Obdachlosendiskriminierung

Obdachlosendiskriminierung

Obdachlosendiskriminierung bezeichnet die Diskriminierung von Obdachlosen, welche Abwertung, Ausgrenzung und körperliche Gewalt bis zu Mord umfasst. Neben Taten von Außenstehenden findet auch gegenseitige Diskriminierung von Obdachlosen statt.

Inhaltsverzeichnis

Milieu der Gewalt und der sozialen Nacktheit

Ein Obdachloser in Paris

Lionel Thelen spricht von einem Milieu der Gewalt bereits innerhalb der obdachlosen Szene und identifiziert dieses als wesentliches negativ stabilisierendes Element. Dieser radikale Prozess führe zu einer emotionalen Stumpfheit und Entpersonalisierung. Thelen spricht von ‚sozialer Nacktheit‘ wie vom „l'exil de soi“, dem Exil vom Selbst oder einem „Neben sich stehen“, welches die Persönlichkeit schwäche und die Rückholung in die Gesellschaft und die Arbeit von sozialen Institutionen erheblich erschwere.[1] Thelens Beobachtungen in Portugal und Spanien zufolge würden Obdachlose mit einem zusätzlichen Schutz – einer Paarbeziehung oder schlicht einem Hund – gerade von anderen Obdachlosen ohne solche Protektion feindlich behandelt.

Externe Kriminalisierung von Obdachlosen

Anatole France sprach bereits 1894 von einer rechtlichen Diskriminierung, wörtlich „Das Gesetz in seiner erhabenen Gerechtigkeit verbietet es den Reichen in gleicher Weise wie den Armen unter einer Brücke zu schlafen“.[2]

Obdachlosenverfolgung im Nationalsozialismus

Hauptartikel: Asoziale (Nationalsozialismus)

Der Höhepunkt der Obdachlosendiskriminierung wurde im Nationalsozialismus erreicht. Ab 1933 wurde mit der Verfolgung von sogenannten „Arbeitsscheuen“ und sogenannten „Asozialen“ begonnen. Zu dieser in der modernen Forschung als Heterophobie gekennzeichneten Stigmatisierung zählten neben Sinti, Roma und Prostituierten auch Obdachlose. Ab 1937 wurden Personen, die als „asozial“ galten, in Konzentrationslager eingewiesen. Nach Verlautbarung der Rassenhygienischen und bevölkerungspolitischen Forschungsstelle im Reichsgesundheitsamt waren asoziale Charaktereigenschaften angeblich vererbbar, daher wurde viele Obdachlose zwangssterilisiert.

Mit den „Bettlerwochen“ von 1933 und der Aktion Arbeitsscheu Reich wurden 1938 weit über 10.000 als „asozial“ bezeichnete Personen in Konzentrationslager verschleppt.[3][4]

Rund 10.000 Obdachlose wurden während der Zeit des Nationalsozialismus als „Nichtsesshafte“ in Konzentrationslager zwangseingewiesen.[5] An ermordete homosexuelle Obdachlose aus dieser Zeit erinnern in Hamburg Stolpersteine vor der Unterkunft für die Nacht (Pik As).

Kriminalisierung von Obdachlosen in der DDR

In der DDR wurde der Umgang mit „Asozialität“ bzw. „krimineller asozialer Lebensweise“ 1968 in § 249 des Strafgesetzbuchs geregelt.[6] Als Begründung wurde angegeben, dass Asozialität eine Quelle der Kriminalität wäre. Nichtarbeit wurde als "Parasitentum" und "permanente Entwendung von Volksvermögen" eingestuft.[7] Darüber hinaus existierten etliche Dienstanweisungen zum Umgang mit „Asozialen“. Gefährdet waren Menschen, welche die „Entwicklungsgesetze der sozialistischen Gesellschaft unvollständig oder gar nicht widerspiegeln, […] indem sie bummeln, kränkeln [sic], aktiv den Prozess der Tätigkeit stören.“

Erziehung und Strafe bei der Verfolgung von nicht gesellschaftskonformem Verhalten stellte in der DDR somit einen rechtlichen und ordnungspolitischen Komplex dar, der im bundesrepublikanischen Recht so nicht existierte und existiert.[8]

Kriminalisierung von Obdachlosen in den USA

Der gemeinsame Bericht A Dream Denied: The Criminalization of Homelessness in U.S. Cities[9] der National Coalition for the Homeless und des National Law Center on Homelessness & Poverty konstatierte 2006 eine zunehmende Kriminalisierung von Obdachlosen in den Städten der Vereinigten Staaten. Hier wurde zusammengetragen, dass zunehmend Obdachlose für das Schlafen, Essen, Sitzen und Betteln in der Öffentlichkeit kriminalisiert würden und "Herumlungern" ("Loitering") durch Ordnungskräfte sanktioniert werde.[10]

Obdachlosenabwertung

In Deutschland wird mit dem Forschungsprojekt Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit die Abwertung von Obdachlosen jährlich gemessen. Abwertung von Obdachlosen meint hier die „Feindseligkeit gegenüber jenen Menschen, die den Vorstellungen von einem geregelten bürgerlichem Dasein nicht entsprechen.“[11]

Zum Thema Abwertung der Obdachlosen sagten 2007 38,8 % der Befragten, dass ihnen Obdachlose in Städten unangenehm seien (2005: 38,9 %). Der Aussage, Obdachlose seien arbeitsscheu, stimmten 32,9 % zu (2005: 22,8 %). Der Forderung, bettelnde Obdachlose sollten aus den Fußgängerzonen entfernt werden, schlossen sich 34 % der Befragten an (2005: 35 %). Insgesamt sei die Abwertung von Obdachlosen gegenüber 2005 gestiegen. [12]

Wilhelm Heitmeyer mutmaßt, dass die zunehmende Abwertung von Obdachlosen mit einer Verschiebung der Marktwirtschaft zur Marktgesellschaft und damit einer Ökonomisierung des Sozialen zusammenhänge, der zur Folge Menschen stärker nach dem Kriterium der Nützlichkeit betrachtet werden, was wiederum zur Abwertung der als „nutzlos“ empfundenen Obdachlosen beitrage:

Ökonomistischen Bewertungskriterien können neben den Langzeitarbeitslosen weitere Gruppen zum Opfer fallen, die nur einen geringen oder gar keinen Beitrag zur Effizienzsteigerung der Marktgesellschaft beitragen. Letzteres gilt insbesondere für jene Personen, die in der Sozialhierarchie noch unter den Langzeitarbeitslosen stehen und deren Arbeitsmoral als noch geringer geschätzt wird: die Obdachlosen.[13]

Gewalt gegen Obdachlose

Gewalt gegen als obdachlos wahrgenommene Personen in den Vereinigten Staaten
Jahr/Grad der Gewalt 1999 2000 2001 2002 2003 2004 2005 2006
Tödliche Gewalt 48 42 17 15 9 25 13 20
Nicht-tödliche Gewalt 12 21 35 21 61 80 73 122
(National Coalition for the Homeless: Hate, Violence, and Death on Main Street USA: A Report on Hate Crimes and Violence Against People Experiencing Homelessness 2006[5])

Medien berichteten mehrfach über Gewalt gegenüber Obdachlosen.[14] Eine offizielle Statistik über Gewalt gegen Obdachlose wird in der Bundesrepublik Deutschland nicht geführt. Eine Auswertung der gemeldeten Straftaten zeigt, dass es sich bei den Tätern oftmals um kleine Gruppen von Jugendlichen mit rechtsextremem Hintergrund handelt.[15] Dies war 2001 Anlass für eine Anfrage der PDS an die deutsche Bundesregierung.[16] Aufgrund von öffentlicher Kritik werden seit dem Jahr 2001 offiziell die Übergriffe gegen Obdachlose als Politisch motivierte Kriminalität und Hasskriminalität gewertet.[17] In den Vereinigten Staaten hat nach Angaben der National Coalition for the Homeless vom Februar 2007 die in Berichten erfasste Gewalt (Hate Crime) gegen Obdachlose extrem zugenommen. Auffallend sei, dass es sich bei den Tätern oftmals um Teenager oder junge Erwachsene handele, die als Grund für ihr kriminelles Handeln ihre Langeweile angäben.[18]

Der amerikanische Kriminologe und Hate-Crime-Experte Brian Levin der California State University, San Bernardino führte an, dass sich die auf Hate-Crime zurückzuführende Morde gegen Obdachlose in nichts unterschieden gegenüber anderen Hate-Crime-Morden, außer, dass es hiervon sehr viel mehr gäbe. In einem Bericht heißt es, dass zwischen 1999 and 2005 82 Menschen in den Vereinigten Staaten ermordet wurden aufgrund ihrer „Rasse“, Ethnizität oder religiöser oder sexueller Orientierung. Diese Zahlen gehen auf das FBI zurück, welches seit 1990 eine Statistik über sogenannte „Hass-Verbrechen“ Hate Crime führen. Die „National Coalition for the Homeless“ führte an, dass im selben Zeitraum 169 Wohnungslose ermordet wurden. [19]

Diskriminierung von Straßenkindern

Straßenkinder sind in besonderer Weise der Diskriminierung ausgesetzt. Oft sind die Kinder und Jugendlichen Opfer von Misshandlung und sexualisierter Gewalt, müssen mitarbeiten, weil ihre Eltern zu wenig verdienen, können nicht zur Schule gehen, um bessere Jobs zu kriegen usw.

In lateinamerikanischen Ländern wie Honduras werden jugendliche Straßenkinder von Todesschwadronen ermordet. Asma Jahangir, Sonderbeauftragte der UN, kam zu der vorläufigen Einschätzung, dass in Honduras eine z.T. lebensgefährliche Diskriminierung gegenüber Strassenkindern und -jugendlichen vorhanden ist.[20]

Medien

  • Imiti Ikula – Ein Mädchen kämpft gegen die Diskriminierung von Straßenkindern, Regie: Sampa Kangwa, Simon Wilkie, Sambia 2001 [6]

Literatur

Weblinks

Einzelnachweise

  1. Thelen, Lionel (2006), L'exil de soi. Sans-abri d'ici et d'ailleurs, Bruxelles, Publications des Facultés Universitaires Saint-Louis.
  2. France, Anatole (1894). „VII“, „Le lys rouge“: « Ils y doivent travailler devant la majestueuse égalité des lois, qui interdit au riche comme au pauvre de coucher sous les ponts ».
  3. Detlef Baum: Die Stadt in der sozialen Arbeit – Ein Handbuch für soziale und planende Berufe, 2007, Seite 164 und 165
  4. Ulrich Sondermann-Becker: „Arbeitsscheue Volksgenossen“ – Evangelische Wanderfürsorge im „Dritten Reich“ in Westfalen – Eine Fallstudie, Bielefeld, 1995, Seite 55
  5. Wohnungslose in der Nazizeit verfolgt. In: Hamburger Abendblatt vom 16. August 2008, S. 16 über die Ausstellung „Wohnungslose im Nationalsozialismus“
  6. § 249 StGB der DDR vom 12. Januar 1968, auch in der Neufassung vom 4. Dezember 1988 (GBl. 1989 Nr. 3, S. 33) lautete: Abs. I: Wer das gesellschaftliche Zusammenleben der Bürger oder die öffentliche Ordnung und Sicherheit beeinträchtigt, indem er sich aus Arbeitsscheu einer geregelten Arbeit entzieht, obwohl er arbeitsfähig ist, wird mit Verurteilung auf Bewährung, Haftstrafe oder mit Freiheitsstrafe bis zu zwei Jahren bestraft. Abs. II: Ebenso wird bestraft, wer der Prostitution nachgeht oder in sonstiger Weise die öffentliche Ordnung und Sicherheit durch asoziale Lebensweise beeinträchtigt.
  7. Erich Buchholz: Strafrecht, in: Uwe-Jens Heuer: Die Rechtsordnung der DDR – Anspruch und Wirklichkeit, Baden-Baden, 1995, Seite 316
  8. Matthias Zeng, Landesbeauftragter des Freistaates Thüringen für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der Ehemaligen DDR: "Asoziale" in der DDR: Transformationen einer moralischen Kategorie, Seite 35
  9. The National Coalition for the Homeless and The National Law Center on Homelessness & Poverty: A Dream Denied: The Criminalization of Homelessness in U.S. Cities, Januar 2006 [1]
  10. The National Coalition for the Homeless and The National Law Center on Homelessness & Poverty: A Dream Denied: The Criminalization of Homelessness in U. S. Cities, Januar 2006, S. 79 ff.
  11. Wilhelm Heitmeyer/Jürgen Mansel 2008: Gesellschaftliche Entwicklung und Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit: Unübersichtliche Perspektiven, in: Deutsche Zustände Bd. 6, S. 19
  12. ebd.: S. 28
  13. Wilhelm Heitmeyer/Kirsten Endrikat: Die Ökonomisierung des Sozialen. Folgen für „Überflüssige“ und „Nutzlose“, in: Deutsche Zustände Bd. 6, S. 68
  14. Jugendliche filmen ihre Gewalt gegen Obdachlose. Presseportal Polizei Köln, 8. Januar 2008, abgerufen am 5. März 2008.
  15. Christian Linde: „Obdachlose“ als Opfer struktureller, direkter und vierter Gewalt, in: Berliner Forum Gewaltprävention Nr. 16 [2]
  16. Rechtsextrem motivierte Tötungsdelikte gegen Obdachlose und deren Erfassung – Kleine Anfrage der Abgeordneten Ulla Jelpke und der Fraktion der PDS. In: Drucksache 14/6870. 4. September 2001, abgerufen am 16. Februar 2008 (PDF).
  17. Periodischer Sicherheitsbericht des BMI 2006, S.138; download von Kapitel 3.2 (Hinweis, die Quellenreferenz dort auf S.134 ist falsch: Nicht S. 210, sondern Pkt. 2.10 auf S.263)
  18. National Coalition for the Homeless: Hate, Violence, and Death on Main Street USA: A Report on Hate Crimes and Violence Against People Experiencing Homelessness 2006[3]
  19. Attacks on homeless soaring. Todd Lewan, AP, 8. April 2007, abgerufen am 5. März 2008.
  20. Erika Harzer: Honduras. Terror gegen die Maras – Hinrichtungen von Jugendlichen bleiben straffrei [4]

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