Lysenkoismus

Lysenkoismus

Der Lyssenkoismus war insbesondere unter Josef Stalin in der Sowjetunion ein Feldzug gegen die sogenannte „faschistische“ und „bourgeoise“ Genetik sowie gegen jene Biologen, die sich mit dieser Disziplin befassten. Diese Ära dauerte von den 1930er Jahren bis zur Entstalinisierung und teilweise noch darüber hinaus bis in die 1960er Jahre. Die wissenschaftlich falsche Theorie des Biologen, Agronomen und ehemaligen Bauern Trofim Denissowitsch Lyssenko, Erbeigenschaften würden durch Veränderungen der Umweltbedingungen erworben, die von Stalin übernommen wurde, spielte dabei eine zentrale Rolle. Zwischen 1934 und 1940 wurden in der Regierungszeit Stalins zahlreiche sowjetische Genetiker hingerichtet.

Wer den Begriff heute benutzt, meint im breiteren Kontext die Kontrolle der Wissenschaft durch die Politik. Während jener Zeit in der UdSSR durften die Wissenschafter nur unter der absoluten Führung der KPdSU ihre Forschungen betreiben.

Inhaltsverzeichnis

Lyssenkos Aufstieg

In den 1930er Jahren, als Lyssenko seinen Einfluss landesweit geltend machen konnte, befand sich die Landwirtschaft der Sowjetunion in einer schweren Krise. Die Kollektivierung führte zu massiven Einbußen in der Getreideproduktion. Durch mangelnde Agrartechnik und organisatorische Mängel litt zunächst die Effizienz der Agrarproduktion. Zudem lief sie gewaltsam ab – Hunderttausende wurden als „Kulaken“ deportiert – was den Widerstand der Bauern noch erhöhte. In der Ukraine, dem Heimatland Lyssenkos, herrschte eine Hungersnot, die Millionen von Menschen das Leben kostete. Diese Hungersnot wird auch als Holodomor bezeichnet.

Zur selben Zeit gab es allerdings nur wenige Agronomen, die bereit waren, die Erträge der jüngst kollektivierten Betriebe zu erhöhen. Viele dieser Fachleute waren vor der Revolution ausgebildet worden, und viele der jüngeren Agronomen waren mit der Kollektivierung und deren Folgen ebenfalls nicht einverstanden. Dazu kam, dass die Biologen jener Zeit sich weltweit mit der Genetik der Drosophila melanogaster beschäftigten, also der Fruchtfliege, die mit ihrem relativ einfachen Genom ein ideales Studienobjekt abgab, um die Vererbung zu erforschen. Die Kenntnis der „Mendelschen Gesetze“ (heute: Mendelsche Regeln) hatte erst später einen positiven Einfluss auf die Effizienz der Landwirtschaft (gezielte Züchtung von ertragsreichen Getreideformen). Während der Hungersnöte der 20er und 30er Jahre polemisierte Lyssenko gegen sowjetische Biologen, die sich mit „unnützen“ Fliegen abgaben, anstatt sich um die Erhöhung der landwirtschaftlichen Produktion zu kümmern.

1928 führte der vorher unbekannte Agronom Trofim Lyssenko eine neue landwirtschaftliche Arbeitstechnik, nämlich die künstliche Jarowisation ein, welche Feuchtigkeit und tiefe Temperaturen einsetzt, um Weizen auch nach dem optimalen Saatzeitpunkt aussäen zu können. Er versprach durch diese „Erfindung“ dreifache oder sogar vierfache Ernten, ein dialektischer Trick, denn er verglich seine Methode mit Ernteergebnissen aus Getreidefeldern, die zur Unzeit bestellt worden waren. Durch zu späte Saat wegen mangelhafter Saatbettbereitung und unzureichender Zahl an Sämaschinen kam es im Rahmen der Kollektivierung zu dramatischen Ertragseinbussen zum Teil sogar Totalverlusten im sowjetischen Getreideanbau. Durch künstliche Jarowisation konnten diese Verluste nur begrenzt vermindert werden; die Erträge waren allerdings höher als bei unbehandeltem zu spät gesäten Getreide. Auch war diese Technik nicht neu - sie ist schon seit 1854 bekannt und wurde zwanzig Jahre vor Lyssenko von Gustav Gassner intensiv studiert und beschrieben. Mit der zunehmenden Mechanisierung der landwirtschaftlichen Großbetriebe wurde die künstliche Jarowisation wieder aufgegeben. Bei der Aussaat zum optimalen Säzeitpunkt von Getreide bringt der hohe Aufwand der künstlichen Vernalisation keine Vorteile.

Die sowjetischen Massenmedien stellten ihn als ein Genie dar, das die Landwirtschaft revolutionierte. Die Propaganda liebte es, Geschichten von einfachen Bauern groß heraus zu bringen, die durch ihre Geschicklichkeit und Erfahrung praktische Probleme lösten. Lyssenko genoss diese Aufmerksamkeit der Medien und nutzte sie, um Genetiker anzuschwärzen und seine eigenen Ideen zu verbreiten. Wo er sich in der Fachwissenschaft nicht durchsetzen konnte, half ihm die Propaganda: Lyssenkos Erfolge wurden übertrieben und die Misserfolge totgeschwiegen. Er führte selten kontrollierte Experimente durch, denn hauptsächlich verließ er sich auf Fragebögen von Bauern, mit denen er „bewies“, dass die Vernalisation die Weizenerträge um 15% erhöhen würde.

Lyssenkos politischer Erfolg beruhte erheblich auf seiner Herkunft als Bauernkind. Die meisten Biologen stammten aus dem Bürgertum, und das war seit der Oktoberrevolution ideologisch suspekt. Arbeiter und Bauern sollten jetzt die herrschende Schicht stellen. Obendrein war Lyssenko begeisterter Anhänger Stalins und seines Systems.

Lyssenko hatte schnell „Lösungen“ für aktuelle Probleme parat. Wann immer die Kommunistische Partei gerade entschieden hatte, eine neue Getreidesorte zu verwenden oder neues Agrarland zu erschließen - Lyssenko tauchte mit praktischen Ratschlägen auf. Er entwickelte seine Ideen - die Vernalisation, das Blätterabschneiden bei Baumwollpflanzen, die gruppenweise Anpflanzung von Bäumen bis hin zu merkwürdigen Düngermischungen – in einem so hohen Tempo, dass die akademischen Wissenschaftler kaum Zeit hatten, diese teilweise unnützen und oftmals gefährlichen Lehren zu untersuchen und ggf. zu widerlegen.

Konsequenzen für die Sowjetunion und die Wissenschaft

Die staatliche Presse applaudierte Lyssenkos „praktischen Fortschritten“ und zog die Motive seiner Kritiker in Zweifel. Schließlich wurde er von Stalin zu seinem persönlichen Landwirtschaftsberater ernannt - eine Position, die Lyssenko dafür nutzte, Biologen als „Fliegen-Liebhaber und Menschenhasser“ zu denunzieren. Außerdem setzte er die Hetze gegen „Saboteure“ fort, die angeblich vorhatten, die Wirtschaft der UdSSR zu ruinieren. Sabotage war ein Straftatbestand in der Sowjetunion. [1] Lyssenko bestritt – wie auch die Partei – jeden Unterschied zwischen theoretischer und praktischer Biologie.

Die Missernten der sowjetischen Landwirtschaft in den 1930er Jahren beruhten zum großen Teil darauf, dass viele Bauern die Kollektivierungspolitik ablehnten. Lyssenkos Methoden boten einen Weg, die Bauern aktiv am Ernteerfolg und an der „Landwirtschaftsrevolution“ teilnehmen zu lassen. Für die Parteifunktionäre war ein Bauer, der – für welchen Zweck auch immer – Getreide ansäte, nützlich, im Gegensatz zur vorher verbreiteten Praxis, Getreide zu zerstören, um es nicht dem Staat zu überlassen.

Die akademischen Wissenschaftler dagegen konnten keine einfachen oder sofort umsetzbaren Neuerungen vorschlagen, und so geriet die Scharlatanerie Lyssenkos bei der kommunistischen Partei in einen guten Ruf. Dieser Ruf breitete sich auch über die Grenzen der Sowjetunion in anderen kommunistischen Parteien aus, wo Lyssenkos Thesen zeitweise herrschende Doktrin wurden.

Eine eigene Wissenschaft Lyssenkos existierte niemals. Er kopierte die Ideen Iwan Mitschurins und wendete eine Art Lamarckismus an. Die Pflanzen, so Lyssenko, wechselten ihre Gestalt durch Hybridisierung, Pfropfung und andere nicht-genetische Techniken. Zahlreiche Forscher nehmen an, dass Lyssenkos Erfolg in der Sowjetunion darauf beruhte, dass nach marxistischer Auffassung erbliche Einflüsse auf die menschliche Entwicklung minimal seien. Andere betonen, dass er seine Modelle nie auf die Humanbiologie anwandte, sondern sie streng auf Pflanzen beschränkte. Vorstellungen wie Erblichkeit oder Eugenik lehnte Lyssenko als bourgeoisen Einfluss auf die Wissenschaft ab, der in der Diktatur des Proletariats bekämpft werden musste.

Der Lyssenkoismus war – wie die Japhetitentheorie Nikolai Jakowlewitsch Marrs in der Linguistik – ein Auswuchs des Umstandes, dass ein pseudowissenschaftlicher Ansatz aus ideologischen Gründen in einer totalitären Diktatur mit allen Mitteln gefördert wurde.

Verfolgung der Wissenschaftler und nachfolgende Entwicklung

Zwischen 1934 und 1940 wurden unter Lyssenkos Aufsicht und mit Stalins Genehmigung viele Genetiker hingerichtet oder in den Gulag geschickt. Der bekannteste Genetiker der Sowjetunion, Nikolai Wawilow, wurde 1940 verhaftet und starb drei Jahre später im Gefängnis. Genetik wurde als eine „faschistische und bourgeoise Wissenschaft“ bezeichnet. Hier zeichnet sich eine Parallele zu der unter den Nationalsozialisten als „jüdisch“ verfolgten Relativitätstheorie ab, die durch eine „Deutsche Physik“ ersetzt werden sollte. 1948 wurde die Genetik schließlich offiziell zur „bourgeoisen Pseudowissenschaft“ erklärt – daraufhin wurden alle verbliebenen Genetiker entlassen oder eingesperrt.

Noch Chruschtschow schätzte Lyssenko anfangs als einen großen Wissenschaftler. Auf der Genetik lag lange ein Tabu. Erst in der Mitte der 1960er Jahre, lange nach dem Beginn der Entstalinisierung, wurde die offizielle Position zur Genetik widerrufen und die Genetiker rehabilitiert.

Der US-amerikanische Philosoph Carl Sagan vergleicht das Bestreben evangelikaler Kreise in den USA, den Kreationismus in die Lehrpläne der Schulen einzuführen, mit einer Vorstufe des Lyssenkoismus, da kreationistisch orientierte Politiker bestimmen wollen, was als Wissenschaft zu gelten hat.

siehe auch

Epigenetik

Einzelnachweise

  1. siehe [1]

Literatur

  • Johann-Peter Regelmann: Die Geschichte des Lyssenkoismus. Rita G. Fischer Verlag Frankfurt (Main) 1980.

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