- Kambrische Radiation
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Als Kambrische Explosion oder auch Kambrische Radiation wird die umfassende Umformung der Tierwelt zu Beginn des Kambriums vor etwa 542 Millionen Jahren bezeichnet. In einem geologisch kurzen Zeitraum von bis zu 50 Millionen Jahren entstanden viele neue Arten und es entwickelten sich die grundlegenden Baupläne vieler mehrzelliger Tierstämme, die seitdem die Erde bevölkern. Es finden sich jedoch auch Gruppen, die schnell wieder ausstarben und bis heute nur schwer zuzuordnen sind.
Die mehrzelligen Lebewesen, die vor der Kambrischen Radiation lebten, besaßen kein Skelett und nur wenige Hartteile, so dass die Entwicklung einer tragenden und schützenden Struktur in Form eines Innen- oder Außenskeletts einen entscheidenden Schritt für die Evolution des Lebens zu dieser Zeit darstellt. Neben den neuen Möglichkeiten, welche die Schalen und Skelett-Teile für die Weiterentwicklung einer Vielzahl komplexer Lebensformen boten, hatte die Möglichkeit der längeren Erhaltung und besseren Fossilbildung der Hartteile - im Gegensatz zu den Weichteilen - auch einen plötzlichen Anstieg der bis in unsere Tage erhaltenen Fossilien zur Folge. Manche Forscher interpretieren die Kambrische Explosion deswegen auch nicht als Explosion der Anzahl der Arten, sondern als Explosion des Aufkommens der Fossilien.
Aus den Erdzeitaltern vor dem Kambrium sind daher wesentlich weniger Fossilien bekannt als aus den Zeiten danach, so dass der gesamte Zeitraum von der Entstehung der Erde (vor ca. 4,560 Milliarden Jahren) bis zur Kambrischen Explosion vor 542 Millionen Jahren als Präkambrium bezeichnet wurde. Heute kann man diesen langen Zeitraum auch ohne Zuhilfenahme von Leitfossilien besser aufgliedern (siehe: Geologische Zeitskala).
Die Forscher sind sich weitgehend einig, dass die kambrische Fauna sich aus der präkambrischen Fauna entwickelte, was durch Vorläufer- und Übergangsformen gut belegt ist.
Inhaltsverzeichnis
Präkambrium
Noch im Ediacarium, der jüngsten Formation im Präkambrium, dominierten ausschließlich schalenlose Ein- und Mehrzeller (Ediacara-Fauna). Die auch als Vendobionten bekannten Mehrzeller, deren Einordnung häufig unklar ist, wurden oft auch als eigenes, ausgestorbenes Reich neben Tieren, Pilzen und Pflanzen eingestuft. Obwohl von diesen schalen- und skelettlosen Lebewesen jeweils nur mehr oder weniger undeutliche und häufig schwer interpretierbare Abdrücke existieren, wurden viele Fossilien bei ihrer Entdeckung als urtümliche Quallen oder Verwandte der Seefedern klassifiziert (da die Nesseltiere als primitivste heute lebende Gewebetiere gelten). Am weitesten entwickelt und im Zusammenhang mit der Kambrischen Explosion am interessantesten unter den ediacarischen Fossilien ist die berühmte Kimberella, bei der es sich mit einiger Sicherheit um einen sehr urtümlichen Mollusken, also eine „Urschnecke“ handelt. Ein weiteres Fossil, das als Vorläufer der kambrischen Fauna gelten kann, ist Spriggina, ein segmentiertes Fossil, das wahrscheinlich einen anneliden Wurm darstellt, oder womöglich sogar einen Übergang zwischen den Anneliden und den aus diesen (im Sinne des Articulata-Konzepts) abzuleitenden Arthropoden.
Relativierung
Im Lichte dieser Funde relativiert sich die so genannte Kambrische Explosion. Ein der Evolutionstheorie widersprechendes rätselhaftes plötzliches Auftreten von Bauplänen aus dem Nichts ist nur scheinbar. Deshalb wird die Kambrische Explosion heute meist auch Kambrische Radiation genannt. Die äußerst mangelhafte Überlieferung von Tieren ohne Skelett (oder nur mit einem Hydroskelett) macht das Auftauchen von hartteiltragenden Tieren umso auffälliger, weil diese sich im Gegensatz zu ihren Vorläufern wesentlich besser erhalten haben.
Gerade über diesen letzten Punkt, der den Kern des Problems der Kambrischen Explosion zu bilden scheint, ist viel diskutiert worden. Vielleicht bewirkte eine langsame Änderung der Chemie des Meerwassers, dass ab einem bestimmten Punkt genügend Kalziumkarbonat zum Aufbau von Schalen verfügbar war. Die erste Ausbildung von Hartteilen muss tief greifende Änderungen in der Nahrungskette ausgelöst haben, denn nun waren alle Tiere gezwungen, Zähne, Schalen oder Außenskelette zu bilden, wenn sie gegen die im Folgenden immer besser gepanzerte Konkurrenz bestehen wollten. Die Herausbildung von Hartteilen bot im selben Augenblick die Chance, neue oder stark abgewandelte Baupläne zu erproben, die nunmehr einer Stütze nicht mehr zu entbehren brauchten. Interessant ist, dass geologisch gesehen gleichzeitig mit kalkigen Außenskeletten auch phosphatische Schalen entstanden.
Stacheln, Borsten und Fortsätze, die vielen Lebewesen des Kambriums ein bizarres Aussehen gaben, dürften ebenfalls der Abwehr von Feinden gedient haben. Gleichzeitig bildeten sich auch verschiedene Fortbewegungssysteme heraus. Aktive Bewegung im Wasser ermöglichte die Besiedlung weiterer Lebensräume, schnelle Flucht oder raschen Angriff.
Eine Rolle in der Diskussion um die Kambrische Explosion spielt auch die von manchen für global gehaltene Eiszeit im oberen Präkambrium, mit deren Ende sich am Beginn des Kambriums eine Unzahl neuer Lebensräume aufgetan haben muss. Die Besetzung dieser freien ökologischen Nischen könnte eine relativ rasche Diversifikation zur Folge gehabt haben. Auch eine innere Differenzierung vieler neuartiger Organe aus mesodermalem Gewebe dürfte einen Beitrag zur Anpassung an neue Lebensräume und zum Formenwandel geleistet haben. Viele Formen verschwanden jedoch bis zum Ende des Kambriums wieder.
Entwicklung
In der dem Ediacarium folgenden untersten Stufe des Kambriums, im Tommotium, erscheinen erstmals Tiere mit Schalen, vor allem frühe Mollusken. Die Tommotium-Fauna wird auch „small shelly fauna“ genannt, denn es sind vorwiegend kleine, nur millimetergroße Fossilien überliefert. Ein Vertreter ist die in Geschieben (Glaukonitsandstein) vorkommende Gattung Mobergella, die man in Norddeutschland finden kann. Mobergella ist zudem eines der ältesten Körperfossilien Skandinaviens.
Darauf wiederum folgt die Kambrische Explosion im engeren Sinne. Innerhalb von 20 Millionen Jahren breiten sich die Gliederfüßer massiv aus und werden zur vorherrschenden Gruppe in der damaligen Fauna. Vor allem zu nennen sind die Trilobiten, aber auch seltsam anmutende Formen wie Wiwaxia (wahrscheinlich ein bizarrer Annelide), Xenusion und Hallucigenia (vermutlich beides Vertreter der Onychophora) oder der räuberische Anomalocaris (wahrscheinlich zu den Arthropoden zu zählen), sowie erste Vorläufer der Wirbeltiere.
Popularisierung
Die Kambrische Explosion wurde unter anderen durch Stephen Jay Goulds Buch Zufall Mensch. Das Wunder des Lebens als Spiel der Natur (1989) popularisiert und dramatisiert. Er bezeichnet die oben erwähnten, nur im Kambrium nachgewiesenen Tierfamilien dort als „einmalig“, „rätselhaft“ oder „erstaunlich“ und hat sich damit zwar darum verdient gemacht, das Thema einer breiten Öffentlichkeit nahe gebracht zu haben, aber auch für bedeutende Verwirrung gesorgt. Er wurde häufig vom sensationshungrigen Laienpublikum so verstanden, dass hier eine Art von „Aliens“ das Kambrium bevölkert hätte, die mit der heutigen Biologie nichts zu tun gehabt hätten; unvermittelt eingesetzt und rätselhaft wieder verschwunden wie ein Spuk. Ein Bild, das sich heute wesentlich differenzierter darstellt.
Journalisten popularisierten die Kambrische Radiation, deren wichtigste fossilen Belege aus dem Burgess-Schiefer in Nordamerika stammen, in den USA weiter in Richtung Einmaligkeit. Das TIME-Magazin widmete dem Kambrium eine Cover-Story mit dem Titel Evolution's Big Bang (Ausgabe vom 4. Dezember 1996) und verglich dabei das Auftreten vieler neuer Tierarten und Stämme im Kambrium mit dem Urknall des Universums. Obwohl inzwischen immer mehr Vorläufer dieser Arten aus wesentlich älteren Formationen entdeckt wurden und dadurch die Einteilung der geologischen Zeitskala auch für das Präkambrium von Geologen verfeinert werden konnte, ging die Interpretation dieser journalistischen Artikel eher in Richtung eines einmaligen Ereignisses, bei dem viele Tierstämme in relativ kurzer Zeit entstanden sein sollen.
Literatur
- Andrew H. Knoll, Life on a Young Planet, The First Three Billion Years of Evolution on Earth, Princeton University Press, 2005, ISBN 0691120293
- Keith B. Miller, The Precambrian to Cambrain fossil record and transitional Forms
Weblinks
- Das Vorspiel der tierischen Evolution Gab es im Kambrium tatsächlich einen "Urknall des Lebens"? - Untersuchungsmethoden müssen überdacht werden. Von Matthias Glaubrecht in: Die Welt vom 4. Januar 1999
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