Origo gentis

Origo gentis

Als eine Origo gentis wird in der mediävistischen Forschung die Herkunftsgeschichte einer antiken bzw. mittelalterlichen gens verstanden.[1]

Inhaltsverzeichnis

Inhalt und historische Funktion der Origines

Die Origo gentis stellt keine eigene literarische Gattung dar, sondern ist Bestandteil teilweise recht umfangreicher Werke, die beispielsweise die Geschichte der jeweiligen gens beschreiben. Ebenso können sie aber auch Bestandteil von Heldenepen oder Biografien sein.[2] In den Origines wurden zahlreiche zumeist fiktive, oft topisch geprägte Elemente vermischt. Im Mittelpunkt der Erzählung steht der Herkunftsmythos des jeweiligen gentilen Verbandes (etwa der Goten, Langobarden, Angelsachsen oder Franken), der zumeist anfangs mündlich überliefert und erst später schriftlich niedergelegt und mit Elementen antiken Bildungsguts angereichert wurde. Neben einer mythisch verklärten Herkunftssage wurden in der Regel auch besondere und für die gens „typische“ sittliche und charakterliche Eigenschaften angeführt. Oft wurde dabei topisch als Ursprung Skandinavien angegeben,[3] da dies die Möglichkeit bot, faktisch nicht nachprüfbare Genealogien zu konstruieren. Ein uralter Stammbaum (wie der wohl fiktive der Amaler) konnte so zusätzliche Legitimität verschaffen.

„Wandersagen“ spielten in einer Origo oft eine wichtige Rolle: Eine gens wandert aus und erreicht schließlich ein anderes Land, von dem (zumeist mit Gewalt) Besitz ergriffen wird. Obwohl bisweilen ein historischer Kern vorhanden ist (wie bei der Einwanderung der Angelsachsen nach Britannien), beinhalten andere hingegen offenbar meist rein fiktive Erzählungen.[4] Dies gilt beispielsweise für eine angeblich „trojanische Abstammung“ oder (wie inzwischen die Mehrheit der Forschung annimmt) bei den Goten für ihre Herkunft aus Skandinavien, wofür archäologische Belege fehlen. Die Schilderung der Herkunft der Goten in den Getica des Jordanes (der sich auf die verlorene Gotengeschichte Cassiodors gestützt hat) wird heute meistens als topisch-ethnographische Erzählung aufgefasst, in der zahlreiche fiktive Elemente einflossen.[5] Ein recht häufiges Motiv einer Origo war außerdem die sogenannte „primordiale Tat“. Dabei handelte es sich um ein zentrales Ereignis einer gens, wie ein bedeutender Sieg, die Überschreitung eines Gewässers, ein angeblich seit Urzeiten existierendes Königtum göttlichen Ursprungs etc. Kerngedanke war eine identitätsstiftende Tat bzw. Etablierung einer „neuen Ordnung“, die für die gens fortan galt.

Die Origo konnte als wichtiges Verbindungselement innerhalb einer gens dienen, der die ethnisch ansonsten inhomogenen Verbände zusammenhalten konnte bzw. erst identitätsstiftend wirkte (siehe auch Völkerwanderung). So wurden diese polyethnischen Verbände durch die Herkunftsgeschichte zu einer ideellen Einheit verbunden. Dies spielte eine wichtige Rolle im diffizilen Prozess der spätantiken und mittelalterlichen Ethnogenese, wobei die Verfasser der schriftlichen Darstellungen in der Regel gut gebildet waren und oft Kenntnisse der antiken Ethnographie hatten. Beispiele bekannter Herkunftsgeschichten sind etwa die bereits erwähnten Getica des Jordanes (der damit den Goten einen vielen anderen antiken Völkern vergleichbare Geschichte verschaffte) oder die Origo Gentis Langobardorum. Den bei den Römern durch Vergils Aeneis popularisierten Trojamythos machten sich die Franken zu eigen. Nach dem Kirchenhistoriker Beda Venerabilis wiederum waren die Sachsen vom britischen König Vortigern nach Britannien gerufen worden und sollen dort mit drei Schiffen unter dem Brüderpaar Hengist und Horsa gelandet sein.

Wichtige Arbeiten zu diesem Thema stammen vor allem von Herwig Wolfram und von seinem Schüler Walter Pohl. Beide betonen, dass moderne Vorstellungen von „Ethnizität“ keinesfalls auf antike und mittelalterliche gentes übertragbar sind. Allerdings sind die darauf beruhenden Schlüsse nicht unumstritten, siehe z. B. die Arbeiten von Walter Goffart. Goffart steht etwa dem Ansatz sehr kritisch gegenüber, dass es Gemeinsamkeiten in Werken gibt, die sich mit den Herkunftsgeschichten befassen.[6] Vielmehr habe jeder Autor mit seiner Darstellung einen eigenen Zweck verfolgt.[7]

Urheimat-Forschung als moderne Form der origo-gentis-Fragestellung

Die moderne vergleichende Sprachwissenschaft konnte in vielen Fällen den gemeinsamen Ursprung von geographisch weit auseinanderliegenden Sprachen - etwa Latein und Sanskrit - nachweisen. Die Entwicklung verwandter Sprachen vollzieht sich nach einem verbreiteten Modell näherungsweise in Form einer Baumstruktur. Dieser linguistische Befund hat bereits im 19. Jahrhundert die Frage nach dem ursprünglichen Verbreitungsgebiet der entsprechenden Protosprachen aufkommen lassen, die in mehreren Fällen mit linguistischen und archäologischen Methoden näherungsweise auch beantwortbar war (vgl. Urheimat). Ihrer Fragestellung nach entsprechen diese Forschungen weitgehend den antiken und mittelalterlichen Origo-gentis-Überlegungen. Seitens der Linguistik wird heute indes nahezu einhellig akzeptiert, dass Sprachgemeinschaften selten homogen sind und oft keine gemeinsame ethnische oder nationale Identität hatten.[8]

Literatur

Anmerkungen

  1. Der Begriff gens hat den Vorzug, direkt aus den Quellen zu stammen, womit nach modernem Verständnis sowohl „Stamm“ als auch „Volk“ gemeint sein kann.
  2. Wolfram u.a., in: RGA, S. 174f.
  3. Vgl. etwa Plassmann, Origo gentis, S. 207f.
  4. Plassmann, Origo gentis, S. 360f.
  5. Vgl. zusammenfassend Arne Sǿby Christensen: Cassiodorus, Jordanes and the History of the Goths. Studies in a Migration Myth. Museum Tusculanum Press, Kopenhagen 2002, besonders S. 250ff.
  6. Vgl. Goffart, The Narrators of Barbarian History, 1988.
  7. Vgl. zur Diskussion zusammenfassend Plassmann, Origo gentis, S. 16ff.
  8. Wolfram Euler, Konrad Badenheuer: Sprache und Herkunft der Germanen - Abriss des Protogermanischen vor der Ersten Lautverschiebung. ISBN 978-3-9812110-1-6, London/Hamburg 2009, S. 43–50.

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