufentarif würde das Problem der kalten Progression nur teilweise und nur für bestimmte Einkommensbereiche lösen. So wäre der Anstieg des Steuersatzes im FDP-Modell bei einem zu versteuernden Einkommen zwischen 20.000 € und 25.000 € steiler als in einem vergleichbaren linearen Tarif.

Situation in Österreich

In Österreich gibt es im Einkommensteuerrecht einen Stufentarif (stufig-progressiver Tarif), der jedoch ebenfalls an den Übergangsstellen zwischen den Stufen eine kalte Progression auslösen kann. Das Problem muss hier durch die Verschiebung der Eckwerte der Stufen gelöst werden.

Situation in der Schweiz

Hauptartikel: Einkommensteuer (Schweiz)

In der Schweiz existieren rechtliche Bindungen des Gesetzgebers an einen periodischen Ausgleich der kalten Progression (Art. 128 Abs. 3 BVVorlage:Art./Wartung/ch-Suche, Art. 39 DBGVorlage:Art./Wartung/ch-Suche). Sobald die kumulierte Teuerung 7 Prozent über dem letzten Stand liegt, muss der Steuertarif angepasst sein.[6] Seit 2010 wird die Kalte Progression für die Bundessteuer jährlich ausgeglichen, was einige Kantone schon ehedem für die weitaus höhere Staatssteuer und die daran gekoppelte Gemeindesteuer taten.[7] Ähnliche Regelungen zum Ausgleich der kalten Progression gibt es beispielsweise in Frankreich und in Kanada.[8]

Siehe auch

Nachweise

  1. Definition der Kalten Progression beim Bundesministerium der Finanzen
  2. Peter Gottfried, Daniela Witczak: Gesamtwirtschaftliche Auswirkungen der "heimlichen Steuerprogression" und steuerpolitische Handlungsoptionen zur Entlastung von Bürgern und Wirtschaft; Gutachten im Auftrag des Bundesministeriums für Wirtschaft und Technologie, IAW-Kurzbericht 1/2008, 2008
  3. Definition der Kalten Progression beim Bundesministerium der Finanzen
  4. vgl. beispielsweise Nachdenkseiten.de
  5. vgl. Steuern runter, aber wie? in Die ZEIT vom 19. Oktober 2009
  6. Art. 128 Abs. 3 BundesverfassungVorlage:Art./Wartung/ch-Suche, Art. 39 Bundesgesetz über die direkte BundessteuerVorlage:Art./Wartung/ch-Suche
  7. Beschluss des Nationalrates vom 29. April 2009, nach: Neue Zürcher Zeitung Nr. 99, 30. April 2009, S. 13.
  8. vgl. Wie steigende Steuern Ihre Lohnerhöhung auffressen in Der Spiegel vom 25. April 2008

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