Moorleiche

Moorleiche
Der Grauballe-Mann, eine Moorleiche aus Dänemark

Als Moorleiche bezeichnet man menschliche Überreste oder vollständige Leichenfunde, die durch Weichteilkonservierung im sauren Milieu eines Hochmoores sowie durch Sauerstoffabschluss und die Wirkung der Huminsäuren erhalten blieben, während sich die mineralischen Anteile der Knochen oft auflösen.

Inhaltsverzeichnis

Allgemeines

Moorleichenfunde sind seit Beginn schriftlicher Aufzeichnungen bekannt. Meist wurden die Körper zufällig beim Torfstechen gefunden und von den Findern wieder beerdigt oder verscharrt. Nur selten wurden Fachleute hinzugezogen, die die historische Bedeutung der Funde erkannten. Einmal dem schützenden Moor entnommen, trockneten die Körper rasch ein, verwesten oder verschimmelten, wenn nicht umgehend konservierende Maßnahmen ergriffen wurden. Weitere Moorleichen, die bereits in der Obhut von Museen lagen, gingen in Folge von Kriegen, Umzügen oder Nachlässigkeiten bei der Aufbewahrung verloren. Aus Europa sind gegenwärtig über 1000 Moorleichen oder deren Teile bekannt. Bis in die frühe Neuzeit wurden Moorleichen, oder Teile von ihnen, gelegentlich zu Mumia verarbeitet und in Apotheken als Arzneimittel verkauft.

Der Begriff Moorleiche für die Fundgattung menschlicher Leichen und Leichenteile aus Mooren wurde 1871 von der holsteinischen Wissenschaftlerin Johanna Mestorf geprägt.

Die meisten Funde stammen aus der nordeuropäischen Eisenzeit, allerdings gibt es auch weit ältere Funde, deren frühester und sicher datierbarer die Frau von Koelbjerg aus dem 8. Jahrtausend vor Chr. ist. Als Moorleichen findet man in ganz Nordeuropa und den Britischen Inseln zwischen 650 v. und 500 n. Chr. den Göttern geopferte Menschen (in Irland über 100). Hingerichtete, im Moor versenkte „Verbrecher“ sind wohl allenfalls Ausnahmen. Besonders die Germanen versenkten Menschen im Moor, die meisten davon als Opfer für ihre Götter. Der römische Schriftsteller Tacitus beschreibt in seinem Buch über die Germanen Menschenopfer für die Erdgöttin Nerthus, die bevorzugt im Spätwinter oder frühen Frühjahr stattgefunden haben.

Jedoch sind bei weitem nicht alle Moorleichen auf Opferungen oder die Bestrafung von Verbrechern zurückzuführen: Es wurden auch immer wieder unter natürlichen Umständen Gestorbene regulär im Moor bestattet. Beispiele hierfür sind unter anderen die Frau von Peiting, die bei der Geburt ihres Kindes oder im Kindbett starb, das Kind von Windeby oder die Männer von Hunteburg. Einer der größten bisher entdeckten Moor-Bestattungsplätze ist das nur zur Hälfte ausgegrabene Windover Bog in Florida, USA, in dem mehr als 168 Individuen geborgen wurden.

Der jüngste Moorleichenfund ist eine mehr als 2.500 Jahre alte „Teenager“-Moorleiche. Das erste Körperfragment wurde 2000 gefunden, 2005 wurden weitere Körperteile im Uchter Moor bei Nienburg geborgen. Das Skelett des 16 bis 20 Jahre alten Mädchens ist nahezu vollständig erhalten. Es handelt sich um eine der ältesten, jemals in norddeutschen Hochmooren gefundenen Leichen. Die Forscher erhoffen sich wichtige Aufschlüsse über die Lebensweise der Menschen vor 2.500 Jahren.

Auch im Moor verunglückte Menschen blieben als Moorleichen erhalten, wie die Frau von Fraer Mose oder die Frau von Koelbjerg zeigen. Die Frau von Fraer Mose wurde ausgestreckt auf dem Bauch liegend gefunden, ein Fuß steckte in einer tieferen Moorschicht fest, wohingegen die knöchernen Überreste der Frau von Koelbjerg über eine größere Fläche im Moor verteilt lagen.

Neben menschlichen Überresten wurden auch immer wieder Körper von Tieren gefunden, wie zum Beispiel von Torfhunden, denen jedoch nur selten besondere Beachtung beigemessen wurde. Diese wurden weder geborgen, noch dokumentiert und in den meisten Fällen entsorgt oder mit verarbeitet. Eine Besonderheit ist hier der nahezu vollständig erhaltene Torfhund von Burlage, der eine der wenigen erhaltenen Tier-Moorleichen ist.

Mit der zunehmenden Mechanisierung im Torfabbau werden Moorleichenfunde immer unwahrscheinlicher. Das Risiko steigt, dass Fundmaterial mit dem Torf unerkannt abgebaut und damit für immer zerstört wird.

Konservierung in Mooren

Die im Moor vorhandenen Torfmoose bewirken, dass Moore ein stark saures Milieu besitzen. Dies hat drei verschiedene Effekte auf die Moorleichen. Zum ersten werden durch die Säure die Knochen der Lebewesen fast völlig entkalkt und die Knochenstruktur aufgelöst. Zum zweiten werden durch die Humin- und Gerbsäuren Haut, Gewebe, Haare, Knorpel und Fingernägel gegerbt und somit konserviert. Dabei verändert sich die Farbe und Konsistenz der Organe jedoch sehr stark, sie werden rotbraun bis schwarz, ledrig und vollkommen elastisch. Zum dritten wird durch Säure das Wachstum jener Bakterien gehemmt, die organisches Material wie Fleisch oder Leder zersetzen. Voraussetzung für diese Konservierung ist die sauerstofffreie Lagerung unter der Wasseroberfläche.

Ohne besondere Behandlung trocknen die Funde nach der Entnahme aus dem Moor aus und schrumpfen stark zusammen. Gelangt Luftsauerstoff an den Fund, können Mikroorganismen wie Pilze und Bakterien ihn schnell zersetzen. Um Funde dauerhaft zu erhalten, sind daher umfangreiche Konservierungsmaßnahmen erforderlich. Anfänglich wurden die Funde in Öfen getrocknet oder in Eichenlohe gegerbt, um die durch das Moor begonnene Gerbung abzuschließen. Anschließend mussten die Objekte zur Stabilisierung mit Ölen oder Teeren behandelt werden, was jedoch zu starken, irreversiblen Veränderungen und Verunreinigungen der Funde führte.

Einige wenige Funde wurden feucht aufbewahrt, beispielsweise in Formalinbädern, was aber das Fundmaterial ebenfalls für viele Untersuchungsmethoden unbrauchbar machte. Gegenwärtig werden die meisten Funde kontrolliert gefriergetrocknet und die zwangsläufige Schrumpfung wird mit dabei durch eine Durchtränkung mit Polyethylenglykol vermindert. In jüngster Zeit wird versucht, die Funde unter den gleichen Bedingungen zu lagern wie im Moor. Dazu werden sie gekühlt und in Moorflüssigkeit aus der Fundstelle aufbewahrt.

Siehe auch Erhaltungsbedingungen für organisches Material

Wissenschaftliche Bedeutung

Moorleichen bieten aufgrund ihres oft ausgezeichneten Erhaltungszustands eine einmalige Gelegenheit, Menschen aus der Eisenzeit zu untersuchen. Es kann festgestellt werden, an welchen Krankheiten sie litten, sogar der Mageninhalt kann in Einzelfällen (Tollund-Mann, Grauballe-Mann) analysiert werden und gibt Aufschluss über den möglichen Todeszeitpunkt. Die meisten Moorleichen, die erkennbar als Menschenopfer sterben mussten, wurden demnach im Spätwinter getötet. Dies ist ein wichtiges Argument, das die Deutung der Moorleichen als Menschenopfer zulässt. Der ausgezeichnete Erhaltungszustand der Weichteile bis hin zu den individuellen Gesichtszügen erlaubt es, einem Menschen der damaligen Zeit „ins Gesicht zu sehen“. Diese Möglichkeit der Begegnung erklärt die Faszination, die Moorleichen auf viele Menschen ausüben.

Untersuchungen durch die kanadische Anthropologin Heather Gill-Robinson in jüngerer Zeit ergaben an den Torfmumien von Schleswig-Holstein im Museum Schloss Gottorf wertvolle Hinweise auf die Ernährungsweise der eisenzeitlichen Bevölkerung. Sie war sehr fleischarm und auch durch völligen Verzicht auf Meerestiere gekennzeichnet. Die Forscherin stellte auch fest, dass einige ältere Moorfunde manipuliert wurden.

Erforschungsgeschichte

Der Mann von Kragelund von 1898 in Fundlage, die erste Moorleiche die fotografisch dokumentiert wurde.

Der früheste sichere Hinweise zu einem Moorleichenfund entstammt einer Bauernchronik aus dem Jahre 1640, die von dem Fund eines gut erhaltenen Körpers aus dem Schalkholzer Moor in Schleswig Holstein berichtet. Allerdings wurde dieser Leichnam, wie viele weitere, umgehend wieder bestattet. Die erste wissenschaftliche Bearbeitung eines Moorleichenfundes führte die irische Gräfin von Moira im Jahre 1781 durch. Sie untersuchte die von einem Angestellten übergebenen Haarzöpfe und Kleidungsreste und legte dazu eine ausführliche Publikation in der Zeitschrift Archaeology vor. Bis diese Fundgattung jedoch eine stärkere wissenschaftliche Beachtung fand dauerte es noch einige Jahrzehnte und erst den 1830er Jahren finden Moorleichenfunde ein zunehmendes Interesse in der altertumswissenschaftlichen und anthropologischen Fachwelt. Seit Mitte des 20. Jahrhunderts rücken diese Funde auch stärker in das Interesse weiterer geistes- und naturwissenschaftlicher Fachbereiche und Funde werden zunehmend auch fachübergreifend bearbeitet. Zunächst ging die Wissenschaft im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert davon aus, dass es sich bei den Moorleichen alleine um Menschen aus den ersten Jahrhunderten um Christi Geburt handelt, die aufgrund germanischer Rechtssitten in das Moor gelangten und deren Vorkommen sich auf ein relativ enges geographisches Gebiet in Mitteleuropa (Britische Inseln, Dänemark, Deutschland und den Niederlanden) beschränkt. Diese Auffassung beruhte vor allem auf den Berichten Tacitus in seiner Germania. Mit der Zunahme wissenschaftlich dokumentierter und untersuchter Funde wurde diese Auffassung revidiert, da diese Leichen aus den verschiedensten Gründen ins Moor gelangten und nahezu alle Zeitepochen umfassen. Entsprechend dem jeweils aktuellen Forschungsstand versuchten Wissenschaftler wie Johanna Mestorf, Hans Hahne und Alfred Dieck die Definition des Begriffes Moorleiche neu zu fassen, ohne jedoch eine allgemein gültige und akzeptierte Definition zu erreichen. Vorwiegend ging es bei dieser Definitionsfrage darum ob bestimmte Zeitepochen und Deponierungsarten wie Beisetzung, Opferung, Verscharrung, Unfalltod mit ein- oder auszuschließen seien. Seit dem Beginn der Moorleichenforschung wurden zahlreiche Versuche unternommen, eine komplette Auflistung der europäischen Moorleichenfunde zu erstellen. Durch die teilweise schwierige Quellenlage - viele Fundberichte beruhen nur auf Hörensagen; viele Moorleichen wurden undokumentiert wieder bestattet oder vernichtet, oder ihr Verbleib ist unbekannt - ist eine gesicherte Angabe der genauen Anzahl der Funde unmöglich. Am Beispiel der Forschungsarbeit Alfred Diecks zeigt sich diese Problematik besonders deutlich.

Geschlechtergeschichtliche Bezüge

Die Moorleiche Windeby I im Museum Schloss Gottorf ist nach den Untersuchungen von 2006 ein Junge und keine Frau
Eine weitere männliche Moorleiche im Archäologischen Museum Schloss Gottorf

Für die germanischsprachigen gentes der römischen Kaiserzeit bedeutete das Moor ein Grenzgebiet zwischen menschlicher und göttlicher Welt, daher fanden dort viele rituelle Opferdarbringungen statt. Tacitus berichtet im 12. Kapitel seines ethnographischen Werks [De origine et situ Germanorum] über verschiedene Hinrichtungspraktiken bei den östlich des Rheins und nördlich der Donau siedelnden germanischsprachigen Völkerschaften. Demzufolge seien ignavi („Feiglinge“), imbelles („Kampfunwillige“) und corpore infames (persönlich freie Männer, die Tacitus zufolge im Rahmen gleichgeschlechtlicher Kontakte die sexuell passive Rolle einnahmen [1][2]) durch Versenken im Moor bestraft worden. Tacitus schreibt hierzu (Germania 12,1):[3] "proditores et transfugas arboribus suspendunt, ignavos et imbelles et corpore infames caeno ac palude, iniecta insuper crate, mergunt." (Verräter und Überläufer knüpfen sie auf den Bäumen auf, Feiglinge, Kriegsscheue und körperlich Geschändete versenken sie im Schlamm und Sumpf und werfen noch Flechtwerk darüber)

Den Ergebnissen der aktuellen Moorleichenforschung zufolge scheint es sich bei der entsprechenden Passage innerhalb der Germania des Tacitus (Germania XII, 1-2) jedoch um einen Bestandteil der Interpretatio Romana zu handeln, d.h. um einen Vergleich römischer Verhältnisse mit solchen bei germanischsprachigen Völkern bzw. um eine Übertragung römischer Sexualvorstellungen auf die angebliche Rechtspraxis bei den Einwohnern des rechtsrheinischen Barbaricums. Hierfür sprechen folgende Hinweise:

  • Die mehreren hundert untersuchten Moorleichen stammen nicht nur aus mehreren Jahrtausenden, sondern lassen sich zudem nicht auf den geographischen Bereich der Germania libera bzw. Südskandinaviens eingrenzen.[4]
  • Unter den Moorleichen befindet sich eine größere Anzahl von Frauen- und Kinderleichen, die zwar durch die numerische Anzahl der männlichen Leichname überwogen wird, deren Existenz jedoch trotzdem in Abweichung zum taciteischen Bericht steht, welcher das Versenken von Personen im Moor nur als Strafpraxis in Bezug auf Männer kennt.[5]
  • Der eigentlich für diese Frage relevanten Gruppe der in situ Ertränkten lassen sich mit Bestimmtheit so gut wie keine der gefundenen Moorleichen direkt zuweisen, zumal viele der Leichname zuvor auf andere Art und Weise - wie beispielsweise durch Erdrosseln oder Erhängen[6] - getötet wurden, was ebenfalls im Gegensatz zum Bericht des Tacitus steht. Es ist daher nach dem Stand der gegenwärtigen Moorleichenforschung nicht mehr möglich, eine der vorgefundenen Gruppen von Moorleichen mit Sicherheit mit der Schilderung des römischen Historiographen in Germania XII, 1-2 in Verbindung zu bringen.[7]
  • Hinzu kommt, dass Tacitus bei der Abfassung der Germania von der vermutlichen Intention geleitet wurde, das vermeintliche Sexualleben der Germani im Sinne der altrömischen Vorstellungen von mos maiorum und virtus als von scheinbarer Einfachheit geprägt darzustellen, um durch eine solche Topik zumindest indirekte Kritik an dem von ihm als "üppig" wahrgenommenen sexuellen Verhalten seiner Zeitgenossen aus der römischen nobilitas üben zu können. Da gleichgeschlechtliches Sexualverhalten unter Männern in Rom als Signum von ebendieser "Üppigkeit" galt, passte es nicht in das taciteische "Germanenbild".[8]
  • Innerhalb der Gesamtheit der gefundenen Moorleichen können einige dieser Funde dennoch als nach einem konkreten Ritus im Moor versenkt angesehen werden. Da sich aber in vielen Fällen nicht eindeutig nachweisen lässt, ob es sich bei den vermutlich nach einem bestimmten Ritus versenkten Personen um einen Opferritus, einen Rechtsritus oder eine Kombination aus beiden dieser Faktoren handelt, zudem ein Großteil der im Moor versenkten Leichen wahrscheinlich als Opfer an die Götter anzusehen sein dürfte[9], muss eine abschließende Beantwortung der Frage, inwiefern bei den germanischsprachigen Völkerschaften des späten ersten Jahrhunderts Menschen parallel dazu im Rahmen einer Strafrechtspraxis durch Versenken im Moor hingerichtet wurden, offen bleiben, obwohl die Ansicht, Strafvollzug habe bei einigen der vorgefundenen Moorleichen vorgelegen, von manchen Forschern in der Tat vertreten wird.[10] Unklar bleibt dann aber nach wie vor, ob bezüglich der möglicherweise in Folge Strafvollzugs versenkten Männer eines der von Tacitus erwähnten Delikte (z.B. Feigheit = ignavi) zutrifft, ein anderes jedoch nicht. Somit ließe sich eine innere kulturgeschichtliche Kohärenz der Aussage des Tacitus, sich sexuell passiv verhaltende, gleichgeschlechtlich agierende Männer seien von den Bewohnern der Germania libera im Moor versenkt worden, nicht mehr verifizieren.[11]

Spätere griechische und römische Autoren berichten im Gegensatz zu Tacitus davon, dass bestimmte Erscheinungsformen gleichgeschlechtlichen Sexualverhaltens bei einigen germanischsprachigen gentes verbreitet gewesen seien und zumindest toleriert wurden; so an der Wende vom zweiten zum dritten Jahrhundert n. Chr. Sextus Empiricus[12] mit Blick auf die germanischsprachigen Völker in generalisierender Weise, in der zweiten Hälfte des vierten Jahrhunderts Ammianus Marcellinus hinsichtlich des Volkes der Taifalen[13] sowie im sechsten Jahrhundert Prokopios von Caesarea bezüglich der Heruler.[14] Die neuere historische Forschung nimmt demzufolge an, dass gleichgeschlechtlichen Sexualbeziehungen wenigstens bei einigen germanischsprachigen gentes der römischen Kaiserzeit und der Völkerwanderungsepoche die Funktion eines Initiationsritus der Jungmannschaft zugekommen sei (z.B. bei den Taifalen[15]) oder dass solche Verhaltensmuster im Rahmen männerbündisch organisierter Gefolgschaftsverbände endemisch verbreitet waren.[16] Damit geht konform, dass kriminelle Strafen bezüglich gleichgeschlechtlichen Sexualverhaltens unter Männern in den meisten germanischen Rechtsquellen der Völkerwanderungszeit fehlen[17]. Eine gleichgeschlechtliches Sexualverhalten verurteilende Rechtsnorm taucht zwar in der zur Regierungszeit Alarichs II. erlassenen Lex Romana Visigothorum (506 n. Chr.) auf, doch ist diese Strafandrohung eindeutig durch die Rezeption des zeitgenössischen römischen Rechts, namentlich des Codex Theodosianus, bestimmt. Zudem hatte die Lex Romana Visigothorum nur für die romanischsprachige Bevölkerung des Westgotenreiches Geltung, während der einige Jahrzehnte ältere Codex Euricianus, der für die gotischsprachigen Einwohner des regnum Visigothorum in Geltung war, parallel zur fränkischen Lex Salica sowie zu den Rechten der Burgunder, Langobarden, Angelsachsen etc., keinerlei Hinweise auf irgendeine strafrechtliche Verfolgung gleichgeschlechtlichen Sexualverhaltens erkennen lässt. Die durch Salvianus von Marseille für die Regierungszeit König Geiserichs in Nordafrika erwähnten sexualstrafrechtlichen Maßnahmen der vandalischen Führungsschicht gegen die so genannten viri molles dürften sich auf spätantike Transvestiten unter der provinzialromanischen Bevölkerung Karthagos beziehen, vermutlich jedoch nicht auf gleichgeschlechtliche Verhaltensweisen vandalischer Männer, zumal Prokopios von Caesarea in seinem im sechsten Jahrhundert entstandenen "Bellum Vandalicum" davon berichtet, die in Nordafrika lebenden Vandalen hätten aphrodisia panta ("sämtliche Formen geschlechtlicher Liebe") praktiziert.[18][19]

Abgrenzung

Moorleichen sind zu trennen von Funden im Moor aus der Zeit der jüngeren Trichterbecherkultur wie in Dagsmose, Døjringe, Føllenslev, Gemeindeberggasse, Sigersdal und Sludegard Mose, alle in Dänemark, die aus Leichenteilen bestehen (zumeist Schädeln) und als Mooropfer anzusehen sind.[20]

Bekannte Moorleichen

Frau von Haraldskær
Der Mann aus Jührdenerfeld

Auswahl:

Dänemark:

Deutschland:

Irland:

Niederlande:

Norwegen

Polen:

Schweden:

Vereinigtes Königreich:

Siehe auch

Literatur

Grundlegende Werke

Weiterführende Literatur

  • Miranda Aldhouse Green: Menschenopfer - Ritualmord von der Eisenzeit bis zum Ende der Antike. Magnus, Essen 2003, ISBN 3-88400-009-8.
  • Herbert Jankuhn; Schleswig-Holsteinisches Landesmuseum für Vor- und Frühgeschichte in Schleswig (Hrsg.): Nydam und Thorsberg. Moorfunde der Eisenzeit. Wegweiser durch die Sammlung. Nr. 3, Neumünster 1962.
  • Allan A. Lund: Kritischer Forschungsbericht zur Germania des Tacitus (Teile I - IV, Teil V: Bibliographische Übersicht über Germania-Editionen und - Kommentare aus den Jahren 1880 bis 1989 unten S. 2341 - 2344), in: Haase, Hans (Hg.): Aufstieg und Niedergang der römischen Welt (ANRW). Geschichte und Kultur Roms im Spiegel der neueren Forschung, Teil II: Principat, Bd. 33, 3: Sprache und Literatur (Allgemeines zur Literatur des zweiten Jahrhunderts und einzelne Autoren der trajanischen und frühhadrianischen Zeit), Berlin, New York 1991, S. 1989-2222
  • Allan A. Lund: P. Cornelius Tacitus. Germania (Wissenschaftliche Kommentare zu griechischen und lateinischen Schriftstellern), Heidelberg 1988.
  • Allan A. Lund: Versuch einer Gesamtinterpretation der 'Germania' des Tacitus, mit einem Anhang: Zur Entstehung und Geschichte des Namens und Begriffs Germani, in: Haase, Hans (Hg.): Aufstieg und Niedergang der römischen Welt (ANRW). Geschichte und Kultur Roms im Spiegel der neueren Forschung, Teil II: Principat, Bd. 33, 3: Sprache und Literatur (Allgemeines zur Literatur des zweiten Jahrhunderts und einzelne Autoren der trajanischen und frühhadrianischen Zeit), Berlin, New York 1991, S. 1858-1988.
  • Gerhard Mildenberger: Sozial- und Kulturgeschichte der Germanen. Von den Anfängen bis zur Völkerwanderungszeit. Kohlhammer, Stuttgart 1977, ISBN 3-17-004206-8.
  • Peter Pieper: Peat bog corpses. In: Andreas Bauerochse, Henning Hassmann (Hrsg.): Peatlands. Leidorf, Rahden/Westfalen 2003, ISBN 3-89646-026-9.
  • J. van der Plicht, W. A. B. van der Sanden, A. T. Aerts, H. J. Streurman: Dating bog bodies by means of 14C-AMS. In: Journal of Archaeological Science. Nr. 31, 2004, doi:10.1016/j.jas.2003.09.012. 

Kinder- und Jugendsachbücher

  • Renate Germer: Mumien aus aller Welt. In: Was ist was. 84, Tessloff, Nürnberg 2006, ISBN 978-3-7886-0424-0.
  • Charlotte Wilcox: Mummies, bones & body parts. Carolrhoda Books, Minneapolis 2000, ISBN 9781575054285 (englisch).
  • James M. Deem: Bodies from the Bog. Houghton Mifflin, Boston 1998, ISBN 9780618354023 (englisch).

Einzelnachweise

  1. Alfons Städele (Hrsg.): Tacitus. In: Cornelius Tacitus. Agricola. Germania. (Sammlung Tusculum). München; Zürich 1991, S. 334..
  2. Lund: Versuch einer Gesamtinterpretation der 'Germania' des Tacitus, S. 1896.
  3. Alfons Städele (Hrsg.): Tacitus. In: Cornelius Tacitus. Agricola. Germania. (Sammlung Tusculum). München; Zürich 1991, S. 92.
  4. Lund (1991), S. 1897
  5. Lund: Versuch einer Gesamtinterpretation der 'Germania' des Tacitus, S. 1897.
  6. Jankuhn (1962), S. 14/15.
  7. Lund: Versuch einer Gesamtinterpretation der 'Germania' des Tacitus, S. 1897.
  8. Gerhard Perl: Tacitus-Germania. In: Hermann, Joachim (Hrsg.): Griechische und Lateinische Quellen zur Frühgeschichte Mitteleuropas bis zur Mitte des ersten Jahrtausends u.Z.. 2 (Schriften und Quellen der Alten Welt, Band 37, 2, Berlin 1990, S. 166.
  9. Michael Müller-Wille: Opferkulte der Germanen und Slawen. In: Archäologie in Deutschland Sonderheft. Stuttgart 1999, S. 32.
  10. Jankuhn (1962) S. 14.
  11. Lund: Versuch einer Gesamtinterpretation der 'Germania' des Tacitus S. 1897: „Aus dem Dargelegten geht hervor, dass es - nach dem heutigen Stand der Moorleichenforschung - nicht möglich ist, die Angabe des Tacitus unmittelbar auf eine Kategorie der Moorleichenfunde zu beziehen.“
  12. Sextus Empiricus: Πυρρωνείαι ὑποτυπώσεις. In: R. G. Bury (Hg.): Sextus Empiricus, Bd. 1. Outlines of Pyrrhonism (The Loeb Classical Library), 6. Auflage. Cambridge/Massachusetts, London 1976.Sextus Empiricus III, 199, in: Bury (1976) S. 460.
  13. Ammianus Marcellinus: Rerum gestarum Libri XXXI, 9, 5. In: John C. Rolfe (Hrsg.): Ammianus Marcellinus. 6 Auflage. 3, The Loeb Classical Library, Cambridge/Massachusetts; London 1986, S. 444.
  14. Prokop: De bello Gothico, II, 14, 33/34, S. 318.
  15. Mischa Meier: Männerbund. In: Heinrich Beck, Dieter Geuenich, Heiko Steuer (Hrsg.): Reallexikon der germanischen Altertumskunde. Band 19 (Luchs - Metrum), Berlin; New York 2001, S. 105-110.
  16. David Greenberg: The Construction of Homosexuality. Chicago 1988, S. 243-246.
  17. Wilhelm E. Wilda: Das Strafrecht der Germanen. In: Geschichte des deutschen Strafrechts. 1, Aalen 1960, S. 858-859 (Nachdruck der Ausgabe Halle 1842).: „Widernatürliche Befriedigung des Geschlechtstriebes scheint den Germanen, wenigstens den Nordländern, nicht ganz fremd geblieben zu sein. Es läßt sich daraus schließen, dass unter den ehrenkränkenden Vorwürfen auch aufgezählt wird, dass ein Mann sich als Weib habe brauchen lassen. Weitere Spuren finden sich aber in den germanischen Rechtsquellen nicht, und insbesondere nicht von der Bestrafung solcher Lasterthaten als Verbrechen. Die christliche Kirche lehrte unter Beziehung auf die Bestimmungen des Alten Testaments, dass namentlich der widernatürliche Umgang von Männern unter einander, […] eine todeswürdige Sünde sei. Die erste Erwähnung finden wir in dem Capitulare ecclesiasticum vom Jahre 789, wo unter Bezugnahme auf das Concilium von Ancyra, von der Auferlegung der kirchlichen Buße die Rede ist“
  18. Prokopios von Caesarea: De bello Vandalico. In: H. B. Dewing (Hrsg.): Procopius. History of the Wars. 6 Auflage. 2, Nr. 3 und 4, The Loeb Classical Library, Cambridge/Massachusetts; London 1990, S. 256-258.
  19. Prokopios von Caesarea: De bello Gothico. In: Otto Veh (Hrsg.): Prokop. Werke. 2 Gotenkriege, Artemis, München 1978, S. 256-258.
  20. Manfred Rech: Studien zu Depotfunden der Trichterbecher und Einzelgrabkultur des Nordens. In: Offa-Bücher. 39, 1979, S. 48-53.

Weblinks


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