- Lawrence Kohlberg
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Lawrence Kohlberg (* 25. Oktober 1927 in Bronxville, New York; † 19. Januar 1987[1]) war ein US-amerikanischer Psychologe und Professor für Erziehungswissenschaft an der Harvard University School of Education. Kohlberg begründete eine Theorie, die die moralische Entwicklung von Menschen in Stufen einteilt.
Inhaltsverzeichnis
Leben
1927 wurde Lawrence Kohlberg als viertes Kind einer jüdischen Familie in einem Vorort von New York geboren. Er verbrachte seine High-School-Zeit in einem Internat, in dem er nahezu die gesamte Zeit wegen unterschiedlicher Vergehen gegen die Schulordnung unter Bewährung stand. Nach seinem High-School-Abschluss 1945 musste er als Wehrdienstleistender ins vom Krieg gezeichnete Europa. Er kam zur amerikanischen Handelsmarine nach Europa, verließ sie bald wieder und heuerte als Maschinist auf einem Schiff an, das jüdische Flüchtlinge durch die britische Blockade nach Palästina brachte. Das Schiff wurde schließlich mit massivem Waffeneinsatz eingenommen und Kohlberg in einem Gefängnis auf Zypern interniert.
Nach seiner Befreiung durch die Hagana lebte er eine Zeit lang in einem Kibbuz in Palästina, kehrte dann in die Vereinigten Staaten zurück und begann Psychologie zu studieren. Während eines Praktikums in einer Psychiatrie erlebte Kohlberg, wie ein Chefarzt eine aufsässige Patientin mit Elektroschocks bestrafte. Für Kohlberg selbst war es immer wichtig, seine eigene Lebensgeschichte detailliert zu beschreiben. Er meinte, dass es dann „vermutlich leichter ist, das theoretische Interesse eines Forschers einzuordnen.“
1958 verfasste Kohlberg seine Dissertation über „Die moralische Entwicklung des Menschen“ und erweiterte damit die Theorie der kognitiven Entwicklung von Jean Piaget. Dieser war davon ausgegangen, dass die kognitive Entwicklung des Menschen bereits im Alter von zwölf Jahren im Wesentlichen abgeschlossen sei. Bei Kohlberg ist der Prozess der Moralentwicklung nicht zu einem bestimmten Lebensalter abgeschlossen, sondern kann sich ein Leben lang hinziehen – die sechste Stufe ist dabei als hypothetisches Ziel zu sehen, das nur von wenigen Menschen erreicht werden kann, dessen Erreichung man aber als Ziel durchaus anstreben kann.
Von 1968 bis 1987 war Kohlberg Professor für Erziehungswissenschaften an der Harvard University in Cambridge, Massachusetts und leitete das von ihm gegründete Zentrum für moralische Entwicklung und Erziehung (siehe auch Entwicklungspsychologie).
Während eines Aufenthaltes in Belize 1971 infizierte er sich mit Lamblien und litt seitdem an den Folgen des Parasitenbefalls.[1]
Am 19. Januar 1987 verließ Lawrence Kohlberg das Krankenhaus, in dem er zu dieser Zeit behandelt wurde, und fuhr mit seinem Auto nach Winthrop in der Nähe von Boston. Am Strand des Ortes beging er Suizid, indem er sich in den Atlantischen Ozean stürzte.[1]
Verhältnisbestimmung zwischen Politik und Moral
Moralentwicklung und politische Mündigkeit stehen in einem Verhältnis zueinander. Während Kinder, Jugendliche und Erwachsene auf den ersten drei Stufen kein Verständnis von Politik entwickeln können, weil ihnen der Blick für die Interessen der gesamten Gesellschaft fehlt, können Erwachsene ab der vierten Stufe moralische Urteile auf der Grundlage einer kritischen Prüfung treffen. Ab der fünften Ebene gründen sich politische Urteile auf höhere Prinzipien.
Politisches Verständnis setzt – wie bereits angedeutet – das Verständnis von Gesellschaft voraus. Im folgenden Stufenmodell der Moral wird auf allen Stufen zwischen der personalen und der interpersonalen Ebene unterschieden. Erst muss ein Gesellschaftsmitglied seine Interessen verstehen, bestimmen und durchsetzen wollen, bevor es in die Lage versetzt wird, die Interessen anderer einzubeziehen.
Menschen, die in einer Gemeinschaft zusammenleben, müssen immer wieder zwischen den eigenen Interessen und den Interessen anderer abwägen. Wenn Menschen zu der Einsicht gelangen, dass sie einerseits den eigenen Interessen dienen, indem sie andererseits den Interessen der Anderen dienen, dann kann sich die volle Leistungsfähigkeit einer Gesellschaft und Gerechtigkeit im gleichen Zusammenhang entfalten.
Die Stufen der Moralentwicklung
Laut dem amerikanischen Psychologen L. Kohlberg durchläuft der Mensch in seiner Moralentwicklung verschiedene charakteristische Stadien. Grundsätzlich lässt sich ein Zusammenhang zwischen Lebensalter und Grad der Moralentwicklung beobachten, auch zwischen Menschen ähnlichen Alters können jedoch bisweilen gravierende Reifeunterschiede bestehen. Die Stadien lassen sich nur in der im Folgenden geschilderten Reihenfolge durchlaufen, der "Rückfall" in eine vorherige Stufe kommt normalerweise nicht vor.
Präkonventionelle Ebene
Wenn Menschen geboren werden, dann kennen sie die Regeln dieser Welt noch nicht. Sie lernen erst mit der Zeit, welche Gesetze und welche Gesetzmäßigkeiten bzw. gesellschaftlichen Regeln in der Gesellschaft vorhanden sind. Wenn Kinder geboren werden, gilt die Mutter als hauptsächliche Bezugsperson, die das Kind durch Belohnen und Bestrafen darauf hinweist, welches Verhalten gut und schlecht ist. Auf dieser Ebene erfahren die Kinder über Belohnen und Bestrafen, was gut und schlecht ist.
„Stufe I: Die Orientierung an Bestrafung und Gehorsam. Ob eine Handlung gut oder böse ist, hängt ab von ihren physischen Konsequenzen und nicht von der sozialen Bedeutung bzw. Bewertung dieser Konsequenzen. Vermeidung von Strafe und nicht hinterfragte Unterordnung unter Macht gelten als Werte an sich, nicht vermittelt durch eine tiefer liegende, durch Strafe und Autorität gestützte Moralordnung.“
Kinder entwickeln zwar auf der zweiten Stufe Grundzüge von Fairness, Sinn für gerechte Verteilung, aber sie sehen dabei immer ihren eigenen Vorteil als wesentlich an. Im Unterschied zu der ersten Stufe treten Kinder mit ihrer Umwelt viel stärker in Beziehung.
Stufe II: Die instrumentell-relativistische Orientierung. Eine richtige Handlung zeichnet sich dadurch aus, dass sie die eigenen Bedürfnisse – bisweilen auch die Bedürfnisse anderer – instrumentell befriedigt. Zwischenmenschliche Beziehungen erscheinen als Markt-Beziehungen. Grundzüge von Fairness, Gegenseitigkeit, Sinn für gerechte Verteilung sind zwar vorhanden, (sie) werden aber stets physisch oder pragmatisch interpretiert. Gegenseitigkeit ist eine Frage von „eine Hand wäscht die andere“, nicht von Loyalität oder Gerechtigkeit.
Konventionelle Ebene
Auf dieser Ebene befinden sich die meisten Jugendlichen und Erwachsenen. Menschen auf dieser Ebene richten ihr Verhalten ausschließlich nach den Regeln ihrer Umwelt. Anerkennung erfahren diese Gesellschaftsmitglieder, wenn sie „nett“ sind, weil sie die Verhaltensregeln einhalten. Während der Bezugsrahmen auf den ersten beiden Stufen das unmittelbare Umfeld in unterschiedlicher Ausprägung ist, welches den Rahmen für Verhaltensweisen auf der körperlichen Ebene vorgibt, werden auf dieser Ebene die gesellschaftlichen Regeln verinnerlicht und gelebt.
Viele Jugendliche und Erwachsene, die sich überwiegend auf der 3. Ebene befinden, nehmen häufig bewusst gar nicht wahr, dass sie die Regeln der Gesellschaft leben, ohne sich jemals ein eigenes Urteil gebildet zu haben. Die Zustimmung der Umwelt stellt Dreh- und Angelpunkt der persönlichen Verhaltensweisen dar. Ein bewusstes Hinterfragen von Sinn und Zweck wird nicht angestrebt.
„Stufe III: Orientierung an personengebundener Zustimmung oder „guter Junge/ nettes Mädchen“-Modell. Richtiges Verhalten ist, was anderen gefällt oder hilft und ihre Zustimmung findet. Diese Stufe ist gekennzeichnet durch ein hohes Maß an Konformität gegenüber stereotypen Vorstellungen von mehrheitlich für richtig befundenem oder „natürlichem“ Verhalten. Häufig wird Verhalten nach der Absicht beurteilt: „Er meint es gut“ wird zum ersten Mal wichtig. Man findet Zustimmung, wenn man „nett“ ist.“
Der Orientierungsrahmen wird schrittweise erweitert, so dass nicht mehr das persönliche Umfeld als Gradmesser des Verhaltens gilt, sondern die gesellschaftliche Ordnung. Demzufolge bedeutet richtiges Verhalten, seine Pflicht in diesem Rahmen zu tun. Es gilt die Denkmuster insofern zu fördern, als Fragestellungen als Untersuchungsgegenstand gelten, welche ein vernetztes Denken zwangsläufig voraussetzen. Sobald der Übergang von der dritten zur vierten Stufe geschafft wird, kann politisches Denken nachhaltig entwickelt werden. Erst ab der vierten Stufe sind Menschen in der Lage, andere Interessen und Lebenswelten zu erkennen und sie gedanklich im Sinne eines Interessenausgleichs zu bearbeiten.
Stufe IV: Orientierung an Recht und Ordnung. Autorität, festgelegte Regeln und die Aufrechterhaltung der sozialen Ordnung bilden den Orientierungsrahmen. Richtiges Verhalten heißt, seine Pflicht (zu) tun, Autorität (zu) respektieren und für die gegebene Ordnung um ihrer selbst willen ein(zu)treten.“ (ebenda)
Postkonventionelle Ebene
Auf dieser Ebene werden erstmals gesellschaftliche Regeln infrage gestellt, das heißt, dass Regeln erst nach einer kritischen Prüfung teilweise und ganz akzeptiert werden. Die Umsetzung des Beutelsbacher Konsens, nach dem Schüler an der Entwicklung von Urteilsfähigkeit keineswegs gehindert werden dürfen, sondern ebendiese entwickeln müssen, um die vorhandenen Kontroversitäten in Wissenschaft und Gesellschaft entsprechend einordnen zu können, ist wesentlich.
Stufe V: Die legalistische oder Sozialvertragsorientierung. Im Allgemeinen mit utilitaristischen Zügen verbunden. Die Richtigkeit einer Handlung bemisst sich tendenziell nach allgemeinen individuellen Rechten und Standards, die nach kritischer Prüfung von der gesamten Gesellschaft getragen werden.
Menschen erkennen, dass ihre persönliche Sichtweise von anderen Sichtweisen abweicht. Gleichzeitig gelangen sie zu dem Urteil, dass andere Sichtweisen auch richtig sein können. Der Standpunkt ist für die Einschätzung eines Sachverhaltes wichtig. Auf dieser Grundlage werden auf diese Weise die eigene Einstellung verändert und die eigenen Wissensbestände nachhaltig erweitert. Menschen auf dieser Ebene verfügen notwendigerweise über ein umfangreiches Maß an Bildung, welches sich sowohl auf Unterrichtsinhalte der Schule als auch auf allgemeine Grundsätze des Lebens beziehen. Solche Menschen sind am ehesten in der Lage, sich politisch für das Allgemeinwohl einzusetzen, da sie verschiedene moralische Prinzipien abzuwägen wissen. Sie können auf dieser Grundlage einen guten gesamtgesellschaftlichen Austausch erreichen.
Man ist sich der Relativität persönlicher Werthaltungen und Meinungen deutlich bewusst und legt dementsprechend Wert auf Verfahrensregeln zur Konsensfindung. Abgesehen von konstitutionellen und demokratischen Übereinkünften ist Recht eine Frage persönlicher Wertsetzungen und Meinungen. Das Ergebnis ist eine Betonung des legalistischen Standpunktes, wobei jedoch die Möglichkeit von Gesetzesänderung aufgrund rationaler Reflexion sozialen Nutzens nicht ausgeschlossen ist. Außerhalb des gesetzlich festgelegten Bereichs basieren Verpflichtungen auf freier Übereinkunft und Verträgen.
Gesellschaftsmitglieder, die diese Moralhaltung umsetzen wollen, vertreten unter Umständen in manchen gesellschaftlichen Zusammenhängen als einzige diese moralische Haltung des Abwägens und des kritischen Prüfens. Auf dieser höchsten Ebene wird das eigene Verhalten an allgemeingültigen ethischen Prinzipien gemessen.
Stufe VI: Orientierung an allgemeingültigen ethischen Prinzipien. Das Recht wird definiert durch eine bewusste Entscheidung in Übereinstimmung mit selbstgewählten ethischen Prinzipien unter Berufung auf umfassende logische Extension, Universalität und Konsistenz. Diese Prinzipien sind abstrakt und ethischer Natur (die Goldene Regel, der Kategorische Imperativ), nicht konkrete Moralregeln wie etwa die Zehn Gebote. Im Kern handelt es sich um universelle Prinzipien der Gerechtigkeit, der Gegenseitigkeit und Gleichheit der Menschenrechte und des Respekts vor der Würde des Menschen als individuelle Person.
Die Entwicklung dieser letzten Stufe setzt die Fähigkeit zur Selbstdistanzierung und zur Urteilsfähigkeit voraus, wobei anzumerken ist, dass sich die beiden erwähnten Fähigkeiten entwickeln, wenn Menschen sich mit schwierigen moralischen Fragen auseinandersetzen.
Emotionale und kognitive Entwicklung
Dieses Stufenmodell beschreibt die kognitive Entwicklung, nicht jedoch zwangsläufig die emotionale oder die Entwicklung des Handelns. Wissen wird nicht unbedingt in Handeln umgesetzt. Nach Kohlberg ist es nicht möglich, Stufen zu überspringen oder auszulassen. Denken auf einer höheren Stufe schließt Denken auf der darunterliegenden jedoch nicht aus (hierarchische Integration). Niemand kann eine moralische Stufe überhaupt nur als sinnvoll erfassen, die um mehr als eine Stufe höher liegt als die, die man gerade erreicht hat. Mit 16 Jahren sind die meisten Menschen heute auf Stufe 4 angelangt, etwa 25 Prozent erreichen im Laufe ihres Lebens die Stufe 5. Was höhere Stufen laut Kohlberg attraktiv macht, ist, dass sie es ermöglichen, verzwickte ethische Probleme erfolgreicher zu lösen. Aufgaben, in denen Problemsituationen besprochen werden, haben sich darum als sehr erfolgreich für die Schulung erwiesen. In weiteren Forschungen wurde die universelle Gültigkeit dieser Abläufe bei allen Völkern und zu allen Zeiten nachgewiesen. Zur Entwicklung sind Dilemmata nötig. Das höchste Ziel der Entwicklung ist die universale Gerechtigkeit und eine majorisierende Äquilibration.
Moralisches Urteilen vs. moralisches Handeln
Wer moralisch urteilt, handelt nicht automatisch moralisch. Moralisches Urteilen ist jedoch eine Grundvoraussetzung für moralisches Handeln. Krebs und Kohlberg (1987) zeigten in einer Studie, dass moralisches Handeln maßgeblich von moralischer Urteilsbildung abhängt. Probanden, die sich auf einer höheren Stufe des kohlbergschen Stufenmodells befanden, handelten überproportional häufiger „moralisch“, als Probanden, die sich auf einer niedrigeren Stufe befanden.
Siehe auch
Werke
- Zur kognitiven Entwicklung des Kindes. Drei Aufsätze., 470 Seiten, Frankfurt am Main 1982, ISBN 3-518-06388-X
- Die Psychologie der Moralentwicklung, 564 Seiten, Frankfurt am Main 1996, ISBN 3-518-28832-6
- Die Psychologie der Lebensspanne, 345 Seiten, Frankfurt am Main 2000, ISBN 3-518-58286-0
- Das moralische Urteil: Der kognitionszentrierte entwicklungspsychologische Ansatz, mit Ann Colby in H. Bertram (Hg.), Gesellschaftlicher Zwang und moralische Autonomie (S. 130-162). Frankfurt/M.: Suhrkamp 1986.
Literatur
- Detlef Garz: Lawrence Kohlberg zur Einführung, Hamburg: Junius, 1996, ISBN 3-88506-935-0
- Lisa Kuhmerker, Uwe Gielen, Richard L. Hayes: Lawrence Kohlberg, 296 Seiten, München 2001, ISBN 3-925412-20-4
- Ulf Peltzer: Lawrence Kohlbergs Theorie des moralischen Urteilens, 173 Seiten, VS Verlag für Sozialwissenschaften, ISBN 3-531-11834-X
- Helga Scheibenpflug: Die höchste Stufe der Moral, 342 Seiten, Verlag Dr. Kovac, Hamburg 2007, ISBN 978-3-8300-2973-1, Inhalt.
Weblinks
- Literatur von und über Lawrence Kohlberg im Katalog der Deutschen Nationalbibliothek
- Tabellarische Übersicht zu Kohlbergs Theorie der Moralentwicklung
Einzelnachweise
Kategorien:- Person (Hagana)
- Erziehungswissenschaftler
- Pädagoge (20. Jahrhundert)
- Entwicklungspsychologe
- Moralphilosoph
- US-Amerikaner
- Geboren 1927
- Gestorben 1987
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