- Wilhelm Heitmeyer
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Wilhelm Heitmeyer (* 28. Juni 1945) ist Professor für Pädagogik mit dem Schwerpunkt Sozialisation und Direktor des Instituts für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung an der Universität Bielefeld.
Inhaltsverzeichnis
Leistungen
Heitmeyers Forschungsinteresse gilt seit 1982 Rechtsextremismus, Gewalt, Fremdenfeindlichkeit, ethnisch-kulturellen Konflikten, sozialer Desintegration und seit einigen Jahren der so genannten Gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit. Heitmeyer gründete 1996 das Institut für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung und leitet es seitdem. Gemeinsam mit Douglas Massey, Steven Messner, James Sidanius und Michel Wieviorka gibt er das International Journal of Conflict and Violence heraus. Die zentrale These, die Heitmeyer in seinem Werk vertritt, ist das sogenannte Desintegrationstheorem, das er gemeinsam mit Reimund Anhut in den 1990er Jahren entwickelt hat. Es ist auch als "Bielefelder Desintegrationsansatz" in den Sozialwissenschaften bekannt und bildet die theoretische Basis für das Syndrom der Gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit. Unter Desintegration werden die nicht eingelösten Leistungen gesellschaftlicher Institutionen und Gemeinschaften verstanden, die in der Gesellschaft zur Sicherung der materiellen Grundlagen, der sozialen Anerkennung und der persönlichen Unversehrtheit dienen. Die Grundthese des Theorems lautet, dass mit dem Grad der Desintegrationserfahrungen und -ängste auch das Ausmaß und die Intensität der genannten Konflikte zu- und ihre Regelungsfähigkeit abnimmt. Hierbei besteht aber kein direkter Zusammenhang zwischen der gesellschaftlichen Makro- und Mikro-Ebene, sondern es sind milieuspezifische Brechungsfaktoren dazwischen geschaltet.
Das Konzept enthält drei Dimensionen von Lebenssphären und ist unterteilt in zwei Ebenen, eine objektive (Teilhabe etc.) und eine subjektive, der Anerkennung. Man versteht im Desintegrationsansatz unter sozialer bzw. gesellschaftlicher Integration von Individuen und Gruppen ein gelungenes Verhältnis von Freiheit und Bindung, in dem drei spezifische Problemstellungen in adäquater Weise gelöst werden:
- In der sozialstrukturellen Dimension muss die Teilhabe an materiellen Gütern (Arbeits-, Wohnungs- und Konsummärkte) zur Sicherung der Reproduktion sein. Dies ist die individuell-funktionale Systemintegration und erzeugt die Chancen auf positionale Anerkennung.
- In der institutionellen Dimension, als Vergesellschaftung muss der Ausgleich zwischen konfligierenden Interessen (Fairness, Gerechtigkeit, demokratisch-rechtsstaatliche Verfahren) gesichert sein. Dies ist die kommunikativ-interaktive Sozialintegration und stellt die Chancen zur moralischen Anerkennung dar.
- In der personalen Dimension, der Ebene der Vergemeinschaftung, muss die Herstellung emotionaler, expressiver Beziehungen, Sinnstiftung und Selbstverwirklichung gesichert sein. Dies ist die kulturell-expressive Sozialintegration und stellt Chancen zur emotionalen Anerkennung dar.
Der Desintegrationsansatz thematisiert die Herstellung sozialer Integration auf freiwilliger Basis, die in modernen Gesellschaften üblicherweise über Interessensausgleich, Anerkennung und Konsensbildung erfolgt, bzw. erfolgen kann. Damit unterscheidet sich diese Form der Integration von früheren Formen, die häufig auf unfreiwilligen Mechanismen, Zwang und Konformitätsdruck beruhten. Verschiedene Prozesse verschärfen die Integrationsproblematik in modernen westlichen Gesellschaften:
- In der sozialstrukturellen Dimension vermindert soziale Polarisierung die Zugangschancen des Einzelnen zu den unterschiedlichen gesellschaftlichen Teilsystemen. Die Individualisierung erhöht zwar die Freiheit des Einzelnen, gleichzeitig wächst aber auch der Druck sich selbst z.B. auf dem Arbeitsmarkt zu platzieren. Sinkt nun die Wahrscheinlichkeit des Erfolgs auf dem Arbeitsmarkt führt dies bei den Verlierern zu Frustration. Es wird ihnen keine positionale Anerkennung mehr zuteil. Wettbewerb, Ökonomisierung, Konkurrenzdenken und Konsumorientierung fördern eigennutzorientiertes Verhalten (Sich-Durchsetzen, soziale Distinktion und Ausgrenzung).
- In der institutionellen Dimension führt die politische Machtlosigkeit zu einem Rückzug aus öffentlichen Angelegenheiten wie die Beteiligung an der Sicherung von Kernnormen wie Gerechtigkeit, Solidarität und Fairness. Damit geht dann ein Verlust moralischer Anerkennung einher.
- In der sozioemotionalen Ebene führt ambivalente Individualisierung zu einer Destabilisierung von Paarbeziehungen, familiärer Desintegration und gefährdet dadurch die Sozialisation von Kindern (erhöhtes Konfliktpotential, emotionale Überforderung der Eltern), sichtbar auch im Verlust emotionaler Anerkennung.
Schriften (Auswahl)
- Rechtsextremistische Orientierungen bei Jugendlichen. Weinheim/München 1987.
- Die Bielefelder Rechtsextremismus-Studie. Erste Langzeituntersuchung zur politischen Sozialisation männlicher Jugendlicher. Weinheim/München 1992.
- (zus. m. J. Müller, H. Schröder): Verlockender Fundamentalismus. Türkische Jugendliche in Deutschland. Frankfurt a. M. 1997.
- (zus. m. R. Anhut): Desintegratin, Konflikt und Ethnisierung. Eine Problemanalyse und theoretische Rahmenkonzeption. In: W. Heitmeyer & R. Anhut, Bedrohte Stadtgesellschaft. Soziale Desintegrationsprozesse und ethnisch-kulturelle Konfliktkonstellationen. Juventa, Weinheim/München 2000.
- (Hrsg. zus. mit D. Loch): Schattenseiten der Globalisierung. Rechtsradikalismus, Rechtspopulismus und Regionalismus in Westeuropa. Frankfurt a.M. 2001.
- (zus. mit John Hagan): Internationales Handbuch der Gewaltforschung. Westdeutscher Verlag, Wiesbaden 2002.
- Deutsche Zustände. Folge 1. Suhrkamp, Frankfurt a. M. 2002.
- (zus. mit John Hagan): The International Handbook of Violence Research. Kluwer Academic Publishers, Dordrecht 2003.
- Deutsche Zustände. Folge 2. Suhrkamp, Frankfurt a. M. 2003.
- Deutsche Zustände. Folge 3. Suhrkamp, Frankfurt a. M. 2005.
- (Hrsg. zus. mit Peter Imbusch): Integrationspotenziale einer modernen Gesellschaft. VS Verlag, Wiesbaden 2005.
- Deutsche Zustände. Folge 4. Suhrkamp, Frankfurt a. M. 2006, ISBN 3-518-12454-4, (taz-Rezension, 16. Dezember 2005)
- Deutsche Zustände. Folge 5. Suhrkamp, Frankfurt a. M. 2006, ISBN 3-518-12484-6.
- Deutsche Zustände. Folge 6. Suhrkamp, Frankfurt a. M. 2007, ISBN 978-3-518-12525-0.
- Deutsche Zustände. Folge 7. Suhrkamp, Frankfurt a. M. 2008, ISBN 978-3-518-12552-6.
- Deutsche Zustände. Folge 8. Suhrkamp, Frankfurt a. M. 2009, ISBN 978-3-518-12602-8.
- Deutsche Zustände. Folge 9. Suhrkamp, Frankfurt a. M. 2010, ISBN 978-3-518-12616-5.
Aufsätze (Auswahl)
- Süchtig nach Anerkennung Die prekäre Normalität: Wer nicht auffällt, wird nicht wahrgenommen - ist ein Nichts. In: Die Zeit. 19/2002.
- Die verstörte Gesellschaft. In weiten Teilen der Bevölkerung wächst die Orientierungslosigkeit. In: Die Zeit. Nr. 51, 15. Dezember 2005, S. 24.
- Moralisch abwärts im Aufschwung. In: Die Zeit. Nr. 51, 13. Dezember 2007.
- Rechtsextremistische Gewalt von Jugendlichen. In: APuZ. 37/2007
Literatur (Auswahl)
- „Der die Gewalt erklärt. Der Soziologe Wilhelm Heitmeyer erforscht die schwarzen Seiten der Moderne“, Die Zeit, 2. November 2006, Nr. 45
- „Das sind Zustände!“ FAZ, 15. Dezember 2006
Interviews (Auswahl)
- "Du Opfer!" Sebastian B. und andere "Verlierer". Ein Gespräch mit Wilhelm Heitmeyer über einen heiklen Begriff.“ Mit Sonja Zekri, Süddeutsche Zeitung, 22. November 2006
- Amokläufer an Schulen - "Es geht um das Töten an sich" ZEIT ONLINE 11. März 2009
- Interview mit Wilhelm Heitmeyer über sein Projekt „Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit.“ S. 12f In: Bundeszeitung der GEW, Ausgabe Juni 2005 (PDF-Datei; 1,26 MB)
- "Ausschreitungen in Frankreich: Anerkennung durch Gewalt" Interview von Isabelle Demey (SWR) mit Konfliktforscher Prof. Dr. Wilhelm Heitmeier, 11.November 2005
- "Wir brauchen Unruhe in Ostdeutschland" (nicht mehr online verfügbar)
Weblinks
- Literatur von und über Wilhelm Heitmeyer im Katalog der Deutschen Nationalbibliothek
- Homepage Heitmeyers an der Universität Bielefeld
Kategorien:- Erziehungswissenschaftler
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