Lübecker Impfkatastrophe

Lübecker Impfkatastrophe

Bei der Einführung der BCG-Schutzimpfung gegen Tuberkulose kam es 1930 in Lübeck zum Lübecker Impfunglück, dem größten Impfunglück des 20. Jahrhunderts.

Inhaltsverzeichnis

Hintergrund

Albert Calmette und Camille Guérin hatten 1921 nach dreizehnjähriger Vorarbeit eine orale Tuberkuloseschutzimpfung entwickelt, mit der bis 1928 außerhalb Deutschlands bereits 150.000 Kinder geimpft worden waren. Aufgrund ihrer langjährigen Arbeit in der Tuberkulosefürsorge entschlossen sich auch der Leiter des Lübecker Gesundheitsamtes Ernst Altstaedt und der Direktor des Allgemeinen Krankenhauses Georg Deycke, die Impfung an Neugeborenen in Lübeck einzuführen.

Die Anfang August 1929 aus Paris bezogene BCG-Kultur wurde von der sehr gewissenhaften, aber bakteriologisch nicht ausgebildeten Krankenschwester Anna Schütze im Labor Deyckes zu Impfstoff verarbeitet. Das Labor stellte sich später als zur Impfstoffherstellung ungeeignet heraus, da eine eindeutige räumliche Trennung zwischen den Impfkulturen und den gleichzeitig dort verarbeiteten infektiösen Tuberkulosekulturen nicht möglich war.

Die Impfung begann offiziell am 24. Februar 1930. Fahrlässigerweise unterließen es Deycke und Altstaedt, im Tierexperiment nachzuprüfen, ob die Impfkultur während dieser sieben Monate mit virulenten Tuberkelbazillen kontaminiert worden war. Die Mehrheit der Eltern willigte schriftlich zur kostenlosen Impfung ein. In den folgenden zwei Monaten wurden 256 Neugeborene (etwa 84 % aller Neugeborenen) in Lübeck oral gegen Tuberkulose geimpft.

Da beide von der Unschädlichkeit der Impfung überzeugt waren, unterließen Deycke und Altstaedt ärztliche Sicherheitskontrollen der geimpften Kinder. Sie planten lediglich eine Tuberkulinprobe nach sechs Monaten, um die Wirksamkeit der Impfung festzustellen.

Am 17. April starb das erste Kind an Tuberkulose. Als kurz darauf drei weitere Kinder starben, stoppte Deycke am 26. April die Impfungen. Insgesamt starben 77 Kinder infolge des kontaminierten Impfstoffes an einer ausgedehnten Tuberkulose. Weitere 131 Impflinge erkrankten. Aufgrund dieses Unglücks wurde die Einführung der BCG-Impfung in Deutschland bis nach dem Zweiten Weltkrieg verzögert.

Calmette-Prozess

Nachdem die Sachverständigen ausreichend Zeit zur Klärung der Ursachen des Impfunglückes hatten, wurde der Calmette-Prozess am 12. Oktober 1931 vor der II. Großen Strafkammer des Landgerichts Lübeck eröffnet. Die Anklage vertrat der Lübecker Oberstaatsanwalt Cay Diedrich Lienau.

Nach einer 76 Tage langen Gerichtsverhandlung wurde Georg Deycke am 6. Februar 1932 wegen fahrlässiger Tötung und fahrlässiger Körperverletzung zu zwei Jahren Gefängnis verurteilt. Deycke habe fahrlässigerweise in einem für Impfstoffherstellung ungeeigneten Labor den BCG-Impfstoff kultiviert und auf Tierversuche verzichtet. Deycke verließ Lübeck und starb 1938 als gebrochener Mann.

Altstaedt wurde wegen fahrlässiger Tötung und fahrlässiger Körperverletzung zu 15 Monaten Gefängnis verurteilt. Altstaedt habe den Impfstoff nicht im Tierversuch geprüft und die Kinder nur unzureichend beobachtet.

Der bekannte Pressezeichner der Zeit der Weimarer Republik Emil Stumpp hielt die Porträts der Prozessbeteiligten für die Nachwelt fest.

Folgen

Der Prozess stand in einem gewissen Zwielicht: Der Vorsitzende des Calmette-Prozesses beging etwa zu der Zeit, als das Gnadengesuch abgelehnt worden war, Selbstmord, weil er den Gedanken nicht ertragen konnte, er sei dem Verfahren nicht gewachsen gewesen – was nach Meinung der Prozessbeobachter nicht zutraf.

Die rechtsgeschichtliche Bedeutung dieses in mehrfacher Hinsicht tragischen Strafverfahrens liegt darin, dass durch diesen Prozess die Kodifizierung des ärztlichen Berufsrechts in Deutschland ausgelöst wurde, quasi die Geburtsstunde des modernen Medizinrechts.

Aufgrund der niedrigen Prävalenz in Deutschland und des unzureichenden Impfschutzes sowie der möglichen unerwünschten Arzneimittelwirkungen entschloss sich die Ständige Impfkommission im März 1998, die BCG-Impfung nicht mehr zu empfehlen.

Spätere Benennung

Aufgrund der Bekanntheit von Altem und Neuem Lübecker Totentanz (Darstellung des alle Bevölkerungsschichten treffenden Todes) wurde der erste große und einer der schwerwiegenden Impfzwischenfälle der Medizingeschichte ebenfalls immer wieder Lübecker Totentanz genannt.

Literatur

  • Henning von Beust, Heye Heyen (Hrsg.): Calmette-Anklage im Wortlaut / Die Anklagereden von Lienau. Nach stenografischen Aufzeichnungen, Lübeck, Albrecht & Vorkamp, 1932.
  • Julius Moses: Der Totentanz von Lübeck. Dr. Madaus & Co., Radebeul-Dresden 1930
  • Andreas Jens Reuland: Menschenversuche in der Weimarer Republik Norderstedt. Books on Demand GmbH (2004), ISBN 3833418230. Online-Fassung des betreffenden Kapitels
  • Peter Guttkuhn: Dr. jur. Alfred Cantor (1899-1968): Vom Rechtsanwalt und Notar in Lübeck zum Landarbeiter-Pionier im Negev. In: Israel Nachrichten. Nr. 11488. Tel Aviv, 21. Dezember 2006, S. 9-10.
  • Julius Edelhoff: Der Calmette-Prozess, in Der Wagen 1984, S. 62-68

Weblinks

The Lübeck Trial. Can. Med. Assoc. J. 26(3) 1932 S. 362 (März 1932). - Kurzer, zeitgenössischer Bericht über einige Expertenaussagen während des Prozesses

Die Lübecker Impfkatastrophe nach BCG-Schutzimpfung 1930


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