Antipädagogik

Antipädagogik

Die Antipädagogik (im Jahre 1975 von Ekkehard von Braunmühl formuliert), versteht sich zum einen als theoretischer Gegensatz, zum anderen als Gegenbewegung zu Pädagogik und Erziehung.

Inhaltsverzeichnis

Definitionen und Grundsätze

Erziehung und Pädagogik sind aus Sicht der Antipädagogen zum einen nicht mit der Menschenwürde vereinbar und zum anderen nach ihrer Erfahrung auch unnötig. Dieser Perspektive liegt eine spezielle Definition von Erziehung/Pädagogik zugrunde:

Erziehung

Aus antipädagogischer Sicht bedeutet Erziehung eine geplante und gezielte Tätigkeit eines Menschen, mit denen er meist das Denken, zumindest aber das Verhalten eines anderen Menschen verändern will.

Erziehung sei also abzugrenzen von Begleitung oder Beeinflussung durch andere Menschen, da diese nicht geplant und nicht zielgerichtet sei. Bei Beeinflussung (in der Familie, viel öfter aber durch Freunde, Gleichaltrige) gehe es stattdessen z.B. darum, gemeinsam zu arbeiten oder seine Freizeit auszuleben und Spaß zu haben. Weiterhin ziele Erziehung nicht auf den Verstand des Zöglings ab, sondern auf seine Seele, da es dem Erzieher nicht darum gehe, den Zögling zu überzeugen, sondern, ihn emotional zu bekehren, insofern sei eine Erziehungssituation ebenso abzugrenzen von einer Diskussionssituation, wo die Argumente aller Beteiligten gleichberechtigt zählen würden.

Alternativ schlägt die Antipädagogik eine gleichberechtigte Lebensweise zwischen Menschen, vor allem zwischen jungen und älteren Menschen (Erwachsenen und Kindern) vor. Verschiedene Autoren (siehe Literatur) liefern in ihren Büchern praktische Erfahrungsberichte derartigen Zusammenlebens.

Grenzen und Verbote

Antipädagogik fordert nicht die Aufhebung aller Grenzen für Kinder. Vielmehr unterscheidet sie zwischen defensiven und aggressiven Grenzen.

Defensive Grenzen werden zur eigenen Verteidigung gesetzt, um sich vor fremden Übergriffen zu schützen (z. B.: „Es stört mich, wenn du nachts um drei laut Musik hörst, weil ich dann nicht schlafen kann.“ oder: „Ich will nicht, dass du mit Brei herumwirfst, weil ich keine Lust habe, alles wegzuputzen; was meine Freiheit einschränkt.“). Defensive Grenzen entsprechen dem Grundsatz „Freiheit, solange die Freiheit des anderen nicht eingeschränkt wird“. Diese Notwehrgrenzen sind für ein friedliches Zusammenleben sinnvoll. Und sie widersprechen auch der Gleichberechtigung von Eltern und Kindern nicht, genauso wenig wie ähnliche Grenzen der Gleichberechtigung zwischen zwei Nachbarn widersprechen. Darum sei es sehr wichtig, dass Eltern in sich hineinhorchen, um herauszufinden, wo wirklich ihre persönlichen Grenzen sind (die abhängig von Situation, Stimmungslage, Aufenthaltsort usw. variieren können), um dann die geeignete Botschaft übermitteln zu können.

Aggressive Grenzen hingegen werden anderen Menschen gesetzt, um sie zum Beispiel vor sich selber zu schützen und sie zu ihrem (angeblichen) Glück zu zwingen (z. B.: „Du darfst keine laute Musik hören, weil es nicht gut für dich ist.“) oder den Erwartungen anderer zu genügen („Wirf nicht mit dem Brei herum, das gehört sich nicht!“). Diese erzieherischen Grenzen werden von der Antipädagogik abgelehnt.

Schutz vor sich selbst

Auch Grenzen, um Kinder (vorgeblich oder tatsächlich) zu schützen, werden abgelehnt, da Kinder sie jederzeit umgehen können, wenn sie alleine sind. Die Antipädagogik behauptet, dass Verbote Gegenreaktionen hervorrufen, bei denen die Kinder die Sicherheit ihrer eigenen Person übersehen und so erst dadurch in wirkliche Gefahr geraten. Außerdem trügen Verbote nicht zum Verständnis von Gefahrensituationen bei.

Werteerziehung

Als besonderes Problem wird von den Antipädagogen Erziehung zu Werten wie Demokratie, Toleranz und Eigenverantwortung angesehen, da Erziehung als solche diese Werte konterkariere. Wenn man etwa versuche, mit undemokratischen Mitteln (also durch Erziehung) einen Menschen zu einer demokratischen Haltung zu bewegen, so sei das Ergebnis das Gegenteil, nämlich Verwirrung und fehlendes Vertrauen in Demokratie – siehe hierzu auch den Heimlichen Lehrplan. Stattdessen solle man mit Kindern Demokratie leben, anstatt sie zu predigen.

Antipädagogik heute

Als eine der ganz wenigen Einrichtungen in Deutschland hat der 1. Antipädagogische Club Kinderhaus e. V. (1. APC) in Wiesbaden seit seiner Gründung durch Ekkehard von Braunmühl und andere 1970 die Tradition des antipädagogischen Konzeptes bewahrt.

Unterstützung erhalten antipädagogische Ideen durch den KinderInformationsDienst (Kid) – heute Bestandteil von Kidweb.de – und von dem Berliner Kinderrechtsprojekt Krätzä.

Wolfgang Hinte hat in seinem Buch Non-Direktive Pädagogik versucht, die Grundgedanken der Antipädagogik aufzunehmen und dazu Handlungsmöglichkeiten auch für jene aufzuzeigen, die in den real vorgefundenen Strukturen des bestehenden Erziehungswesens beschäftigt sind. Umgekehrt bezieht sich Ekkehard von Braunmühl positiv auf nichtdirektive Ansätze im allgemeinen und Wolfgang Hinte im besonderen.

Kritik

Obwohl die Begriffe Erziehung und Pädagogik vor allem in der Wissenschaft, aber mittlerweile auch in der Alltagssprache sehr vielfältig gebraucht werden, reduzieren die Antipädagogen sie auf ein vergleichsweise einfaches, undifferenziertes Schema. Auch Bewegungen wie die Demokratische Erziehung, die in der Praxis der Antipädagogik ähneln und mit ihr gemeinsame Grundsatzunterschiede zur traditionellen Erziehung und Pädagogik teilen, werden in der Antipädagogik je nach Interpretation nicht beachtet oder aber mit Werteerziehung (siehe oben) gleichgesetzt. Zum Teil wird von Dritten interpretiert, die Antipädagogik setze auf Anschauung und erschwere dadurch die Vermittlung von Abstraktionen, die sich nicht durch anschauliche Beispiele auflösen lassen. Die Antipädagogik will jedoch gar nicht vermitteln, das heißt unterrichten, und gibt daher auch keinerlei lehrmethodische Empfehlungen, insbesondere auch nicht zugunsten anschaulichen Unterrichts. Sie setzt vielmehr auf Lernen aus eigenem Antrieb und die Schaffung entsprechend günstiger Umgebungen, was abstrakte Lehrmittel und -literatur ebenso einschließt wie von den Lernenden ausgehende Gespräche und Projekte jedweder Abstraktionsstufe.

Siehe auch

Literatur

  • Maud Mannoni: Education impossible. Paris 1973. - Dt.: Scheißerziehung. Von der Antipsychiatrie zur Antipädagogik. Frankfurt/M. 1976
  • Andreas Bauer: Antipädagogik. Pro und Kontra des Für und Wider. Eine offene Diskussion zu grundsätzlichen Maximen. In: ZPE 74 (2006), S. 56–93.
  • Ekkehard von Braunmühl: Antipädagogik. (1975). Neuauflage: tologo verlag, Leipzig 2006, ISBN 978-3-9810444-3-0.
  • Ekkehard von Braunmühl: Zeit für Kinder. (1978). Neuauflage: tologo verlag, Leipzig 2006, ISBN 978-3-9810444-2-3.
  • Ekkehard von Braunmühl: Zur Vernunft kommen. Beltz, Weinheim 1990, ISBN 3-407-34036-2.
  • Annette Böhm, Ekkehard von Braunmühl: Gleichberechtigung im Kinderzimmer. Der vergessene Schritt zum Frieden. Patmos Verlag, Leipzig 1994, ISBN 3-491-50012-5.

Kritik

  • Flitner, Andreas: Konrad, sprach die Frau Mama. Über Erziehung und Nicht-Erziehung. Piper, München 1985. ISBN 3-492-10357-X
  • Winkler, Michael: Stichworte zur Antipädagogik. Elemente einer historisch-systematischen Kritik. Klett, Stuttgart 1982. ISBN 3-608-93001-9

Weblinks


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