Genie

Genie

Ein Genie (über das französische génie vom lateinischen genius, ursprüngl. „der Erzeuger“, von griechisch γίγνομαι „werden, entstehen“, dann auch „persönlicher Schutzgott“, später „Anlage, Begabung“) ist eine Person mit überragend schöpferischer Geisteskraft („ein genialer Wissenschaftler“, „ein genialer Künstler“) oder auch besonders herausragenden Leistungen auf anderen Gebieten.

Inhaltsverzeichnis

Etymologie und Begriffsgeschichte

Römischer Genius aus dem 2. Jh. n. Chr., bei Vindobona gefunden

Der Begriff des Genies hat zwei unterschiedliche Wurzeln: Im englischen Sprachraum stammt er vom lateinischen Genius ab, einem Schutzgeist in der römischen Religion. Der Genius, den nur Männer besaßen, wohnte einem jeden Mann inne und starb mit ihm. Er repräsentierte seine Persönlichkeit und gab ihm die Fähigkeit zur Zeugung von Nachkommen. Man kann ihn als ein inneres Wirkungsprinzip bezeichnen. In der Kunstgeschichte wurden die Genien in mittelalterlichen Skulpturen und Abbildungen als geflügelte Gestalten abgebildet, im Barock waren sie in Form kleiner wohlgenährter Säuglinge eine sehr beliebte Dekoration. Das weibliche Gegenstück zum Genius ist Juno.

In Deutschland und Frankreich kann der Begriff „Genie“ auf „ingenium“ (natürliches, angeborenes Talent) zurückgeführt werden. In der Renaissance begann man, mit dem Wort „Genie“ künstlerische Schaffenskraft oder die Quelle der Inspiration zu beschreiben. Nach der französischen Querelle des Anciens et des Modernes breitete der Begriff sich dann schlagartig aus und dominierte die ästhetischen Debatten: Das „Genie“ stand nun für den aus sich selbst heraus schaffenden Künstler, der die Natur nicht nur nachahmt (wie es das frühere ästhetische Modell vorsah), sondern der vollendet, was die Natur selbst noch nicht vollenden konnte.

Das diesem Modell zugrunde liegende Naturverständnis lässt sich im Wesentlichen schon auf Aristoteles zurückführen. Entscheidend ergänzt wurde es noch durch Gottfried Wilhelm Leibniz und seine Lehre von den „möglichen Welten“. Das Genie schafft mögliche Welten, es wird zum Schöpfer und damit quasi zum Gott („poeta alter deus“ - der Dichter als zweiter Gott).

In England wurden die theoretischen Grundlagen des Geniekults vor allem von Shaftesbury gelegt. Dadurch wurde wiederum Immanuel Kant inspiriert, der den kontinentaleuropäischen und den englischen Genie-Begriff zu einer Synthese vereinigte. In seiner Kritik der Urteilskraft bezeichnet er das Genie als die Instanz, durch die die Natur der Kunst die Regel vorschreibe. Auf diese Weise löst Kant den alten Streit der Querelle des Anciens et des Modernes über Kunst und Natur. Für Kant bezieht sich somit der Genie-Begriff nur auf Künstler, es lässt sich nicht etwa von einem „genialen Wissenschaftler“ reden.

Der Genie-Begriff Kants hatte großen Einfluss auf die Künstler der Weimarer Klassik und Romantik. Jean Paul stellte die Frage in den Vordergrund, wie die konkreten Bedingungen für die Schaffung eines genialen Kunstwerkes aussehen. Bei Johann Wolfgang von Goethe ist zwischen seinem frühen Geniebegriff, der in dem vom Sturm und Drang geprägten Gedicht „Prometheus“ zum Ausdruck kommt, und seinem späten, humanistisch-abgeklärten Geniebegriff im „Faust II“ zu unterscheiden. Wilhelm von Humboldt erweiterte den Geniebegriff zu einem allgemeinen „Humboldtschen Bildungsideal“. In der Folge wurden nicht nur Künstler, sondern auch Wissenschaftler als Genies bezeichnet. Friedrich Wilhelm Schelling betrachtete das Genie als ein Stück von der Absolutheit Gottes. Für die Romantiker Friedrich Schlegel und Novalis war das Genie der „natürliche Zustand des Menschen“ – es gelte nur, diesen Zustand zu bewahren oder zurückzugewinnen.

Im 19. Jahrhundert klang der Geniekult allmählich ab, und der Begriff verschwand aus der Ästhetik, in der stattdessen künstlerisches Handwerk, soziale Faktoren usw. in den Vordergrund rückten. In wissenschaftlichen Diskussionen spielt der Begriff „Genie“ heute so gut wie keine Rolle mehr. Im alltäglichen Sprachgebrauch ist er hingegen weit verbreitet.

Der Geniebegriff heute

Gelegentlich werden alle Menschen mit einem Intelligenzquotienten über einer gewissen Grenze (zum Beispiel 130 oder 145) als Genies bezeichnet.

Eine derartige Definition ist jedoch fragwürdig und geht am Wesen des Genies vorbei, da unter einem Genie gewöhnlich jemand verstanden wird, der überragende geistige Leistungen tatsächlich erbracht hat, während der Intelligenzquotient nur die Kapazität zur Erbringung dieser Leistung angibt. Diese Intelligenz ist alleine wohl nicht ausschlaggebend; Kreativität, Fantasie und Intuition sind etwa weitere Faktoren.

Die Psychoanalytikerin Phyllis Greenacre hat beobachtet, dass „extrem hochbegabte Personen in der Kindheit häufig von besonders intensiven Gefühlen, Vorstellungen oder Erinnerungen überwältigt wurden. Diese Eindrücke waren so lebendig und stark, dass die Kinder von Staunen, Entsetzen, Ehrfurcht, sogar Ekstase ergriffen wurden, also eine Art spirituelle oder religiöse Erfahrung machten.[1] Ein besonders gutes Merkmal für die Höchstbegabung dürfte eine enorme Intensität sein, was die Merkmale der Hochbegabung und Greenacres Beobachtung betrifft.

Wilhelm Lange-Eichbaum war es, der darauf hingewiesen hat, dass es einer Verehrergemeinde bedarf, die eine Hochleistung zu der Leistung eines Genies erklärt: Insbesondere ist aber nachhaltiger Einfluss des Werkes eine Voraussetzung. Da zwischen der Leistung selbst und ihrer Anerkennung oft ein sehr langer Zeitraum liegt, ergeben sich dadurch zwangsläufig für jede geniale Leistung und jedes Genie Probleme, die oft zu erheblichen sozialen und gesundheitlichen Belastungen führen. Bei herausragenden Leistungen ohne umfassende Rezeption wird vom verkannten Genie gesprochen.

Verehrer finden sich leichter, wenn es um keine „normale“ Leistung geht, sondern um etwas Ungewöhnliches, ja geistig „Unnormales“ oder Krankhaftes. Daher gibt es einen Mythos vom Zusammenhang von Genialität und Wahnsinn.

Als Universalgenie werden zum Beispiel Aristoteles, Leonardo da Vinci, Johann Wolfgang von Goethe, Gottfried Wilhelm Leibniz, als Genies auf ihrem Gebiet Johann Sebastian Bach, Miles Davis, Nikolaus Kopernikus, Salvador Dalí, Grigori Perelman, Pablo Picasso, William Shakespeare, Friedrich Schiller, Isaac Newton, Wolfgang Amadeus Mozart, Joseph Haydn, John Coltrane, Thomas Alva Edison, Albert Einstein, Leonhard Euler, Carl Friedrich Gauß, Nikola Tesla, Immanuel Kant, Charles Darwin, Ludwig Wittgenstein und Ludwig van Beethoven bezeichnet. Die Auswahl zeigt die Abhängigkeit des Geniebegriffs vom kulturellen Kontext: Deutschsprachige Personen sind hier überrepräsentiert. In vielen Fällen, wie bei Karl Marx, Lenin, Sigmund Freud oder Theodor W. Adorno besteht allerdings auch keine allgemeine Einigkeit, ob diese Person als Genie anzusehen sei, da die Einschätzung dieser Personen in der Regel von der persönlichen politischen Weltanschauung des Betrachters beeinflusst wird.

In der Kunst wird der Geniebegriff heute zunehmend kritisch betrachtet, und die Einbindung eines Künstlers oder Autors in den historischen und gesellschaftlich-intellektuellen Kontext betont.

Psychologie und Soziologie der Genialität

Im ausgehenden 19. Jahrhundert wurde insbesondere von Psychiatern wie Lombroso die Theorie vertreten, Genie mit „Irrsinn“ gleichzusetzen. Dieser Ansatz wird weniger radikal auch von Lange-Eichbaum, dem bekanntesten Genietheoretiker, vertreten. Umfangreich sind also die Arbeiten zwischen Genialität und psychischer Störung. Als Geniologie bezeichnet man die Lehre von den genialen Veranlagungen, ihren Bedingungen und Formen.

Der das Genie überfallende Schaffensdrang hat tatsächlich Ähnlichkeit mit bestimmten originellen und gedanklich hochproduktiven Phasen aus den leichteren psychopathologischen Randgebieten (hypomanische Phasenschwankungen, visionäre Vorstadien von Schizophrenie). Gewöhnlich unterscheidet man zwischen Genie und Talent. Das Wesentliche des Genies sieht man in seiner originalen Produktivät, die aus sicherer Intuition neue Schaffensbereiche erschließt. Der Prozess der Schöpfung wird durch vorbewusste Vorgänge bestimmt; wenn diese nicht ungehemmt ablaufen können, gibt es keine echte Kreativität (innere Natur des Menschen). So ist z. B. kennzeichnend für die Moderne, dass ein Prozess der Entfremdung von der inneren Natur durch Bürokratie usw. einsetzte. Dies kann unter anderem als Erklärungsmodell weniger häufig erscheinender Genialität gedeutet werden. Die Personen, die Opfer dieser Entwicklung sind, können als „verkannte Genies“ bezeichnet werden. Die Lebensumstände der demokratischen Moderne schränken ihre Leistungsentfaltung ein. Es kann somit zwischen Universalgenies, Genies und „verkannten Genies“ unterschieden werden. Genialität kann sich auf allen Gebieten zeigen - künstlerisch, wissenschaftlich, wirtschaftlich, philosophisch, politisch usw. Das Genie setzt sich gegen widrige Lebensumstände durch und gestaltet sich seine Welt. Eine Psychologie der Genialität im Sinne erklärender oder verstehender Deskription gibt es nur in Ansätzen, zumal die geniale Geistesverfassung den normalen Hilfsmitteln nur begrenzt zugänglich ist. Tatsächlich leiden Genies an Neurosen und Gemütsschwankungen. Während des schöpferischen Gedankenprozesses laufen parallel neurotische Vorgänge ab, z. B. der so genannte „Dichterwahnsinn“. Zahlreiche geniale Menschen litten im Laufe ihres Lebens an einer psychischen Störung (z. B. Nietzsche).

Die Psychiatrie der Gegenwart hat die zu weitgehenden Theorien Lombrosos fallen gelassen.

Doch wenn das Leben der Genies als „abartig“ bezeichnet werden kann, dann nicht unbedingt als krankhaft regelwidrige, willkürliche Ausnahme, sondern soziologisch betrachtet zugleich als regelsetzender und gestalthaft-schöpferischer Gipfelpunkt menschlicher Existenz. Ferdinand Tönnies ordnete ihn dem „Wesenwillen“ des Menschen zu.[2]

Das kreative Hirn - psychologische Studien zur Kreativität der Genies

Ein Genie hat Ideen, die keiner vorher hatte. Mit anderen Worten: Ein Genie ist kreativ. Mitte der 1990er Jahre äußerte der Psychologe Hans Eysenck die Vermutung, kreative Leistungen könnten zusammenhängen mit einer besonders schwachen Reizfilterung im Gehirn (siehe auch: Reizüberflutung). Diese Filterfunktion im Gehirn hilft dem Menschen normalerweise, aus einer Fülle von Eindrücken die relevanten herauszupicken, Unwichtiges von Wichtigem zu unterscheiden. Ist dieser Filter besonders durchlässig, kann das eine Voraussetzung für ungewöhnliche Assoziationen sein – ein typisches Merkmal für Kreativität.

Kreative sind leichter abzulenken

Shelly Carson von der Harvard University in den USA hat die Gehirnfunktion bei besonders kreativen und weniger kreativen Menschen verglichen und so Eysencks Theorie bestätigt. Dabei mussten die Versuchspersonen verschiedene Aufgaben lösen, zum Beispiel wurden ihnen per Kopfhörer nacheinander Fantasiewörter vorgespielt. Sie sollten sich auf eines davon konzentrieren und mitzählen, wie oft es innerhalb eines abgesteckten Zeitraums vorkam. Zudem waren nicht nur die Fantasiewörter, sondern auch Hintergrundgeräusche zu hören, was den Teilnehmern vorher nicht angekündigt worden war. Die Hintergrundgeräusche sollten die Versuchsperson ablenken.

Der Versuch erbrachte das Ergebnis, dass sich Kreative stärker ablenken lassen als weniger Kreative. Carsons erklärt dies damit, dass bei Kreativen eine bestimmte Filterfunktion im Gehirn weniger ausgeprägt ist, die so genannte latente Hemmung. Das bedeutet, dass kreative Köpfe besonders offen für Sinnesreize sind. Die Fülle von Informationen könnte eine Erklärung für originelle Verknüpfungen oder innovative Ideen sein. Besonders kreativ macht diese reduzierte Filterfunktion in Verbindung mit einem hohen IQ, da dieser garantiert, dass aus der Fülle von Informationen tatsächlich nur diejenigen weiterverwertet werden, die aktuell gebraucht werden.

Siehe auch

Literatur

  • Jacques Derrida: Genesen, Genealogien, Genres und das Genie. Das Geheimnis des Archivs. Passagen Verlag, Wien 2006, ISBN 3-85165-746-2.
  • Norbert Elias: Mozart. Zur Soziologie eines Genies. Suhrkamp, Frankfurt a.M. 1993.
  • Michael Fitzgerald: Genesis of Artistic Creativity: Asperger's Syndrome and the Arts.
  • Rudolf K. Goldschmit-Jentner: Die Begegnung mit dem Genius. Darstellungen und Betrachtungen. Christian-Wegner-Verlag, Hamburg 1939.
  • Ernst Kretschmer: Geniale Menschen. Mit einer Porträtsammlung. J. Springer Berlin 1929. [1]
  • Lange-Eichbaum, Wilhelm: Genie – Irrsinn und Ruhm. Verlag von E. Reinhardt, München 1928. [2]
    • Neuausgabe (herausgegeben von Wolfram Kurth): Genie, Irrsinn und Ruhm. Ernst Reinhardt Verlag, München 1979.
  • Gerhard Prause: Genies in der Schule: Legenden und Wahrheiten über den Erfolg im Leben. Taschenbuch-Verlag, München 1998, ISBN 3-612-26486-9.
  • Géza Révész: Talent und Genie: Grundzüge einer Begabungspsychologie. Francke, Bern 1952 (Sammlung Dalp, Band 76).
  • Jochen Schmidt: Die Geschichte des Genie-Gedankens in der deutschen Literatur, Philosophie und Politik 1750-1945. 2 Bände, Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 1985.

Quellen

  1. Jürgen vom Scheidt: Das Drama der Hochbegabten
  2. Rolf Fechner, „Der Wesenwille selbst ist künstlerischer Geist“ – Ferdinand Tönnies’ Genie-Begriff und seine Bedeutung für den Übergang von der Gemeinschaft zur Gesellschaft, in: Lars Clausen / Carsten Schlüter (Hgg.), Hundert Jahre „Gemeinschaft und Gesellschaft“, Opladen 1991, S. 453–461

Weblinks

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