Marktradikalismus

Marktradikalismus

Marktfundamentalismus ist ein politisches Schlagwort, mit dem abwertend wirtschaftsliberale Positionen bezeichnet werden. Ähnliche Ausdrücke sind Marktradikalismus oder Marktideologie.[1]

Inhaltsverzeichnis

Verwendung

Der Ausdruck Marktfundamentalismus wurde durch George Soros popularisiert, aber schon vorher von Jonathan Benthall verwendet.[2] Laut Soros sind Marktfundamentalisten Menschen, die „glauben, dass Märkte ein Gleichgewicht anstreben und dass dem Allgemeinwohl am besten gedient ist, wenn man den Teilnehmern erlaubt, ihre Eigeninteressen zu verfolgen.“[3] Zur Bedeutung in der globalisierten Ökonomie schreibt Soros: „Der Marktfundamentalismus ist inzwischen so mächtig, dass alle politischen Kräfte, die sich ihm zu widersetzen wagen, kurzerhand als sentimental, unlogisch oder naiv gebrandmarkt werden.[4]

Im Jahr 1997 verurteilte Heiner Geißler den seiner Ansicht nach „globalen Marktfundamentalismus“ als den „neuen Götzen der Börsenjobber, Aktionäre und Industrierepräsentanten“.[5]

Der Bundesverband für Wirtschaftsförderung und Außenwirtschaft beschreibt Marktfundamentalismus als Propagierung von "Freihandel und freier Marktwirtschaft ohne wirksamen sozialen, kulturellen und ökologischen Ordnungsrahmen als erstrebenswertes gesellschaftliches System“.[6]

Der ehemalige Weltbankvorsitzende Joseph Stiglitz vertrat in seiner Nobelpreisrede die Ansicht, dass der Washingtoner Konsens auf „marktfundamentalistischen Grundsätzen“ basiere.[7][8] Die zugrundeliegende "Ideologie" beruhe auf der Verabsolutierung des Adam Smith zugeschriebenen Modells, nachdem Marktkräfte die Volkswirtschaft wie von unsichtbarer Hand zu effizienten Ergebnissen führen würden.[9] Dabei bleibe unberücksichtigt, dass das Marktsystem vollständigen Wettbewerb und vollkommene Information erfordere.[10]

Die weltweite Finanzkrise 2008 bezeichnete Stiglitz als Ende des Marktfundamentalismus.

„Der Fall der Wall Street ist für den Markt-Fundamentalismus das, was der Fall der Mauer für den Kommunismus war.“

Joseph E. Stiglitz: "Wie der Fall der Mauer" - FR-online[11]

Jagdish Bhagwati hingegen vermag keinen Marktfundamentalismus zu erkennen:

„Welcher Marktfundamentalismus? […] Ich habe in den letzten Jahren kaum Deregulierung gesehen, dafür aber viel gescheiterte Regulierung.“

Jagdish Bhagwati: Welcher Marktfundamentalismus[12]

Vielmehr beklagt er einen antimarktwirtschaftlichen Fundamentalismus, der jetzt überall wachse.

Die Sozialwissenschaftler Margaret Somers und Fred Block definieren Marktfundamentalismus als "heutige Form der Vorstellung, dass die Gesellschaft als Ganzes einem System selbstregulierender Märkte untergeordnet werden sollte. Marktfundamentalismus ist extremer als die (und darf nicht verwechselt werden mit den) abgestuften Meinungen der meisten Mainstream-Ökonomen. Er ist ebenfalls sehr verschieden vom komplexen Gemisch an politischen Linien, die in aktuell existierenden Marktgesellschaften verfolgt werden."[13] Typischerweise würden selbst-regulierte Märkte als naturgemäß, staatliche Eingriffe dagegen als kulturell bedingte Willkür dargestellt. Somers/Block sind der Ansicht, dass die Überzeugungen einer Überlegenheit marktwirtschaftlicher Prinzipien häufig auf einer „quasi-religiösen“ Gewissheit beruhten.

Globalisierungskritiker wie zum Beispiel attac verwenden den Ausdruck Marktfundamentalismus, ebenso wie Neoliberalismus, zur Bezeichnung der Politik der G8, des IWF oder der Weltbank.[14]

Nach dem Soziologen Wolfgang Krohn diene „die Prägung des Wortes Marktfundamentalismus der moralischen Diskreditierung einer neo-liberalistischen Haltung“. Sie nutze dabei deren Gegnerschaft gegen moralischen Fundamentalismus, um klarzustellen, dass „die Vorwürfe des Fundamentalismus und der Scheinheiligkeit gelegentlich auch an die Adresse scheinbar entmoralisierter Akteure zurückgegeben werden, wenn diese sich auf die unerbittliche Sachlogik funktionaler Imperative der Funktionssysteme berufen, um manifest unethische Praktiken zu veredeln.“[15]

Siehe auch

Literatur

  • Jean Gadrey: New Economy, New Myth, 2001, ISBN 978-0-415-30142-8 (speziell Kapitel Market diversity and regulation und The limits of the market; Original: ISBN 978-2080800237)
  • George Soros, Die Krise des globalen Kapitalismus (The crisis of Global Capitalism), Alexander Fest Verlag, Berlin 1998, ISBN 3-8286-0097-2
  • Joseph E. Stiglitz, Schatten der Globalisierung: Nobelpreis für Wirtschaft, Siedler, Berlin 2002
  • Joseph E. Stiglitz, Chancen der Globalisierung, Siedler, Berlin 2006
  • Pax Christi – Kommission Weltwirtschaft (Hrsg., Peter Schönhöffer u. A.), Der Gott Kapital. Anstöße zu einer Religions- und Kulturkritik. LIT-Verlag, Münster 2006 ISBN 3-8258-9316-2
  • Franz Josef Radermacher, Ökosoziale Grundlagen für Nachhaltigkeitspfade – Warum der Marktfundamentalismus die Welt arm macht GAIA 13, Nr. 3, 170-175, 2004.
  • Lee Boldeman, The cult of the market: economic fundamentalism and its discontents, AU E Press, Canberra 2007 [1]

Weblinks

Einzelnachweise

  1. Rolf Stürner: Markt und Wettbewerb über alles? Gesellschaft und Recht im Fokus neoliberaler Marktideologie, 2007, ISBN 978-3-40656884-8, S. 144, 141 und 127
  2. Jonathan Benthall: Inside Information on ‚the Market’, Anthropology Today, Bd. 7, Nr. 4 (Aug., 1991), S. 1-2.
  3. George Soros: Soros sieht schlimmste Krise seit 60 Jahren Welt Online 25.Januar.2008
  4. George Soros, Die Krise des globalen Kapitalismus (The crisis of Global Capitalism), Alexander Fest Verlag, Berlin 1998.
  5. Heiner Geißler: Das nicht gehaltene Versprechen. Politik im Namen Gottes, 1997
  6. Bundesverband für Wirtschaftsförderung und Außenwirtschaft: Grundlegende Positionen, Dezember 2008
  7. Joseph E. Stiglitz: Information and Change in the Paradigm in Economics, American Economic Review, Bd. 92, Nr. 3 (Jun., 2002), S. 460, 461.
  8. vgl. auch Joseph E. Stiglitz: Die Schatten der Globalisierung, 4. Auflage 2004 Goldmann München, S. 106
  9. Joseph Stiglitz: Die Schatten der Globalisierung, 4. Aufl., 2004, S. 105 f.
  10. Joseph Stiglitz: Die Schatten der Globalisierung, 4. Aufl., 2004, S. 106
  11. Michael Hesse: Joseph Stiglitz: "Wie der Fall der Mauer". Frankfurter Rundschau, 8. November 2008. Abgerufen am 7. April 2009. (Nachrichtenartikel)
  12. Sueddeutsche.de 11.11.2008 Finanzprodukte sind wie Feuer
  13. "Market fundamentalism is the contemporary form of the idea that society as a whole should be subordinated to a system of self-regulating markets. Market fundamentalism is more extreme than (and must not be confused with) the nuanced arguments made by most mainstream economists. It is also very different from the complex mix of policies pursued by governments in actually existing market societies." Margaret R. Somers und Fred Block: From Poverty to Perversity: Ideas, Markets, and Institutions over 200 Years of Welfare Debate, American Sociological Review, 2005 Bd. 70, Nr. 2, (Apr., 2005), S. 260 f.
  14. Burak Copur, Mitglied des Attac-Rates:IWF und Weltbank - Dem Marktfundamentalismus der G7/8 verfallen im Mai 2003
  15. Wolfgang Krohn: Funktionen der Moralkommunikation

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