Neuere Urkundenhypothese

Neuere Urkundenhypothese

Die Neuere Urkundenhypothese ist eine Theorie der historisch-kritischen Bibelwissenschaft über die Entstehung des Pentateuch (der fünf Bücher Mose) im Alten Testament.

Inhaltsverzeichnis

Forschungsgeschichte

Mit der Aufklärung begann in Europa auch die historisch-kritische Erforschung der Bibel. Seit dem 18. Jh. wurde die Bibel nicht mehr nur in ihrer Funktion als geoffenbartes Wort Gottes rezipiert, sondern auch in ihrer Gestalt als historisch gewachsenes Buch wahrgenommen und untersucht. Die historische Kritik räumte ab dem 18. Jahrhundert auf mit der über Jahrhunderte geltenden Vorstellung, Mose sei der Autor des Pentateuch. Vielmehr ist der Pentateuch in einem Jahrhunderte andauernden Wachstumsprozess aus verschiedenen, ehedem selbständigen Quellenschriften entstanden und durch Redaktionen immer wieder überarbeitet worden. Diese Quellenschriften liegen uns heute nicht mehr vor, sondern können nur noch mittels der Methoden der historischen Kritik rekonstruiert werden.

Den Anfang der historischen Kritik am Pentateuch markieren die Beobachtungen des Hildesheimer Pfarrers Henning Bernhard Witter. Er entdeckte in den ersten drei Kapiteln der Genesis eine Doppelüberlieferung. Die Erschaffung der Welt wird hier zweimal nacheinander, mit je unterschiedlichem Schwerpunkt und je unterschiedlichen Gottesbezeichnungen erzählt (einmal in Gen 1,1–2,4a unter Verwendung der Gottesbezeichnung Elohim und ein zweites Mal in Gen 2,4b–3,24 unter Verwendung des Gottesnamens Jahwe). Ebenso finden sich in der Genesis weitere Doppel- und Mehrfachüberlieferungen, etwa in der Sintfluterzählung (Gen 6-8), der Geschichte von der Gefährdung der Ahnfrau (Gen 12; 20 und 26) oder der Ätiologie für das Heiligtum in Bet-El (Gen 12; 28 und 35). Die Beobachtungen Witters wurden lange Zeit nicht rezipiert.

Erst ähnliche Einsichten des Franzosen Jean Astruc, welcher der Leibarzt des französischen Königs Ludwig XV. war, stießen die kritische Forschung am Alten Testament an. Er entdeckte in den Mehrfachüberlieferungen innerhalb des Pentateuchs (vor allem der Genesis) zwei durchlaufende und zwei weitere kürzere, ehedem unabhängige Quellenschriften, die dem jetzigen Text zugrunde liegen. Diese Quellenschriften seien von Mose in vier Kolumnen (Astruc nennt diese Quellen A, B, C und D) zusammengestellt worden.[1] Ein späterer, nachmosaischer Redaktor habe die vier Quellen ineinandergearbeitet.

Vorgeschichte: Ältere Urkundenhypothese

In Deutschland weitete Johann Gottfried Eichhorn die These Astrucs auf den Textkomplex Gen 1 – Ex 2 aus und schied die Quellen in einen vormosaischen Elohist (benannt nach der Verwendung des Gottestitels „Elohim“) und einen nachmosaischen Jehowist (benannt nach der Verwendung des Gottesnamens „Jahwe“).[2] Die Schreibung „Jehowist“ entspricht der damaligen Lesung des Gottesnamens „Jahwe“, der bis ins 19. Jahrhundert irrtümlich als „Jehowa“ gelesen wurde. Karl David Ilgen baute die These Eichhorns weiter aus, indem er noch einen zweiten Elohisten annahm und daher insgesamt drei Quellen unterschied.[3] Forschungsgeschichtlich wurde diese Theorie unter der Bezeichnung Ältere Urkundenhypothese (auch: Quellenhypothese) bekannt.

Neuere Urkundenhypothese

Neuere Urkundenhypothese als Diagramm

Die Neuere Urkundenhypothese wurde in der Forschungsgeschichte der Pentateuchforschung zum bislang bestimmendsten Erklärungsmodell für die Entstehungsgeschichte der fünf Bücher Mose.

Entwickelt wurde die Neuere Urkundenhypothese im ausgehenden 19. Jahrhundert von den Alttestamentlern Karl Heinrich Graf, Abraham Kuenen und vor allem von Julius Wellhausen. Diese Forscher stützten sich zwar auf die Ergebnisse der Älteren Urkundenhypothese, entwickelten aber andere Datierungen und Rekonstruktionen.

Wellhausen unterschied für den gesamten Pentateuch vier Quellen:

  • Jahwist (abgekürzt: J), aus der Zeit um 950 v. Chr.
  • Elohist (abgekürzt: E), aus der Zeit um 800 v. Chr.
  • Priesterschrift (abgekürzt: P), aus der Exilszeit um 550 v. Chr.
  • (Ur-)Deuteronomium (abgekürzt: D), aus dem 7. Jh. v. Chr.

In die jahwistische Quellenschrift (J) arbeitete ein Redaktor (RJE) aus der Zeit unmittelbar nach dem Untergang des Nordreiches Israel im Jahre 722 v. Chr. die elohistische Quelle (E) ein und schuf so das „Jehowistische Geschichtswerk“ (JE). Dieses wurde dann in nachexilischer Zeit wiederum in die Priesterschrift eingearbeitet.[4]

Martin Noth baute die These Wellhausens zu Beginn des 20. Jahrhunderts weiter aus und verhalf ihr durch seine „Überlieferungsgeschichtlichen Studien“ zu langjähriger Geltung und breiter Rezeption in der alttestamentlichen Forschung. Nach Noths Ansicht entstand die jahwistische Quellenschrift um 950 v. Chr. in Kreisen um den Jerusalemer Königshof. Sie erzählt die Geschichte Israels von der Erschaffung der Welt bis zur Auskundschaftung des verheißenen Landes (in den Büchern Genesis bis Numeri).

Obwohl viele der Schlussfolgerungen Wellhausens heute nicht mehr vertreten werden, bleibt seine These ein Meilenstein der alttestamentlichen Forschung.

Fußnoten

  1. Vgl. Astruc, Conjectures, S. 143f.
  2. Vgl. Eichhorn, Einleitung III, S. 22f.
  3. Vgl. Ilgen, Urkunden, S. 393f.
  4. Vgl. Wellhausen, Prolegomena, S. 8.

Literatur

  • Henning Bernhard Witter: Jura Israelitarum in Palaestinam terram Chananaeam, commentatione perpetua in Genesin demonstrata. Hildesheim 1711.
  • Jean Astruc: Conjectures sur les mémoires originaux, dont il paroit que Moyse s'est servi pour composer le livre de la Genèse. Bruxelles 1753.
  • Johann Gottfried Eichhorn: Einleitung in das Alte Testament. 3 Bände Leipzig 1780-1783.
  • Karl David Ilgen: Die Urkunden des jerusalemischen Tempelarchivs in ihrer Urgestalt. Band 1: Die Urkunden des ersten Buchs von Moses in ihrer Urgestalt. Halle 1798.
  • Julius Wellhausen: Die Composition des Hexateuchs und der historischen Bücher des Alten Testaments. Berlin 1876.
  • Julius Wellhausen: Prolegomena zur Geschichte Israels. Berlin 1878.
  • Martin Noth: Überlieferungsgeschichtliche Studien. Teil 1: Die sammelnden und bearbeitenden Geschichtswerke im Alten Testament (Schriften der Königsberger Gelehrten Gesellschaft, Geisteswissenschaftliche Klasse 18,2). Halle: Niemeyer 1943.
  • Martin Noth: Überlieferungsgeschichte des Pentateuch. Stuttgart: Kohlhammer 1948.

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