Cassiodor

Cassiodor
Flavius Magnus Aurelius Cassiodorus Senator

Cassiodor (* um 485 in Scylaceum, Bruttium; † um 580 im Kloster Vivarium bei Scylaceum), mit vollständigem Namen Flavius Magnus Aurelius Cassiodorus Senator – selbst nannte er sich zumeist Senator –, war ein spätantiker römischer Staatsmann, Gelehrter und Schriftsteller.

Inhaltsverzeichnis

Leben

Cassiodor stammte aus einer angesehenen Familie der römischen Senatsaristokratie, die vor seiner Zeit bereits in Rom und Konstantinopel Senatoren gestellt hatte. Die Familie, deren Ursprünge im syrischen Osten des Imperiums lagen und die es zu beträchtlichem Reichtum brachte, besaß später in Süditalien (bei Squillace, Kalabrien) umfangreiche Ländereien. Der Urgroßvater, der Großvater und auch der Vater, die alle ebenfalls Cassiodorus hießen, bekleideten – wie später er selbst – hohe Staatsämter. Ein Fragment aus einem verlorenen Werk Cassiodors, das so genannte Anecdoton Holderi, beschreibt in knapper Form seinen Werdegang.

Cassiodors Urgroßvater hatte sich um die Verteidigung der Küsten Siziliens und Unteritaliens gegen die Kriegsflotten des in Karthago residierenden Vandalenkönigs Geiserich verdient gemacht. Der Großvater desselben Namens war Tribun unter Valentinian III. gewesen; er hatte mit Aetius zusammengearbeitet und war gemeinsam mit dessen Sohn Carpilio als Unterhändler zu Attila gesandt worden, als dieser Italien bedrohte. Cassiodors Großvater zog sich später nach Bruttium ins Privatleben zurück, wo die Familie ihre Ländereien besaß.

Nachdem bereits sein Vater nacheinander Odoaker und dem Ostgotenkönig Theoderich gedient hatte, wurde Cassiodor im Jahr 507 in unverhältnismäßig jungen Jahren zum quaestor sacri palatii im italischen Ostgotenreich ernannt. In dieser Funktion war er verantwortlich für die Abfassung der amtlichen Schreiben in stilisierter lateinischer Kanzleisprache. Er fungierte noch in anderen hohen Ämtern, so als corrector Lucaniae et Bruttiorum und als magister officiorum (523 bis 527). All diese spätrömischen Ämter waren, da die staatliche Infrastruktur intakt geblieben war, auch von den Ostgoten nach ihrer Eroberung Italiens (ab 489) beibehalten worden. Vereinzelt gab es Spannungen zwischen Goten und Römern. Cassiodor setzte sich dabei maßgeblich für die Aussöhnung zwischen beiden Gruppen ein. 514 war er zudem consul ordinarius. Nach Theoderichs Tod 526 leitete Cassiodor unter der Regentschaft von dessen Tochter Amalasuntha die Zivilverwaltung Italiens als praefectus praetorio und patricius (533 bis 537). Nach dem Beginn der oströmischen Wiedereroberung Italiens (siehe Justinian I. und Gotenkrieg) und den Thronwirren nach König Athalarichs Tod zog er sich etwa um 540 von den Staatsgeschäften zurück. Er hielt sich längere Zeit in Ravenna und Konstantinopel auf. Seinen mit Papst Agapit abgestimmten Plan, eine theologische Hochschule in Rom zu gründen, konnte er nicht verwirklichen.

Als nahezu Siebzigjähriger gründete er 554 auf seinen väterlichen Erbgütern am Strand des Meerbusens des heutigen Orts Squillace in Kalabrien das Kloster Vivarium (richtiger: Monasterium Vivariense, wie es von Cassiodor selbst genannt wurde), das seinen Namen den zahlreichen Fischbecken verdankte, die dort in den Felsen ausgehöhlt worden waren. Einerseits wurde in der älteren Literatur angenommen, er sei selbst als Mönch in das Kloster eingetreten und dort Abt geworden. Diese Annahme stützt sich auf schriftliche Äußerungen Cassiodors, die zwar in diesem Sinne interpretierbar sind, jedoch keine sichere und eindeutige Schlussfolgerung zulassen. Er spricht wiederholt von seiner conversio, die nach Beendigung seiner politischen Laufbahn eingetreten sei. Im Vorwort zu seinem großen Psalterkommentar heißt es: „Möge Gott uns die Gnade erweisen, dass wir den Acker unseres Herrn, unermüdlichen Zugtieren gleich, mit der Pflugschar der Observanz und der klösterlichen Übungen durchfurchen“. Auch nennt er die Klosterbrüder mehrfach „meine Mönche“ (monachi mei). Außerdem ist bekannt, dass er es den Mönchen zur Pflicht gemacht hatte, von ihm selbst gesammelte Handschriften abzuschreiben, wodurch er zum Retter bedeutender Schriften wurde.[1] Demzufolge müsste er gegenüber den Mönchen weisungsberechtigt gewesen sein. Passagen seiner Werke lassen aber auch die Schlussfolgerung zu, dass er außerhalb des Klosters gewohnt haben könnte. So unterscheidet er deutlich zwischen seiner Privatbibliothek und der Klosterbibliothek. In der neueren Forschung hat sich die Auffassung durchgesetzt, Cassiodor sei nie Abt oder Mönch gewesen.[2] Mit der Klostergründung, die sich an den monastischen Schriften des Johannes Cassianus orientierte, verfolgte Cassiodor das Ziel, dem weströmischen Mönchtum eine ähnlich gut ausgearbeitete theologische Grundlage zu geben, wie sie das oströmische bereits besaß.

Werke und Bedeutung

Am Ende der Spätantike waren große Teile der antiken lateinischen Literatur bereits verloren. Als herausragende Leistung Cassiodors wird angesehen, dass er – neben Boëthius und in der Nachfolge von Quintus Aurelius Symmachus und Quintus Aurelius Memmius Symmachus – bedeutendes Schrifttum und Bildungsgut der Antike erhielt und dem lateinischen Westen des Frühmittelalters vermittelte. In Kenntnis der Handschriften der antiken Literatur verfasste er mit seiner Schrift Institutiones divinarum et saecularium litterarum unter anderem einen Literaturführer und eine Anleitung für das sorgfältige Abschreiben religiöser und ausdrücklich auch profaner Handschriften nach zuverlässigen Vorlagen und erklärte deren Vervielfältigung und Sammlung zur Aufgabe der Mönche. Die Abschriften wie deren Vorlagen ließ er archivieren und zur ersten mittelalterlichen Bibliothek zusammenfassen. Daneben wurden auch Übersetzungen und Exzerpte angefertigt, was angesichts des zunehmenden Schwunds griechischer Bildung im lateinischsprachigen Westen eine entscheidende Voraussetzung für die Überlieferung griechischer Literatur im Abendland darstellte. Seine wichtigsten Schüler waren Bellator, Mutianus Scholasticus und Epiphanios Scholastikos, dessen auf den griechischen Kirchenhistorikern Sokrates Scholastikos, Sozomenos und Theodoret basierende Historia ecclesiastica tripartita weite Verbreitung erlangte.

Cassiodor gilt als Schöpfer des christlichen mittelalterlichen Lehrplans, der eine Synthese von heidnischer Wissenschaft und christlichem Glauben verwirklichen sollte. Er verfasste zahlreiche Schriften. Erhalten ist etwa eine knappe und wenig ergiebige Weltchronik (Chronica), die bis 519 reicht und besonders aufgrund der Konsularsdatierung von Bedeutung ist. Ebenfalls erhalten ist seine Sammlung Variae (epistulae), die 12 Bücher umfasst. Die Sammlung wurde wohl um 538 von Cassiodor angefertigt und enthält über 400 administrative Schreiben, die wichtige Einblicke in die Verwaltung des ostgotischen Königreichs erlaubt. Sie umfasst Briefe und Edikte der Ostgotenkönige in Italien, dazu Urkunden und Erlasse Cassiodors in seiner Funktion als praefectus praetorio. Die Schreiben wurden in den meisten Fällen von Cassiodor in hochrhetorischem Stil ausgearbeitet und sind oft mit weit über den Anlass hinausgreifenden Exkursen ethischen oder kulturgeschichtlichen Inhalts angereichert.

Cassiodors Werk Geschichte der Goten (Historia Gothorum) in 12 Büchern, das er im Auftrag König Theoderichs begonnen und unter Athalarich vollendet hatte, ist verloren gegangen.[3] Es stand jedoch einige Tage lang Jordanes zur Verfügung (nach dessen eigener Aussage), der es als Quelle für sein zusammenfassendes Geschichtswerk Getica heranzog. Mit Jordanes' Bezugnahme auf Cassiodors Geschichte der Goten sind seit langem Forschungsprobleme verbunden. So ist ungeklärt, inwieweit die von Jordanes angefertigte Kurzfassung letztendlich auf Cassiodors Werk beruht. In der modernen Forschung wird davon ausgegangen, dass die Urgeschichte der Goten von Jordanes idealisiert und teils mit fiktiven Elementen angereichert wurde.[4]

In Anlehnung an die enarrationes in Psalmos des Augustinus verfasste Cassiodor daneben sein im Mittelalter einflussreichstes Werk, eine theologische Auslegung der Psalmen, Anleitungen zum Studium der Bibel und grammatikalische Schriften. In seinem 93. Lebensjahr verfasste er als letzte Schrift De orthographia, eine Zusammenstellung über lateinische Orthographie, die auf die Werke von acht Grammatikern zurückgreift. Die Schrift gilt als wertvoll, weil sie Auszüge aus verlorengegangenen Werken enthält. In das Einleitungskapitel dazu fügte er ein Verzeichnis seiner eigenen Schriften seit 540 ein. Seine Schrift De artibus ac disciplinis liberalium litterarum enthält eine der Primärquellen mittelalterlicher Musiktheorie: Institutiones musicae.

Werkliste (Auszug)

  • Chronica
  • Historia Gothorum (nicht erhalten, als Quelle benutzt von Jordanes für sein Werk Getica)
  • Variae
  • Acta synhodorum habitarum Romae a. CCCCCXCVIIII. DI. DII.
  • De orthographia
  • Expositio in psalterium
  • Complexiones in epistolis apostolorum et actibus eorum et apocalypsi
  • Historia ecclesiastica tripartita (zusammen mit Epiphanios Scholastikos)
  • Institutiones divinarum et saecularium litterarum
  • Complexiones in epistolas et acta apostolorurn et apocalysin
  • De artibus ac disciplinis liberalium litterarum

Ausgaben

  • Theodor Mommsen (Hrsg.): Auctores antiquissimi 12: Cassiodori Senatoris Variae. Berlin 1898 (Monumenta Germaniae Historica; Digitalisat)
  • Cassiodori senatoris chronica. In: Theodor Mommsen (Hrsg.): Auctores antiquissimi 11: Chronica minora saec. IV. V. VI. VII. (II). Berlin 1894, S. 109–161 (Monumenta Germaniae Historica; Digitalisat)
  • Institutiones divinarum et saecularium litterarum. Einführung in die geistlichen und weltlichen Wissenschaften, Fontes Christiani 39/1+2, Freiburg 2003
  • Briefe des Ostgotenkönigs Theoderich der Große und seiner Nachfolger. Aus den „Variae“ des Cassiodor. Übers. von Peter Dinzelbacher. Heidelberg 2010.

Literatur

  • Artikel Cassiodor(us). In: Lexikon des Mittelalters. Bd. 2, Sp. 1551–1554.
  • Arne Søby Christensen: Cassiodorus, Jordanes and the History of the Goths. Studies in a Migration Myth. Museum Tusculanum Press, Kopenhagen 2002.
  • Brigitte Englisch: Die Artes liberales im frühen Mittelalter (5.-9. Jh.). Das Quadrivium und der Komputus als Indikatoren für Kontinuität und Erneuerung der exakten Wissenschaften zwischen Antike und Mittelalter, Sudhoffs Archiv, Beihefte 33, Stuttgart 1994
  • Christina Kakridi: Cassiodors Variae. Saur, München – Leipzig 2005.
  • James J. O’Donnell: Cassiodorus. Berkeley – Los Angeles – London 1979 (online).
  • Johannes Weißensteiner: Cassiodor / Jordanes als Geschichtsschreiber. In: Anton Scharrer, Georg Scheibelreiter (Hrsg.): Historiographie im frühen Mittelalter. Wien-München 1994, S. 308-325.

Weblinks

 Commons: Cassiodorus – Sammlung von Bildern, Videos und Audiodateien
Werke
 Wikisource: Flavius Magnus Aurelius Cassiodorus Senator – Quellen und Volltexte (Latein)
Sekundärliteratur
  • James J. O’Donnell: Website
  • Theologische Realenzyklopädie (Gerhard Krause und Gerhard Müller, Hrsg.). de Gruyter, Berlin und New York 1981, Band 7, S. 657-663 (eingeschränkte Vorschau)

Anmerkungen

  1. Biographisch-Bibliographisches Kirchenlexikon (Friedrich Bautz, Hrsg.). Band I, Hamm 1996, Spalte 953-955.
  2. Die Gründe für diese Annahme sind eingehend dargelegt bei André van de Vyver: Cassiodore et son œuvre. In: Speculum 6, 1931, S. 244−292, hier: 260–263. Seiner Auffassung folgen u. a. Vito A. Sirago: I Cassiodoro, Soveria Mannelli 1983, S. 108f.; Rudolf Helm: Cassiodorus. In: Reallexikon für Antike und Christentum Bd. 2, Stuttgart 1954, Sp. 915–926, hier: Sp. 919-920; Åke Fridh: Cassiodor. In: Theologische Realenzyklopädie, Bd. 7, 1981, S. 657–663, hier: 659; Walter Eder: Cassiodorus. In: Der Neue Pauly Bd. 2, Stuttgart 1997, Sp. 1004–1007, hier: 1005; Wolfgang Bürsgens (Hrsg.): Cassiodor: Institutiones divinarum et saecularium litterarum, Freiburg i. Br. 2003, S. 20; Arnaldo Momigliano: Cassiodoro. In: Dizionario Biografico degli Italiani Bd. 21, 1978, S. 494–504, hier: 499; Charles Pietri, Luce Pietri (Hrsg.): Prosopographie chrétienne du Bas-Empire, Teil 2: Prosopographie de l'Italie chrétienne (313–604), Bd. 1, Rom 1999, S. 407; Salvatore Pricoco: Spiritualità monastica e attività culturale nel cenobio di Vivarium. In: Sandro Leanza (Hrsg:): Flavio Magno Aurelio Cassiodoro, Soveria Mannelli 1986, S. 357–377, hier: 360. 373. Gegenteiliger Auffassung ist Hans Thiele: Cassiodor, seine Klostergründung Vivarium und sein Nachwirken im Mittelalter. In: Studien und Mitteilungen zur Geschichte des Benediktiner-Ordens und seiner Zweige. Band 50 (1932), S. 378-419.
  3. Vgl. allgemein Weißensteiner, Cassiodor/Jordanes als Geschichtsschreiber.
  4. Siehe dazu ausführlich Christensen, Cassiodorus, Jordanes and the History of the Goths.



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