Lumpenproletariat

Lumpenproletariat

Der Begriff Lumpenproletariat wurde von Karl Marx geprägt[1] [2] [3] und bezeichnete in der Sichtweise der organisierten Arbeiterbewegung des 19. Jahrhunderts eine soziologische Gruppierung.

Inhaltsverzeichnis

Lumpenproletariat nach Karl Marx

Zum ersten Mal gebraucht Marx den Begriff in seiner Auseinandersetzung mit Max Stirner, dem er vorhält, das Proletariat zu verwechseln mit „ruinierten Bourgeois und ruinierten Proletariern, [...] einer Kollektion von Lumpen, die in jedem Zeitalter existiert haben“, d.h. mit dem Pauperismus, welcher „die Lage nur des ruinierten Proletariats, die letzte Stufe ist, auf die der gegen den Druck der Bourgeoisie widerstandslos gewordene Proletarier versinkt, und nur der aller Energie beraubte Proletarier ein Pauper ist.“ [4]. Zu diesem „Auswurf, Abfall, Abhub aller Klassen“ zählte Marx „Vagabunden, entlassene Soldaten, entlassene Zuchthaussträflinge, entlaufene Galeerensklaven, Gauner, Gaukler, Tagediebe, Taschendiebe, Taschenspieler, Spieler, Zuhälter, Bordellhalter, Lastträger, Literaten, Orgeldreher, Lumpensammler, Scherenschleifer, Kesselflicker, Bettler, kurz, die ganze unbestimmte, aufgelöste, hin- und hergeworfene Masse, die die Franzosen `la bohème´ nennen“ [5]. Im Kommunistischen Manifest beschrieben Marx/Engels die subproletarischen Gruppen als „passive Verfaulung der untersten Schichten der alten Gesellschaft“. Wenn sie auch in der von den Autoren erwarteten proletarische Revolution „stellenweise in die Bewegung hineingeschleudert“ werden würden, so würden sie doch ihrer ganzen Lebenslage nach „bereitwilliger sein, sich zu reaktionären Umtrieben erkaufen zu lassen“ [6]. Als „Mobilgarde“ der Reaktion [7] sah Marx im Lumpenproletariat eine Gefahr. Dass das in seiner Zusammensetzung sehr heterogene „Lumpenproletariat“ sich nicht wie die Industriearbeiterschaft organisieren lasse, ein geringes Bewusstsein seiner Interessenlage habe und offen für Bestechung durch den Klassengegner sei, sah man in der Arbeiterbewegung als Problem. Es schied wegen seiner Unzuverlässigkeit und seiner Unfähigkeit zur Entwicklung eines proletarischen Klassenbewusstseins als Bündnispartner der Arbeiterklasse aus.

Abfall aller Klassen und Quelle der Kriminalität

Die Angriffe gegen das „Lumpenproletariat“ beschränkten sich nicht nur auf den materiell untersten Stand. Engels identifizierte (1887/88) in einem „zahlreichen Schmarotzeradel“ in der unteren Schicht des preußischen Junkertums ein „adliges Lumpenproletariat“, „das vom Schuldenmachen, zweifelhaftem Spiel, Zudringlichkeit, Bettel und politischer Spionage“ leben würde.[8]

Rosa Luxemburg demgegenüber sprach einerseits vom "Lumpenproletariat" als von "Verbrechern und Prostituierten".[9] Andererseits aber bezeichnete sie so „eine besondere Schicht“ von „sozialem Abfall“, die in einer Phase gesellschaftlicher Umwälzung „riesig“ anwachse. Sie verortete deren Entstehung in „allen Schichten der bürgerlichen Gesellschaft“, nämlich als Ergebnis von deren „Verlumpung“. „Abstufungen zwischen kaufmännischem Preiswucher, Schlachtschitzen-Schiebungen, fiktiven Gelegenheitsgeschäften, Lebensmittelfälschung, Prellerei, Beamtenunterschlagung, Diebstahl, Einbruch und Raub“ würden so ineinanderfließen, dass „die Grenze zwischen dem ehrbaren Bürgertum und dem Zuchthaus“ verschwimme. Wenn die „konventionellen Schranken und Stützen für Moral und Recht“ in Umbruchsituationen fortfielen, falle die bürgerliche Gesellschaft „unmittelbar und hemmungslos einfacher Verlumpung anheim“[10].

Abseits dieser mehr oder weniger theoriegeleiteten Definitionen von „Lumpenproletariat“ und „Verlumpen“ sah das Alltagsverständnis der breiten Mehrheitsbevölkerung darin ein Milieu der „Asozialität“ und einen Entstehungsort von Kriminalität. Als um die Wende zum 20. Jahrhundert die bevölkerungssanitären Vorstellungen von Sozialhygienikern populär zu werden begannen, richtete sich deren Interesse vor allem auf die als „asozial“ etikettierten subproletarischen Gruppen. 1912 beschrieb der Hygieniker Alfred Grotjahn, Mitglied der SPD und in der Weimarer Republik Mitglied des Reichstags und Autor des gesundheitspolitischen Abschnitts des Görlitzer Programms (1922), sie als „Bodensatz der Bevölkerung“ und „Bevölkerungskonglomerat [...] aus Vagabunden, Arbeitsscheuen, Hausierbettlern, Prostituierten, Zuhältern, Trunkenbolden und sonstigen Verwahrlosten“, an deren Spitze „Verbrechernaturen“ stehen würden. Es handle sich um „eine Gefahr und eine Bürde für jedes Gemeinwesen“[11].

Sozialistische Eugenik

Der Ansatz einer sozialistischen Eugenik, wie er von Julius Tandler, Rudolf Goldscheid, Ludwig Woltmann, Wilhelm Schallmayer, Magnus Hirschfeld, Alfred Grotjahn, Oda Olberg, Gunnar Myrdal u.a. vertreten wurde, erhielt nicht erst im Nationalsozialismus einen erbbiologischen Inhalt. Oda Olberg, Theoretikerin eines eugenischen Sozialismus, verstand das Lumpenproletariat als biologische Kategorie:

„Was man Lumpenproletariat nennt, rekrutiert sich durchaus nicht vorwiegend aus dem Proletariat: Es ist überhaupt keine wirtschaftliche, sondern eine biologische Kategorie, die sich aus dem Abfall aller sozialen Schichten bildet. [...] Ihre Hauptmasse besteht aus Entarteten, aus Imbezillen oder Psychopathen [...] Mit Unrecht stellt man diese Menschen schlechthin als Opfer unserer Wirtschaftsordnung hin. Sie stehen außerhalb des Produktionsprozesses, haben nichts zu ihm beigetragen, und ihr Elend beweist nichts anderes als die Unzulänglichkeit der sozialen Fürsorge.“[12]

Während das Proletariat Opfer der herrschenden Verhältnisse sei, so das Credo, sei das Elend des Lumpenproletariats selbstverschuldet. Die sozialistische Eugenik kombinierte Kapitalismuskritik mit der Diagnose biologischen Verfalls. Der Kapitalismus, so Grotjahn, hintertreibe eine eugenische Gattenwahl, insofern er Menschen permanent verleite oder nötige, sich bei der Gattenwahl weniger durch das natürliche Wohlgefallen an einem gesunden und kräftigen Partner als durch wirtschaftliche Vorzüge leiten zu lassen.

Der liberale Reichstagsabgeordnete Potthoff argumentierte, der Staat solle für diejenigen sorgen, „die physisch und biologisch lebenstüchtig und stark sind und die nur wegen wirtschaftlicher Schwäche des Schutzes bedürfen“. Der Schutz der Schwachen sollte nicht auf „Idioten und Krüppel, sondern auf die Erhaltung der Gesunden, also speziell die Erhaltung der gesunden Säuglinge“ konzentriert werden.[13]

Die von den Sozialisten unter „Lumpenproletariat“ subsumierten Menschen gerieten in der nationalsozialistischen Sozial- und Gesellschaftspolitik ab 1933 als „asozial“ und „gemeinschaftsfremd“ in den Fokus der sogenannten Rassenhygiene und wurden damit Objekt der Verfolgung und Aussonderung bis hin zur Vernichtung.

Siehe auch

Literatur

  • Gerd Stein: Lumpenproletarier – Bonze – Held der Arbeit. Verrat und Solidarität. Kulturfiguren und Sozialcharaktere des 19. und 20. Jahrhunderts. Band 5, Fischer Taschenbuch, Frankfurt am Main 1985, ISBN 3-596-25039-0.
  • M. Schwartz: „Proletarier" und „Lumpen". Sozialistische Ursprünge eugenischen Denkens . In: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, 42. Jg. (1994), S. 537-570

Anmerkungen

  1. JBfGOE, Band 46, S. 366
  2. Werner Stark: Die Wissenssoziologie: ein Beitrag zum tieferen Verständnis des Geisteslebens, 1960, S. 247
  3. Popper: Die offene Gesellschaft und ihre Feinde, Bd. II, 8. Aufl. Tübingen 2003, S. 174
  4. Die deutsche Ideologie, MEW 3, S. 183 [1]
  5. Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte, Kap. V, MEW 8, 160f [2]
  6. Manifest der Kommunistischen Partei, MEW 4, 472 [3]
  7. Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte, Kap. I, MEW 8, 121 [4]
  8. Friedrich Engels, Die Rolle der Gewalt in der Geschichte, zit. nach: [5].
  9. Rosa Luxemburg, "Einführung in die Nationalökonomie", S. 751-757, hier: S. 753, in: dies., Gesammelte Werke. Herausgegeben vom Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED. Bd. 5, Berlin (DDR) 1975, siehe auch: [6].
  10. Rosa Luxemburg, Die russische Revolution, Teil 4, zit. nach: [7].
  11. Patrick Wagner, Kriminalprävention qua Massenmord. Die gesellschaftsbiologische Konzeption der NS-Kriminalpolizei und ihre Bedeutung für die Zigeunerverfolgung. In: Michael Zimmermann (Hrsg.), Zwischen Erziehung und Vernichtung. Zigeunerpolitik und Zigeunerforschung im Europa des 20. Jahrhunderts. Stuttgart 2007, S. 379–391, hier: S. 387.
  12. Oda Olberg: Die Entartung in ihrer Kulturbedingtheit, München 1926, S. 20
  13. Verhandlungen des Ersten Deutschen Soziologentages, S. 147f

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