Mutmaßlicher Wille

Mutmaßlicher Wille

Der mutmaßliche Wille bezeichnet im Recht einen hilfsweise angenommenen Willen. So ist z. B. eine Geschäftsführung ohne Auftrag berechtigt, wenn die Geschäftsübernahme dem Interesse und dem wirklichen oder mutmaßlichen Willen des Geschäftsherrn entspricht (vgl. § 683 BGB).

Inhaltsverzeichnis

Medizinrechtliche Verbindlichkeit und Patientenverfügung

Medizinrechtlich ist der mutmaßliche Wille von Bedeutung, wenn ein Patient nicht einwilligungsfähig ist und daher nicht selbst über eine ärztliche Behandlung entscheiden kann. Die Behandlung ist dann nach seinem mutmaßlichen Willen durchzuführen oder zu unterlassen[1]. Auch aus der Gewissensfreiheit ergibt sich kein Recht, sich durch aktives Handeln über das Selbstbestimmungsrecht des durch seinen Bevollmächtigten oder Betreuer vertretenen Patienten hinwegzusetzen und seinerseits in dessen Recht auf körperliche Unversehrtheit einzugreifen[2][3]. Falls sich trotz sorgfältiger Prüfung keine Anhaltspunkte zur Ermittlung des individuellen mutmaßlichen Willens finden lassen, so kann und muss auf Kriterien zurückgegriffen werden, die allgemeinen Wertvorstellungen entsprechen[1]. Ein Behandeln entgegen dem mutmaßlichen Willen des Patienten, also etwa das einfache Missachten einer Patientenverfügung, erfüllt den Straftatbestand der Körperverletzung[4]). Erfolgt eine passive Sterbehilfe hingegen ohne wenigstens ausreichende mutmaßliche Einwilligung der Person, ist sie als Tötung durch Unterlassen oder unterlassene Hilfeleistung strafbar[4].

Den mutmaßlichen Willen des Patienten zu erforschen bedeutet, nach bestem Wissen und Gewissen zu beurteilen, „was der Patient für sich selbst in der Situation entscheiden würde, wenn er es könnte“, formuliert die Bundesärztekammer.[5]

Im Fall des irreversiblen tödlichen Verlaufs ist eine auf die Situation bezogene Patientenverfügung auf jeden Fall verbindlich. Ein Betreuer oder Bevollmächtigter darf dann nicht einen anderen Willen annehmen[6].

Sieht eine Patientenverfügung das Unterlassen von Maßnahmen bei einer Erkrankung vor, die noch nicht in ein Stadium des unumkehrbaren tödlichen Verlauf getreten ist, würde aber das Befolgen der Patientenverfügung zum Tod führen, obwohl noch realistische Aussichten auf Heilung bestehen, so ist nach derzeitiger Rechtslage die Patientenverfügung für einen Betreuer/Bevollmächtigten nicht zwingend verbindlich, wenn der Wille des Patienten für die konkrete Behandlungssituation nicht eindeutig und sicher festgestellt werden kann[7]. Kann der Wille nicht eindeutig und sicher festgestellt werden, liegt es also im Ermessen des Betreuers beziehungsweise des Bevollmächtigten, den mutmaßlichen Willen zu bestimmen und zu entscheiden, ob eine Behandlung abgebrochen oder fortgesetzt wird. Dies gilt unabhängig davon, in welchem Stadium sich die Krankheit befindet. Hat das Gericht Kenntnis von einer Bevollmächtigung, darf es auch dann keinen Betreuer bestellen, wenn der Betroffene mittels Patientenverfügung lebensrettende Behandlungen ausschließt[7].

Für sein Handeln ist auch der Betreuer gegenüber dem Betreuten verantwortlich (§ 1833 , § 1908i BGB). Richtet sich ein Betreuer oder Bevollmächtigter eines Patienten trotz situationsbezogener Patientenverfügung nicht nach dieser, kann er der Betroffene von ihm Schadenersatz nach § 253 Abs. 2 BGB verlangen. Eine etwaige Schadensersatzverpflichtung des Betreuers gegenüber dem Betreuten wird nicht dadurch ausgeschlossen, dass das Vormundschaftsgericht etwas genehmigt hat (BGH Urteile vom 15. Januar 1964 - IV ZR 106/ 63 - FamRZ 1964, 199, vom 5. Mai 1983 - III ZR 57/ 82 - FamRZ 1983, 1220, und vom 18. September 2003 - XII ZR 13/ 01).

Quellen

Auszug aus BGHSt 40, 257[1]:

„An die Voraussetzungen für die Annahme eines solchen mutmaßlichen Einverständnisses des entscheidungsunfähigen Patienten sind – im Interesse des Schutzes menschlichen Lebens – in tatsächlicher Hinsicht allerdings strenge Anforderungen zu stellen. Entscheidend ist der mutmaßliche Wille des Patienten im Tatzeitpunkt, wie er sich nach sorgfältiger Abwägung aller Umstände darstellt. Hierbei sind frühere mündliche oder schriftliche Äußerungen des Kranken ebenso zu berücksichtigen wie seine religiöse Überzeugung, seine sonstigen persönlichen Wertvorstellungen, seine altersbedingte Lebenserwartung oder das Erleiden von Schmerzen (vgl. BGHSt 35, 246, 249). Objektive Kriterien, insbesondere die Beurteilung einer Maßnahme als gemeinhin ‚vernünftig‘ oder ‚normal‘ sowie den Interessen eines verständigen Patienten üblicherweise entsprechend, haben keine eigenständige Bedeutung; sie können lediglich Anhaltspunkte für die Ermittlung des individuellen hypothetischen Willens sein.
Lassen sich auch bei der gebotenen sorgfältigen Prüfung konkrete Umstände für die Feststellung des individuellen mutmaßlichen Willens des Kranken nicht finden, so kann und muß auf Kriterien zurückgegriffen werden, die allgemeinen Wertvorstellungen entsprechen. Dabei ist jedoch Zurückhaltung geboten; im Zweifel hat der Schutz menschlichen Lebens Vorrang vor persönlichen Überlegungen des Arztes, des Angehörigen oder einer anderen beteiligten Person. Im Einzelfall wird die Entscheidung naturgemäß auch davon abhängen, wie aussichtslos die ärztliche Prognose und wie nahe der Patient dem Tode ist: je weniger die Wiederherstellung eines nach allgemeinen Vorstellungen menschenwürdigen Lebens zu erwarten ist und je kürzer der Tod bevorsteht, um so eher wird ein Behandlungsabbruch vertretbar erscheinen (vgl. BGHSt aaO S. 250).“

Auszug aus BGHZ 154, 205[6]:

„Allerdings kommt die Berücksichtigung eines solchen (individuell-) mutmaßlichen Willens nur hilfsweise in Betracht, wenn und soweit nämlich eine im einwilligungsfähigem Zustand getroffene ‚antizipative‘ Willensbekundung des Betroffenen – mag sie sich als Einwilligung in oder als Veto gegen eine bestimmte medizinische Behandlung darstellen – nicht zu ermitteln ist. Liegt eine solche Willensäußerung, etwa – wie hier – in Form einer sogenannten „Patientenverfügung“, vor, bindet sie als Ausdruck des fortwirkenden Selbstbestimmungsrechts, aber auch der Selbstverantwortung des Betroffenen den Betreuer; denn schon die Würde des Betroffenen (Art. 1 Abs. 1 GG) verlangt, daß eine von ihm eigenverantwortlich getroffene Entscheidung auch dann noch respektiert wird, wenn er die Fähigkeit zu eigenverantwortlichem Entscheiden inzwischen verloren hat. Die Willensbekundung des Betroffenen für oder gegen bestimmte medizinische Maßnahmen darf deshalb vom Betreuer nicht durch einen ‚Rückgriff auf den mutmaßlichen Willen‘ des Betroffenen ‚korrigiert‘ werden, es sei denn, daß der Betroffene sich von seiner früheren Verfügung mit erkennbarem Widerrufswillen distanziert oder die Sachlage sich nachträglich so erheblich geändert hat, daß die frühere selbstverantwortlich getroffene Entscheidung die aktuelle Sachlage nicht umfasst.“

Einzelnachweise

  1. a b c Bundesgerichtshof, Urteil des 1. Strafsenats vom 13. September 1994 – 1 StR 357/94 –, BGHSt 40, 257.
  2. Bundesgerichtshof, Beschluss des XII. Zivilsenats vom 8. Juni 2005 – XII ZR 177/03 –.
  3. Friedhelm Hufen: In dubio pro dignitate. Selbstbestimmung und Grundrechtsschutz am Ende des Lebens. In: Neue Juristische Wochenschrift, 2001, S. 849-857 (853).
  4. a b Bundesverfassungsgericht, Nichtannahmebeschluss der Dritten Kammer des Zweiten Senats vom 30. Januar 2002, – 2 BvR 1451/01 –.
  5. Empfehlungen der Bundesärztekammer und der Zentralen Ethikkommission bei der Bundesärztekammer zum Umgang mit Vorsorgevollmacht und Patientenverfügung in der ärztlichen Praxis
  6. a b Bundesgerichtshof, Beschluss des XII. Zivilsenats vom 17. März 2003 – XII ZB 2/03 –, BGHZ 154, 205.
  7. a b Bundesverfassungsgericht, Nichtannahmebeschluss der Dritten Kammer des Ersten Senats vom 2. August 2001 – 1 BvR 618/93 –.

Siehe auch

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