- Konstruktivismus (Internationale Beziehungen)
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Der Konstruktivismus ist eine Metatheorie der Internationalen Beziehungen, die auf denselben Grundannahmen wie das Konzept des philosophischen Konstruktivismus beruht. Er bezweifelt die Kausalität des internationalen Staatensystems und betont demgegenüber subjektive Prioritäten, also die soziale Konstruktion der internationalen Politik. Emanuel Adler definierte den Konstruktivismus als „Annahme, dass die Art, in der die materielle Welt menschliches und zwischenmenschliches Handeln prägt und von ihnen geprägt wird, von dynamischen normativen und epistemologischen Interpretationen dieser materiellen Welt abhängt“.[1]
Obwohl gegen Ende des Kalten Krieges vielfältige Zweifel am damaligen Forschungsstand der vom Realismus und Institutionalismus dominierten Internationalen Beziehungen aufkamen, gilt Alexander Wendts Aufsatz Anarchy Is What States Make of It (deutsch: „Anarchie ist, was Staaten aus ihr machen“) als Grundlage eines systematischen konstruktivistischen Ansatzes in den Internationalen Beziehungen. Bereits zuvor hatte Nicholas G. Onuf die Begrifflichkeit des Konstruktivismus innerhalb der Disziplin geprägt.
Inhaltsverzeichnis
Ansatz
Trotz der Uneinheitlichkeit konstruktivistischer Ansätze ist es möglich, von einem ontologischen Minimalkonsens zu sprechen: Es wird untersucht, wie Strukturen und Akteure der Internationalen Beziehungen sozial konstruiert sind. Eine zentrale Kernannahme konstruktivistischer Ansätze lautet: Soziale Strukturen und Akteure konstituieren sich gegenseitig, indem sie soziale Identität vermitteln und/oder Handlungschancen eröffnen bzw. einschränken. Dabei wird die materielle Welt nicht völlig negiert, sie kann jedoch nur durch soziale Konstruktion vermittelt wahrgenommen werden. Soziale Identitäten sowie nachgeordnete Interessen müssen aus dieser Perspektive zwingend in jede politikwissenschaftliche Analyse miteinbezogen werden.
Der spezifisch politikwissenschaftliche Konstruktivismus zielt auf die Erklärung von politischen Handlungsmustern. Das Besondere an diesem Erklärungsansatz ist, dass er Handlung immer als Ergebnis einer sozialen Situation bzw. von vorherrschenden sozialen Strukturen versteht. Damit unterscheidet er sich stark von rationalen Erklärungsansätzen wie dem Realismus (siehe Realismus bzw. Neorealismus), der davon ausgeht, dass Handlungen objektiv rationalen Mustern und damit Sachzwängen folgen.
Eine eher handlungstheoretisch orientierte Strömung des Konstruktivismus geht davon aus, dass soziale Handlungen auch soziale Strukturen entstehen lassen, reproduzieren oder verändern können. Diese Handlungen sind durch bestimmte Normen und Werte motiviert, die es zu destillieren gilt. Ein Beispiel sind Menschenrechtsorganisationen, die durch ihre Aktivitäten und Kampagnen andere Akteure der internationalen Politik, bspw. Staaten, beeinflussen. Aus diesem Grund spielte der Konstruktivismus nach dem Ende des Ost-West-Konflikt eine zunehmend wichtigere Rolle in den Internationalen Beziehungen. Er postulierte, im Gegensatz zum Realismus, Veränderungen erklären zu können. Zu den Vertretern dieses Ansatzes zählen in der deutschen Debatte vor allem Thomas Risse und Anja Jetschke.
Ebenfalls handlungstheoretisch orientiert ist ein auf die pragmatischen Philosophie (Wittgenstein, Austin und Searle) beruhender Konstruktivismus, so wie er beispielsweise von Nicholas Onuf (1989) skizziert wurde. Dabei wird Sprache als eine Form sozialer Handlungen konzipiert, mittels derer soziale Strukturen (soziale Regeln, Herrschaft) (re-) produziert werden. Ziel dieser Untersuchungen ist es jedoch nicht, die Entstehung solcher Strukturen zu erklären, sondern jene Prozesse zu beobachten und der Frage nachzugehen, wie mittels Sprache und anderer Kommunikationswege Vorteile und Handlungsmöglichkeiten verteilt werden.
Rezeption
Dem Konstruktivismus wird vorgeworfen, er biete ausschließlich ex-post-Erklärungen an, ohne dass es ihm möglich sei, Prognosen oder Erklärungen aktueller Ereignisse zu liefern. Diese Kritik trifft den Konstruktivismus nicht direkt, da er infolge seiner Grundannahmen keine Fähigkeit zu Prognosen für sich beansprucht. Allerdings gilt die Prognosefähigkeit als wichtiges Merkmal fast aller herkömmlichen Paradigmen, sodass der Erkenntniszuwachs durch konstruktivistische Ansätze somit kritisch gesehen wird.
Bekannteste Vertreter
- Alexander Wendt
- Ted Hopf
- Colin Kahl
- Friedrich Kratochwil
- Nicholas Onuf
- Thomas Risse
Literatur
- Wendt, Alexander: Social Theory of International Relations, Cambridge 1999, ISBN 0-521-46960-0
- Wendt, Alexander: Anarchy Is What States Make of It: The Social Construction of Power Politics, in: International Organization, 46 (1992), S. 391-425
- Ulbert, Cornelia: Sozialkonstruktivismus, in: Schieder, Manuela / Spindler, Siegfried (Hrsg.): Theorien der Internationalen Beziehungen, 2. A., Stuttgart 2006, S. 409 - 440, ISBN 3-8252-2315-9
- Onuf, Nicholas G.: World of Our Making: Rules and Rule in Social Theory and International Relations, University of South Carolina P., 1989
- Adler, Emanuel: Seizing the Middle Ground: Contructivism in World Politics, in: European Journal of International Relations, 3 (1997), S. 319 - 363
Weblinks
- Behravesh, Maysam: Constructivism: An Introduction, in: e-IR, 3. Februar 2011 (englisch
Einzelnachweise
- ↑ Adler, Emanuel: Seizing the Middle Ground: Contructivism in World Politics, in: European Journal of International Relations, 3 (1997), S. 322.
Kategorien:- Theorie der Internationalen Beziehungen
- Konstruktivismus (Geistes- und Sozialwissenschaft)
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