Moorleiche von Windeby I

Moorleiche von Windeby I
Windeby I

Die Moorleiche von Windeby I (auch Kind von Windeby oder Junge von Windeby) ist die gut erhaltene Moorleiche eines etwa 11-jährigen Jungen aus dem 1. Jahrhundert, die im Jahre 1952 im Domslandmoor nahe der Ortschaft Windeby bei Eckernförde in Schleswig-Holstein gefunden wurde. Aufgrund unzulänglicher Geschlechtsbestimmungen und einer falschen Deutung des Fundensembles war diese Leiche viele Jahre als Mädchen von Windeby bekannt. Sie ist die bekannteste Moorleiche in Deutschland.

Heute befindet sich der Leichnam neben anderen Moorleichen in der Dauerausstellung des Schleswig-Holsteinischen Landesmuseums Schloss Gottorf. Die Vitrine ist noch mit Mädchen von Windeby beschriftet, trägt jedoch einen provisorischen Hinweis mit Informationen zu der neuen Geschlechtsbestimmung.

1983 fertigte Richard Helmer eine plastische Gesichtsrekonstruktion des Jungen für das Museum an.[1]

Inhaltsverzeichnis

Fundumstände

Die Moorleiche von Windeby wurde am 19. Mai 1952 von den Torfstechern Pawlik und Franz Seibert im Domslandmoor gefunden. (Das Domslandmoor[2] wird in Publikationen häufig auch falsch als Domlandsmoor bezeichnet.) Beide erkannten den Schenkelknochen als menschlichen Überrest und stellten ihre Arbeit sofort ein. Sie suchten die nähere Umgebung nach weiteren Leichenteilen ab und informierten das Museum in Schleswig. Den beiden Torfarbeitern und dem Moorbesitzer Schmidt ist zu verdanken, dass die Leiche daraufhin von Fachleuten des Museums sachgerecht geborgen und dokumentiert werden konnte.

Befunde

Die Moorleiche Windeby I mit einem ersatzweise angebrachten Stoffstreifen statt der gefundenen sogenannten „Augenbinde“
Einige Knochen des Skeletts vorübergehend 2007 in der Dauerausstellung

Die Leiche wurde ursprünglich in einer 1,5 m breiten und ca. 1,5 m tief ausgehobenen Grube niedergelegt. Sie war auf einer Schicht Heidekraut gebettet und mit Wollgras bedeckt. Die Leiche lag auf der rechten Seite, der Kopf in Richtung Westen. Das Kopfhaar ist rechts etwa 4 cm lang, während es links nur etwa 2 mm lang ist. Neben der Leiche wurden Reste eines Keramikgefäßes und Kleidung gefunden.

Die Leiche war durch das Moor außerordentlich gut konserviert. So ließen sich am Gehirn der Moorleiche sogar noch die Windungen und Furchen erkennen.

Röntgenaufnahmen eines Unterschenkelknochens zeigten Harris-Linien, die auf Wachstumsstörungen durch jahreszeitlich bedingte Unterernährung hindeuten.[3] Zudem litt der Junge an einer schweren Kieferinfektion.

Die ursprüngliche Geschlechtsbestimmung erfolgte aufgrund des zarten Knochenbaus der Leiche sowie einer falschen Deutung der Fundensembles. Zweifel an der Geschlechtsbestimmung als weiblich gab es bereits in den 1960er Jahren, jedoch setzten sich diese Zweifel in der Fachwelt und vor allem der Allgemeinheit nicht durch. 2006 konnte die kanadische Anthropologin und Gerichtsmedizinerin Prof. Heather Gill-Robinson durch DNA-Untersuchungen in den USA und Israel so gut wie zweifelsfrei (die Problematik von mit rezenter DNA kontaminierter aDNA ist auch hier nicht zu vernachlässigen) nachweisen, dass es sich um eine männliche Leiche handelt.[4][5]

Durch eine Pollenanalyse wurde die Moorleiche in die Eisenzeit datiert. Der Sterbezeitraum konnte mittels Untersuchung einer Knochenprobe aus dem Oberschenkel mit Hilfe der Radiokarbonmethode auf den Zeitraum zwischen 41 v. Chr. und 118 n. Chr. genauer eingegrenzt werden.[6] Weitere untersuchte Proben aus den Haaren, den bei der Leiche gefundenen Pelzumhang und Hölzern erbrachten wesentlich ältere Datierungen, die jedoch auf die intensive Behandlung der Fundstücke mit Konservierungsmitteln zurückzuführen sind.[7]

Eines der Ergebnisse der Entnahme und Untersuchung eines Torfprofils 1958 im Zusammenhang mit den Moorleichenfunden des Domslandmoores war die Erkenntnis, dass an dieser Stelle schon seit der Eisenzeit Torf gestochen wurde.

Spekulationen

Die vermeintliche Feigenhand

Um die Todesumstände der zunächst als weiblich angesehenen Moorleiche rankten sich viele Spekulationen und Theorien. Forscher gingen zunächst von einer Hinrichtung aus. Als Indizien dafür werden die ungewöhnliche Frisur, eine Augenbinde sowie die Handhaltung in der so genannten Feigenform aufgeführt. Die rechte Hand der Leiche soll bei der Auffindung emporgereckt und der Daumen zwischen Zeige- und Mittelfinger hindurch gestreckt gewesen sein. Das symbolisiert die so genannte Feigenhand, eine Gebärde, die in der Gegenwart sexuelle Aussagekraft hat. Diese Geste sowie eine Augenbinde veranlassten zur Vermutung, die damals noch als junge Frau angesehene Person sei eine ihrem Ehemann untreu gewesene Ehefrau und zur Strafe ins Moor getrieben worden.

Diese Theorie wurde nur wenige Tage später durch den Fund einer zweiten, männlichen Moorleiche, dem Mann von Windeby (Windeby II) bekräftigt, die nur wenige Meter daneben gefunden wurde. Die zeitliche und räumliche Nähe beider Funde nährte viele Jahrzehnte die romantisch wirkende Theorie von der hingerichteten Ehebrecherin und ihrem Geliebten.[8] Diese populäre Theorie hielt sich so hartnäckig, dass viele vorgetragene Bedenken kaum Beachtung fanden. Der Archäologe Michael Gebühr bearbeitete ein weiteres Mal alle Dokumente zu dem Fund und widerlegte 1979 die Mär von der unsittlichen Missetäterin.[9] Er entkräftete vor allem das Indiz für das angebliche moralische Fehlverhalten des Moormädchens. Der Forscher hat nachgewiesen, dass die betreffende Hand des Mädchens nach der Ausgrabung 1952 bei der Einlagerung verformt wurde. Bei der Augenbinde könnte es sich schlicht um ein verrutschtes Kopfband handeln.

Die zusätzliche und endgültige Widerlegung der Ehebrechertheorie gelang mit der gentechnischen Bestätigung des männlichen Geschlechts der vermeintlichen Mädchenleiche im Jahre 2005, sowie der neuesten 14C-Datierung, wonach die Überreste des Jungen etwa 300 Jahre jünger sind als die des Mannes.

Ein weiteres deutliches Indiz gegen die populäre Hinrichtungsthese ist die liebevolle Ausgestaltung des Grabes mit der Bettung und Decke aus Gräsern, sowie der Beigabe von Tongeschirr und Kleidung.

Varia

Die Feigenhand war in der Eisenzeit unbekannt, erst im Mittelalter entwickelte sich die obszöne Bedeutung.

Beide Funde zeigen eindrücklich, wie unterschiedlich die Verhältnisse im Moor die Konservierung von Körpern beeinflussen können. Beide Moorleichen lagen nur fünf Meter voneinander entfernt. Die Leiche des Jungen Windeby I war jedoch wesentlich besser erhalten als die des Mannes. Die Jungenleiche lag weiter entfernt vom Rand des Moores, wo sie wesentlich besser konserviert wurde.

Literatur

  • Michael Gebühr; Verein zur Förderung des Archäologischen Landesmuseums e.V., Schloß Gottorf (Hrsg.): Moorleichen in Schleswig-Holstein. Wachholtz, Neumünster 2002, ISBN 3-529-01870-8.
  • Peter Vilhelm Glob: Die Schläfer im Moor. Winkler, München 1966 (Originaltitel: Mosefolket, übersetzt von Thyra Dohrenburg).

Quellen

  1. R. Helmer: Die Moorleiche von Windeby. Versuch einer plastischen Rekonstruktion der Weichteile des Gesichts auf dem Schädel. In: Institut für Ur- und Frühgeschichte der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel (Hrsg.): Offa. Berichte u. Mitteilungen zur Urgeschichte, Frühgeschichte u. Mittelalterarchäologie. 40, Wachholtz, Neumünster 1983, ISSN 0078-3714, S. 345–352.
  2. www.eckernfoerde.de Suchanfrage: „Domsland“
  3. Peter Caselitz: Aspekte zur Ernährung in der römischen Kaiserzeit, dargestellt an der Moorleiche von Windeby I. In: Institut für Ur- und Frühgeschichte der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel (Hrsg.): Offa. Berichte u. Mitteilungen zur Urgeschichte, Frühgeschichte u. Mittelalterarchäologie. 36, Wachholtz, Neumünster 1979, ISSN 0078-3714, S. 108–115.
  4. "Das Mädchen von Windeby" ... ist ein Junge In: Webseite des n-tv vom 18. März 2006 (Aufgerufen 21. Oktober 2009)
  5. Heather Catherine Gill-Robinson: The iron age bog bodies of the Archaeologisches Landesmuseum, Schloss Gottorf, Schleswig, Germany. Dissertation. University of Manitoba, Manitoba, Kanada 2006, ISBN 9780494122594.
  6. Michael Gebühr, Verein zur Förderung des Archäologischen Landesmuseums e.V., Schloß Gottorf (Hrsg.): Moorleichen in Schleswig-Holstein. Wachholtz, Neumünster 2002, ISBN 3-529-01870-8, S. 47.
  7. J. van der Plicht, W. A. B. van der Sanden, A. T. Aerts, H. J. Streurman: Dating bog bodies by means of 14C-AMS. In: Journal of Archaeological Science. Nr. 31, 2004, doi:10.1016/j.jas.2003.09.012. 
  8. Diezel, Hage, Jankuhn, Klenk, Schaefer, Schlabow, Schürtrumpf, Spatz: Zwei Moorleichenfunde aus dem Domlandsmoor. In: Praehistorische Zeitschrift. Nr. 36, de Gruyter, Berlin 1958, ISSN 0079-4848, S. 118–219.
  9. Michael Gebühr: Das Kindergrab von Windeby – Versuch einer Rehabilitation. In: Institut für Ur- und Frühgeschichte der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel (Hrsg.): Offa. Berichte u. Mitteilungen zur Urgeschichte, Frühgeschichte u. Mittelalterarchäologie. 36, Wachholtz, Neumünster 1979, ISSN 0078-3714, S. 75–107.

Weblinks

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