Massaker von Deir Yasin

Massaker von Deir Yasin
Kartenausschnitt von Deir Yasin

Deir Yasin (auch Deir Jassin, arabisch ‏دير ياسينDair Yāsīn bzw. im palästinensischen Dialekt Dēr Yāsīn) ist ein arabisches Dorf, heute Teil des im Nordwesten Jerusalems gelegenen Giw'at Scha'ul. Das Dorf wurde am 9. April 1948 während des Bürgerkriegs in Palästina von paramilitärischen Verbänden der extremistischen Organisationen Irgun Tzwai Le’umi (IZL) und Lechi angegriffen und eingenommen. Aufgrund der hohen Anzahl ziviler Verluste bei der Erstürmung wird die Aktion auch Massaker von Deir Yasin genannt.

Inhaltsverzeichnis

Hintergrund, Massaker und Folgen

Das Massaker steht im Kontext des Bürgerkriegs, der kurz vor der Staatsgründung Israels und dem Ende der britischen Mandatszeit zwischen den verfeindeten jüdischen und arabischen Nationalbewegungen und den britischen Polizeikräften in Palästina tobte. Jüdische Kampfverbände starteten am 5. April die Operation Nachschon, die die arabische Blockade Jerusalems beenden sollte, um Nahrung zu den in der Stadt eingeschlossenen Juden transportieren zu können. Deir Yasin war aufgrund seiner Nähe zu Jerusalem und seiner erhöhten Lage ein strategisch günstiger Ort, dessen Einnahme jedoch keine hohe Priorität während der Operation besaß. Der Angriff wurde auch nicht von der zu dieser Zeit bereits wie eine reguläre Armee funktionierten Hagana, sondern von etwa 100-130 militärisch ungeschulten und schlecht ausgerüsteten Kämpfern der Untergrundorganisationen Irgun und Lechi durchgeführt, die keinerlei Erfahrung mit der planmäßigen Einnahme eines Dorfes hatten. Der Kommandierende Hagana-Offizier von Jerusalem, David Shaltiel, hatte dem Einsatz mit der Bedingung zugestimmt, dass das Dorf danach besetzt werden müsse, um es nicht zu einem Rückzugsort für arabische Kampfverbände werden zu lassen. Man hatte gehofft, die Zivilisten würden flüchten, wenn man vorab Warnungen per Lautsprecher verkünden würde. Ob diese die Menschen in Deir Yasin überhaupt erreichten, ist umstritten. Jedenfalls blieben viele Einwohner in ihren Häusern und der offen gelassene Fluchtkorridor wurde nur von rund 200 der 600 Dorfbewohner genutzt. Arabische Kämpfer und bewaffnete Einwohner verschanzten sich in Häusern und feuerten von dort aus auf die Angreifer. Diese gingen daraufhin von Haus zu Haus und warfen Granaten durch die Fenster, da sie den Nahkampf in den verwinkelten Häusern scheuten. Insbesondere diese Vorgehensweise führte zu der extrem hohen Zahl an toten Zivilisten. Die Eroberung Deir Yasins dauerte mehrere Stunden.

Die Anzahl der Opfer konnte nicht genau ermittelt werden. Israelische wie palästinensische Historiker gehen heute von 100-120 toten Arabern aus, von denen etwa 10 sicher als bewaffnete Kämpfer bezeichnet werden können.[1] Von den Angreifern starben vier, über 30 wurden verletzt.[2] Ob es nach Ende der Kampfhandlungen noch zu Hinrichtungen von Gefangenen kam, ist unter Historikern umstritten. Die Zahl der Opfer war unmittelbar nach dem Angriff ein Politikum und wurde wahrscheinlich absichtlich überhöht angegeben[3][4], um Angst und Schrecken in der palästinensischen Bevölkerung zu verbreiten und sie zur Flucht und Aufgabe ihrer Siedlungsräume zu verleiten[3][5]. Später wurden die Zahlen auch von arabischer Seite übertrieben, um den Vorfall für sich zu nutzen. Das Massaker wurde offiziell von allen Seiten verurteilt, einschließlich der Hagana und der Jewish Agency.[6] Infolge des Massakers und aus weiteren Gründen waren bis zum eigentlichen Beginn des Palästinakriegs am 14. Mai 1948 – also binnen 35 Tagen – bereits zwischen 250.000 und 300.000 arabische Palästinenser geflohen oder wurden vertrieben.

Die Aktion wurde vom späteren israelischen Premierminister und Friedensnobelpreisträger Menachem Begin kommandiert. Begin verteidigte auch später noch das Massaker: „Das Massaker von Deir Jassin hatte nicht nur seine Berechtigung – ohne den ,Sieg‘ von Deir Jassin hätte es auch niemals einen Staat Israel gegeben.“[7] Die Tat wurde später in der innenpolitischen Debatte gegen Begins Partei Cherut und Likud verwendet. Der Anteil der Hagana blieb unklar.

Vier Tage später, am 13. April 1948, erfolgte ein Angriff arabischer Freischärler am Skopus-Berg auf einen Sanitätskonvoi, bei dem 77 Juden starben und 23 verletzt wurden, die meisten davon Ärzte und Krankenschwestern. Dieser Anschlag wird als Vergeltungsmaßnahme mit Deir Yassin in Verbindung gebracht.

Literatur

  • Jörg-Uwe Albig u.a.: Die Geschichte des Judentums. 3000 Jahre Glaube und Kultur; von König David bis zur Gründung des Staates Israel (GEO-Epoche; 20). Gruner + Jahr, Hamburg 2005, ISBN 3-570-19598-8, S. 153.
  • Sharif Kananah, Nihad Zaytuni: Deir Yassin القرى الفلسطينية المدمرة, Birzeit University Press, 1988
  • Uri Milstein: Blood Libel at Deir Yassin: The Black Book (Hebrew: עלילת דם בדיר יאסין – הספר השחור), National Midrasha Publishers and Survival Institute Publishers, 2007
  • Benny Morris: The Historiography of Deir Yassin, Journal of Israeli History 24 (1): 79–107, 2007
  • Benny Morris: The Birth of the Palestinian Refugee Problem Revisited, Cambridge University Press, 2004

Weblinks

Einzelnachweise

  1. Kan'ana & Zaytuni: Deir Yasin, 1988, S. 5 und 57
  2. http://www.jewishvirtuallibrary.org/jsource/German/Die_Fl%FCchtlinge.html#F
  3. a b Milstein 1999, p.388 ("the leaders of ETZEL, LEHI, Hagana and MAPAM leaders had a vested interest in spreading the highly inflated version of the true facts") and pp.397-399.
  4. Benny Morris, The Palestinian Refugee Problem Revisited, Cambridge University Press, 2004 p.294 n.566
  5. Morris 2004, p.239: "IZL leaders may have had an interest, then and later, in exaggerating the panic-generating effects of Deir Yassin, but they were certainly not far off the mark. In the Jerusalem Corridor area, the effect was certainly immediate and profound."
  6. Sachar, p.333: "The most savage of these reprisal actions took place on April 9, 1948 ... the deed was immediately repudiated by the Haganah command, then by the Jewish Agency"
    Morris 2001, p.208: "the Jewish Agency and the Haganah leadership immediately condemned the massacre".
  7. Markus A. Weingardt: Deutsche Israel- und Nahostpolitik. Campus Verlag 2002, ISBN 359337109X, S. 33.
31.78647535.178033333333

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