Ethnogenese

Ethnogenese

Das Wort Ethnogenese bezeichnet die Entstehung eines Volkes.

Die Entstehung eines neuen Volkes mit einer distinkten Kultur, eventuell auch Sprache, Mythologie und einem Bewusstsein der Zusammengehörigkeit, kann durch länger andauernde Isolation einer Menschengruppe bewirkt werden. Eine andere Möglichkeit sind gemeinsame prägende Einflüsse (Geographie, Klima, Flora, Fauna, andere Kulturen), ein gemeinsames Schicksal bzw. eine gemeinsame Geschichte einer bestimmten Gruppe von Menschen.

Oftmals sind an der Ethnogenese eines Volkes auch andere Völkerschaften beteiligt, die ethnische, sprachliche und kulturelle Merkmale hinterlassen oder typische Eigenheiten des neuen Volkes prägen.

Auch aus der Verschmelzung mehrerer Völker kann ein neues Volk entstehen.

Inhaltsverzeichnis

Römische Ethnographie und die Konfrontation des Mittelmeerraums mit den ‚Barbaren’

Die Kategorie der Ethnogenese wurde seit den 1980er Jahren in der europäischen und amerikanischen Forschung v.a. am Beispiel der Völkerwanderung und im Rahmen des Projektes Transformation of the Roman World entwickelt.

Die Völkerwanderung ist in vieler Hinsicht nur aus römischer Perspektive zu betrachten und diese römische Brille lässt sich nicht abnehmen. Dem einen populus Romanus stand in der Sicht der beherrschenden Macht am Mittelmeer eine Vielzahl von gentes gegenüber. Ethnizität war der Antike keine Kategorie, wie man es als moderner Mensch selbstverständlich erwarten würde.

Patrick Geary definiert anhand der Terminologie der antiken Quellen zwei Modelle eines ‚Volkes’: people by descent (z. B. Goten, Vandalen) und people by constitution (die römischen Bürger). Diese Zweiteilung entspricht der Dualität von gens und populus.

Der Norden Europas wurde von Jordanes im 6. Jahrhundert als vagina gentium bezeichnet. Die Barbaren dort hätten unbändige Kräfte und seien sehr fruchtbar. Durch die Kälte des Nordens könnten sie ihre Kräfte sparen und vermehrten sich in unvorstellbaren Ausmaßen. Die Fähigkeit zur Kultur, zur Errichtung von Städten und der Zivilisation überhaupt wurde diesen Barbaren jedoch abgesprochen. Die barbarische Welt sah der gebildete Römer als unveränderbares, geschichtsloses Chaos. Roms Aufgabe wurde darin gesehen, die aus der vagina gentium in großer Zahl strömenden Wilden zu zähmen. Dazu aber musste man ihre Namen kennen. Synesios von Kyrene berichtete seinem Kaiser Arcadius, es gebe überhaupt keine neuen Barbaren nördlich des Schwarzen Meeres. Nur erfänden sie listig ständig neue Namen, um die Römer zu täuschen und ihnen Angst einzujagen.

Ethnographische Sammelnamen der antiken griechischen und römischen Literatur wie Germanen, Kelten, Skythen beschrieben eher einen ökologischen Raum als eine Lebensweise. Franken und Alamannen bezeichnete man nicht selten wie vor der Anwendung des Germanenbegriffs durch Caesar auf die rechtsrheinischen Völkerschaften als „Kelten“; Vandalen, Goten und Hunnen galten gleichermaßen als „Skythen“.

Ein Jahrtausend der antiken Ethnographie hatte Methoden und Wissen gebracht, dessen man sich in der Spätantike bedienen konnte, um das Geschehen zu kategorisieren. Gebildete Heiden wie Ammianus Marcellinus Ende des 4. Jahrhunderts und Zosimos zu Beginn des 6. Jahrhunderts, der Augustinusschüler Orosius und gut informierte byzantinische Beamte wie Priskos (Mitte 5. Jahrhundert) und Prokop (Mitte 6. Jahrhundert) machten sich dieses Vorwissen zu eigen und schrieben die wichtigsten Quellen, die uns heute zur Verfügung stehen, um die ethnischen Prozesse der Spätantike zu begreifen. Erst später begannen bereits romanisierte und gebildete Autoren barbarischer Herkunft die Geschichte der neuen gentes zu schreiben. Immer waren sie dabei auf eine Einordnung in die historia Romana bedacht von Jordanes um 550 bis Paulus Diaconus um 790. Doch dazu weiter unten.

Völker?

Isidor von Sevilla leitete Völker nach biblischem Vorbild allesamt von den Söhnen Noachs her. Sein Modell bekam eine immense Deutungsmacht: Im Laufe der Formierung des polnischen Königreichs im Hochmittelalter bediente man sich solcher Konstruktionen ebenso, wie zur Rechtfertigung eines schwedischen Staates seit dem 14. Jahrhundert. Die französischen, deutschen und italienischen Humanisten lieferten sich wortreiche Auseinandersetzungen um Größe und Altehrwürdigkeit ihrer Länder und Reiche.

Ein Beispiel: Sehr schnell fand der erst 1470 einer breiteren Öffentlichkeit zugängliche Text des Tacitus Eingang in die humanistischen Vorstellungen von der germanischen Frühzeit. Er wurde dabei als so grundlegend empfunden, dass man es für nötig erachtete, die Erzählung auch noch mit biblischen Informationen zu verifizieren. Die Fälschung des Pseudo-Berossos des Humanisten Annius, die das Modell des Tacitus mit der biblischen Geschichte verband, erschien 1499 in Rom im Druck. Der babylonische Weise Berossos erweiterte die bisher nur aus den biblischen Texten ableitbaren Vorstellungen von Ursprung und Herkunft der Völker. Es schien bewiesen, dass die Germanen, deren frühe Geschichte man aus Tacitus kannte, direkt mit den biblischen Menschen verwandt seien, was wiederum den deutschen humanistischen Patriotismus des 16. Jahrhunderts förderte. Die Deutschen forderten den vollständigen, wahren und echten Text des Tacitus und die angeblich absichtlich von der Kirche und den Italienern versteckten 20 Bücher germanischer Geschichte des Plinius. Die Reformation bedingte zusätzlich eine Abwehrhaltung gegen die Kirche und die in ihrer Nähe tätigen italienischen Gelehrten. Man kann von einem humanistischen Protonationalismus sprechen, der in der frühen Neuzeit die Wurzeln für die nationalen und nationalistischen Konzepte seit der französischen Revolution legte.

Die an den Universitäten etablierte nationale Geschichtswissenschaft des 19. Jahrhunderts griff eine solche Sichtweise begierig auf und verschärfte sie nach ihren Interessen. Völker wurden zu den echten und entscheidenden Subjekten der Geschichte gemacht, nach Johann Gottfried von Herder zu Individualitäten mit einer Volksseele, nach dem Muster menschlicher Stammbäume miteinander verwandt und in gut und schlechte klassifizierbar, je nach aktuellem Bedarf. So zerfielen die aus den Indogermanen hervorgegangenen Germanen in diesen Vorstellungen in die einzelnen deutschen Stämme der Bayern, Alemannen, Franken, aber auch Goten und Vandalen. Manche gingen in den Stürmen der Völkerwanderung unter, in den anderen verwirklichte sich das Ideal der deutschen Einheit.

Besonders deutlich zeigt sich dies im Projekt der Monumenta Germaniae Historica (MGH), das sich nach dem Wiener Kongress das ehrgeizige Ziel gesetzt hatte, die wesentlichen Geschichtsquellen zur ‚deutschen’ Vergangenheit zu edieren. Zu dieser ‚deutschen’ Geschichte zählte man von Anfang an auch die der „ausgewanderten deutschen Stämme“, die der Vandalen, der Burgunden und der Langobarden ebenso wie die der Angelsachsen. In der zweiten Hälfte des Jahrhunderts wurden die sogenannten germanischen Stämme in der deutschen Forschung dann allgemein stärker in die Suche nach den Ursprüngen der eigenen Nation miteinbezogen. So schrieb etwa der prominente Felix Dahn Lemmata zu den einzelnen vandalischen Königen in der großangelegten Nationalbiographie des Deutschen Reichs, der Allgemeinen Deutschen Biographie. Selbstverständlich betrachtete man die Könige der Völkerwanderungszeit als ruhmreiche Vorfahren der eigenen Nation und Staatlichkeit.

Im 20. Jahrhundert setzte man auf diese Grundlage den Mythos von Volkstum und Rasse mit allen schrecklichen Folgen. Im Bewusstsein der Öffentlichkeit hat sich die Vorstellung von Völkern als naturwüchsigen Einheiten weitgehend erhalten, wie man an den aktuellen Debatten rund um die Ergebnisse der Genforschung sehen kann.

Völker sind nicht naturgegeben

Oben Ausgeführtes konnte nur ein – und ein der deutschen Wissenschaftstradition verpflichtetes noch dazu - Schlaglicht auf die große Last werfen, die die moderne Forschung zu tragen hat, wenn sie das Wort „Volk“ in den Mund nimmt. Kein Wunder also, dass man zusehends dazu übergeht, die Quellenbegriffe gens/gentes für die Beschreibung der völkerwanderungszeitlichen Identitätsmodelle zu verwenden. Wobei diese eine enorme Geschichtsmächtigkeit bei der Entstehung Europas bekommen haben. „Völker sind aber Abstraktionen, deren scheinbare Evidenz auf ganz wenigen Merkmalen aus der Vielfalt menschlicher Lebensformen beruht.“ So Walter Pohl. Schon Max Weber sprach explizit vom „subjektiven Glauben an eine Abstammungsgemeinschaft“, der ein Volk ausmache.

Wie die sozialen und militärischen Verbände, die seit dem 4. Jahrhundert in den römischen Mittelmeerraum vordrangen nun zusammengesetzt waren, ist eine der bedeutsamstem Fragestellungen der Alten Geschichte und Mediävistik unserer Tage. Neben den mit alten aus der ethnographischen Literatur bekannten Namen bezeichneten gentes dürften sich auf allen Etappen der Migration etwa der als Vandalen und Alanen bezeichneten Gruppen zwischen der pannonischen Tiefebene und Afrika römische Deserteure, entflohene Sklaven, Abenteurer und Menschen, die sich als nun ‚germanische’ bzw. 'alanische' Krieger einfach mehr Chancen erwarteten, als in ihrer vorherigen sozialen Umgebung, angeschlossen haben.

Im Reich des Goten Ermanarich lebten außer den Ostrogoten Finnen, Anten, Heruler, Alanen, Hunnen, Sarmaten, Esten und vielleicht auch Slawen. Die terwingische Aristokratie bestand aus Taifalen, Sarmaten, kleinasiatischen Minderheiten, ehemaligen römischen Provinzialen, dako-carpischen Gruppen und verschiedensten Iraniern.

Gerade die Bayern wären ein Paradebeispiel für eine recht spät entstandene neue Identität. Germanische und nichtgermanische Gruppen, Zuwanderer nach Raetien, germanisch-romanische Provinzialen, naristische, skirische, herulische, donausuebische und alamannische Elemente, sowie Thüringer und Langobarden formierten sich zu den Baiern (Bajuwaren). Abgesehen davon, dass auch die Alamannen und Thüringer wiederum keine ursprüngliche germanische Stämme, sondern selbst das Ergebnis einer Ethnogenese, darstellen, ist keine Spur von Wanderungen germanischer Bajuwaren aus Böhmen zu erkennen, die anhand ihrer unverwechselbaren Keramik seit der Bronzezeit zu greifen wären. Es gab vor allem im inneralpinen Bereich Romanen, die der bayrischen Rechtsgemeinschaft angehörten. Vom achten Jahrhundert an kennen die Quellen auch slawische Bayern. Deutlicher als der im 5. Jahrhundert im afrikanischen Regnum der Vandalen belegbare Königstitel Rex Vandalorum et Alanorum kann kaum eine Quelle die Komplexität deutlich machen, sprachen die Alanen doch eine iranische Sprache (siehe auch Osseten).

Alter bedeutet Würde und somit haben die Gruppen, die sich an den Grenzen des Imperiums formierten wohl auf Namen zurückgegriffen, die eine gewisse Tradition besaßen. Damit war innerhalb der Gemeinschaft eine Identität leichter zu konstituieren und den Römern gegenüber ein Ansatzpunkt zu Identifikation gegeben, um die oben erwähnte stereotype Abwertung der geschichtslosen Barbaren zu relativieren. Viele Stammesnamen, die Tacitus, Plinius und Ptolemäus in der Kaiserzeit an der Ostsee erwähnen, werden Jahrhunderte später von den ins Imperium drängenden neuen Gruppen getragen.

Gens konnte der Name für eine Sippe, aber auch für einen Stammessplitter, oder eine Konföderation mehrerer ethnischer Einheiten sein. Außerdem zerbrachen gerade in der Zeit der Völkerwanderung die alten germanischen gentes in Gefolgschaften adlig-fürstlicher Stammesführer, die sich wenig um Herkunft, aber desto mehr um Treue scherten. Die namensgebende gens wurde immer mehr in einem offenen Prozess zum Heeresverband, einer Gruppe von Kriegern, die sich unter einem erfolgversprechenden Anführer sehr schnell zusammenfinden konnte, um ein gemeinsames Ziel, wie Beute oder die Integration ins Imperium, wo man(n)(mit Frau und Kind) besser leben konnte, zu verfolgen. Vereinfacht gesagt: Wer im Heer mitkämpft, gehört dazu. Die erfolgreiche gens vergrößert und erweitert sich ständig. Und die nicht ganz so erfolgreiche schließt sich einer erfolgreicheren an (und übernimmt damit deren Namen, wenn nicht für beide ein neuer gemeinsamer Name gefunden wird.). Wichtig jedenfalls: Gote, Vandale oder auch Hunne zu sein bedeutet in der Spätantike und im frühen Mittelalter zuerst ein politisches bzw. militärisches Bekenntnis und viel weniger eines der persönlichen Verwandtschaftsverhältnisse! Damals war jedem politisch-militärischen Führer klar: je mehr Anhänger ich auf meiner Seite habe, desto größer ist meine Macht und mein Einfluss. Und seine Herkunft spielt hierbei nicht die geringste Rolle!

Ein Beispiel: Ein gefangener römischer Baumeister errichtete seinem hunnischen Herrn in Pannonien ein Bad aus Spolien. Nach der Fertigstellung des Gebäudes machte der hunnische Herr den Experten zum Badeknecht, der heizen und waschen musste. Ein anderer Römer diente demselben Hunnen als Krieger und kämpfte in mehreren Schlachten an seiner Seite. Keine zwei Jahre vergingen, und der Römer war ein hunnischer Krieger geworden, äußerlich nicht mehr von den anderen zu unterscheiden. In derselben Quelle berichtet ein byzantinischer Gesandter von einem griechischen Kaufmann, der am Hofe Attilas als „Skythe“, also Steppenbewohner, in diesem Fall hunnischer Krieger, lebe und sich recht wohl fühle damit. (Priskos, Fragment 11, vgl. Rohrbacher 2002, 84f.)

Die römische Politik hatte darauf gesetzt, durch Föderatenverträge, die Anwerbung von Soldaten und den Handel mit Gewerbe- und Luxusgütern auf friedlichem Weg jene römische Hegemonie im Barbaricum zu errichten, die der augusteischen Offensive in den Teutoburger Sümpfen misslungen war. Das Imperium war ein stabiler wirtschaftlicher und politischer Raum, dessen Außenwirkung lange stark genug war, um die Germania einzubeziehen. Dieses System hat sich jahrhundertelang mehr oder weniger bewährt; doch mit nachhaltigen Folgen. Die zunehmenden Möglichkeiten, in römischem Dienst oder im Kampf gegen die Römer Prestige zu gewinnen, führte zu einem ständigen Sog auf barbarische Gesellschaften. Der Erwerb von Prestigegütern aus römischer Produktion oder nach römischem Vorbild wurde für viele erstrebenswert, was sich etwa an den Grabfunden ablesen lässt. Wenn die Barbaren einmal den Reichtum der Römer kennengelernt haben, schreibt Prokop, so könne man sie kaum mehr von der Straße nach Konstantinopel zurückhalten. Langsam entstanden spezialisierte Krieger, soziale Unterschiede und innere Konflikte wuchsen. Stämme zerfielen, neue Einheiten bildeten sich. Am Rhein entwickelten sich seit Ende des 3. Jahrhunderts die neuen Verbände der Franken und Alamannen. Im Osten traten die Goten in den Vordergrund. Um diese Zusammenhänge zu untersuchen, darf man nicht nur barbarische und die römische Gesellschaft für sich betrachten, sondern muss sie auch als gemeinsames System analysieren, letztlich ein Modell von Zentrum und Peripherie anwenden.

Wichtig ist die Erkenntnis, dass insbesondere während der Völkerwanderungszeit nicht nur die Sprache, Hautfarbe oder Religion für die Bildung größerer menschlicher Gemeinschaften ausschlaggebend war, sondern auch gemeinsam angestrebte ökonomische oder politische Ziele. Ob aus einem örtlich und zeitlich parallelen Vorhandensein von Menschen verschiedener Herkunft ein neues Volk entsteht, hängt als Wechselbeziehung von den beteiligten Gruppen und vorhandenen Bindungskräften ab. Sicherlich kann dies beispielsweise bei den Slawen angenommen werden. Ein Prozess, welcher sich bei der wesentlich länger andauernden Herrschaft der Araber auf der iberischen Halbinsel mit den im Untertanenstatus verharrenden Christen (Mozaraber) und Juden eben nicht vollzogen hat, genauso wenig wie im Fernen Osten zwischen Han-Chinesen und Mongolen oder im südlichen Afrika bei Zulu und Bantu. Bei der Ethogenese die Kategorie der Blutsverwandtschaft gänzlich zu verbannen ist nur ideologisch möglich. Die Menschheitsgeschichte kennt nicht das entweder oder sondern ein sowohl als auch.

Theorie der Ethnogenesen

Ethnische Identitäten wurden in der modernen Forschung, anknüpfend an die Ideen von Reinhard Wenskus und sein vieldiskutiertes Werk Stammesbildung und Verfassung von 1961, nicht mehr als biologisch determinierte Gemeinschaften definiert, sondern als Ergebnisse historischer Entwicklungen. Frühmittelalterliche Ethnogenesen sah man zusehends als mehr oder weniger kontinuierliche Prozesse, in denen sich aus der ethnisch vielseitigen Welt der Spätantike die Völker des Mittelalters entwickelten, von denen manche zu modernen europäischen Nationen geworden sind. Wenskus ging von sogenannten Traditionskernen aus. Träger dieser Tradition ist eine oft recht kleine Gruppe von Menschen, die nicht mit den politischen Herrschaftsträgern identisch sein muss, diese aber in jedem Fall legitimiert. Die Kleinheit der Wenskusche Kerngruppe bedinge seiner Ansicht nach die Polyethnie der Verbände und einen sehr hohen Grad an ‚ethnischer Mobilität’. Je größer dann die Zusammenschlüsse werden, die das Heerkönigtum erreichen kann, desto mehr wird ihr Schicksal vom politischen Erfolg oder Misserfolg abhängig.

Dieses Modell wurde nun seit den 1970er Jahren von Herwig Wolfram erweitert. Er betonte vor allem die Rolle der römischen Staatlichkeit bei den ethnogenetischen Prozessen. Wenskus argumentierte noch quasi rein germanisch. Die Ethnogenesen (Wolfram verwendete diesen Terminus technicus, Wenskus verwendete noch Stammesbildungen) der Goten, Franken und Langobarden fanden zumindest zum Teil auf römischem Boden statt. Diese Gruppen waren römische Föderaten (Bündnispartner) und meistens die Leistung erfolgreicher Heerkönige, welche nicht selten in römischen Diensten standen und erst nach einiger Zeit und meist profunden Konflikten mit den Reichsautoritäten unabhängig zu agieren begannen. Im Mächtespiel des Imperiums konnte eine Gruppe von Kriegern wenn sie nur stark genug war, schnell auf höchster Ebene mitspielen. Die Geschichte des 4. und 5. Jahrhunderts ist eine Folge von Machtkämpfen und jedes Mal wurden barbarische Truppen gegeneinander aufgeboten. Die unabhängig operierenden Gruppen der Goten unter Alarich und der Vandalen, Alanen und Sueben stellten schnell einen eigenen Machtfaktor im Spiel um die Macht im Mittelmeerraum dar.

Ausgegangen ist Wenskus von der Analyse der Herkunftsmythen. Diese origo gentis enthält „die Kunde von den tapferen Männern“. Heer und gens sind in der Begrifflichkeit der Quellen nicht voneinander zu trennen. So wurde etwa von Cassiodor/Jordanes ein gotischer, von Paulus Diaconus ein langobardischer Herkunftsmythos verschriftlicht. Die gemeinsame Überlieferung, wenn nicht gar Entstehung von origo und lex, von Herkunftsgeschichte und Recht, verdeutlicht diese Vorgänge. Eine zunächst mündliche Tradition dieser identitätsstiftenden Elemente wurde später und meist auf römischem Boden nun lateinisch verschriftlicht und als origo gentis oder in der Einleitung der Leges überliefert. In der Vorrede zum Edictus Rothari, einer Gesetzessammlung des gleichnamigen Langobardenkönigs, findet sich etwa fast das gesamte Namenmaterial des langobardischen Herkunftsmythos prägnant zusammengefasst.

Die Gotengeschichte Cassiodors versteht sich als origo gentis, also als Herkunftsgeschichte eines Volkes von Barbaren. Die Cassiodorsche origo Gothica war Teil eines antiken Genus, innerhalb dessen seit Caesar zwei Auffassungen parallel tradiert wurden: Die Tradition der griechischen Ethnographie erklärte gentile bzw. ethnische Ursprünge mit Vorliebe anhand der Heldentaten von Göttern und Heroen. Die römischen Ethnographen hingegen versuchten seit Caesar autochthone Traditionen zu berücksichtigen und billigten ihnen mehr Geltung zu, als traditionellen mythologischen Spekulationen. Römische Ethnographie wurde immer als Teil der römischen Geschichte verstanden und betrieben. Mit der Einbindung der Gotengeschichte in die ökumenische historia Romana gab Cassiodor das Beispiel für die mittelalterlichen Origines gentium, deren Reihe Saxo Grammaticus mit seinen Gesta Danorum um 1200 beschlossen hat. Die origo, die Vorgeschichte, einer germanischen, keltischen oder slawischen gens wurde in den entsprechenden Werken nicht mehr nur in die universelle historia Romana integriert, sondern auch heilsgeschichtlich gedeutet. Katholische Religion und römische Staatlichkeit wurden die Voraussetzungen, um gute Europäer zu werden. Die Ungarn gingen diesen Weg, die Awaren verschwanden mit ihrem Konzept eines Steppenreichs in Eurasien. Cassiodor und Jordanes ließen ihre Gotengeschichte mit einer in diesem Sinn ‚glücklichen Niederlage’ enden. Die Geschichte des amalischen Gotenreichs endete mit Belisars Sieg über König Witiges und die Enkelin Theoderichs, Mathesuntha. Die letzte Amalerin konnte jedoch den Kaiserneffen Germanus heiraten und so die Tradition ihrer Familie mit der der Anicier verbinden. „So vollzieht sich der legitime Übergang von der amalisch-balthischen Origo Gothica in die Historia Romana.“ (Wolfram, Goten, 8) Das Alter der gotischen gens wie der Adel der Amaler wird zusätzlich noch durch die Erzählung von der gotischen Abstammung des Kaisers Maximinus Thrax und der Plünderung Trojas durch Goten in grauer Vorzeit betont. Eine solche „gentile Entelechie“ gilt als Legitimierung der Herrschaft. Die gens nimmt ihren Platz ein in der großen Geschichte des populus, eine schon heilsgeschichtliche Komponente.

An der Sicht der identitätsstiftenden Traditionen, wie sie Wenskus und Wolfram vertraten, setzte in den achtziger Jahren eine massive Kritik ein. Amerikanische Historiker stellten die Möglichkeit von Rückschlüssen auf ältere, mündliche Überlieferung aus den genannten lateinischen Texten in Frage. Walter A. Goffarts 1988 erschienenes Buch The Narrators of Barbarian History war die monographische Formulierung dieser anderen, stark von einer postmodernen Textkritik bestimmten, Sichtweise der origo gentis -Texte. Die Maximalposition der Schule Goffarts könnte man so zusammenfassen: Ethnizität ist lediglich eine ideologische Fiktion.

Wolfram beharrte darauf, man könne ‚vorethnographisches’ Material (im Sinne einer Überlieferung außerhalb der römisch-ethnographischen Literatur) bis zu einem gewissen Grad in den Texten isolieren. Seine Paradebeispiele dabei waren die germanischen Namen und Motive wie Wodan und Freia in der Langobardensage des Paulus Diaconus, Gaut und die Haliurunnen bei Cassiodor/Jordanes. 1988 erschien Walter Pohls Untersuchung zu den Awaren, die nun erstmals das Konzept der Ethnogenese auf ein Steppenvolk anwandte und den Kreis der Völkerwanderungsgruppen, die ins Imperium integriert wurden und auf Reichsboden Regna errichteten, verließ. Das große Projekt der European Science Foundation The Transformation of the Roman World führte Wissenschafter aus ganz Europa zusammen, die die oben angerissenen Vorgänge unter den verschiedensten Aspekten beleuchteten. Dabei spielte die Rolle von Namen als Identitätsträger ebenso eine Rolle wie die Frage nach den Abgrenzungsmustern der Sozietäten in den Regna (Strategies of Distinction). Die Untersuchung der slawischen Ethnogenesen seit dem 6. Jahrhundert wird ebenso eine große Herausforderung sein, wie die Einbringung theoretischer Debatten aus Ethnologie und Soziologie. Warum nicht das Konzept der Ethnogenese auf die Vorgänge im Kalifat der Abbasiden seit dem 9. Jahrhundert anwenden, wo türkische Verbände in die arabischen Gesellschaften integriert wurden?

andere Beispiele von Ethnogenese

Aramäer

Vermutlich handelt es sich bei den Aramäern zunächst um eine Sammelbezeichnung für verschiedene Nomadenstämme, die seit dem 13. Jahrhundert von Westen her nach Mesopotamien und Assyrien einzudringen begannen. Im Verlauf des jahrhundertelangen Konfliktes mit den altorientalischen Reichen und einer teils allmählichen, teils langsamen Sesshaftwerdung dürfte es zu einer Angleichung der Sprache und der Sitten gekommen sein. Zur Zeit von Hattuschili III. (1275-1250 v. Chr.) erwähnen hethitische Briefe die Ahlamu, räuberische Nomaden, die den sicheren Handelsverkehr am mittleren Euphrat bedrohten, aber auch als Führer und Viehtreiber der Karawanen eingesetzt wurden. Einer ihrer Teilstämme waren die Aramu. Dieser Name wurde bald als Bezeichnung der ganzen Bevölkerungsgruppe verwendet.

Im 1. Jahrtausend können die Aramäer als ethnische Gruppe gelten, auch wenn sie nie ein einheitliches Reich ausbilden und immer noch in nomadische Stämme und sesshafte Gruppen zerfallen. Ob es ein aramäisches „ethnisches Bewusstsein“ gab, ist unbekannt. In Neu-Assyrischer Zeit wird, auch durch zahlreiche Deportationen, die aramäische Sprache allmählich zur Verkehrssprache im gesamten Vorderen Orient. Diese aramäische Sprache („syrisch“) wurde durch die syrisch-orthodoxe Kirche bewahrt, deren Mitglieder sich inzwischen aber als ethnische Gruppe verstehen (Aramäer).

Isländer

Die Geschichte Islands gibt ein gut dokumentiertes Beispiel dafür, wie ab dem späten 9. Jahrhundert in Europa ein neues Volk entstand.

Literatur

  • Sebastian Brather: Ethnische Interpretationen in der frühgeschichtlichen Archäologie. Geschichte, Grundlagen und Alternativen. Ergänzungsbände zum Reallexikon der germanischen Altertumskunde 42 (Berlin 2004), ISBN 3-11-018040-5; Inhaltsverzeichnis.
  • Herwig Friesinger (Hrsg.): Typen der Ethnogenese unter besonderer Berücksichtigung der Bayern. Wien 1990, ISBN 3-7001-1715-9.
  • Arno Borst: Der Turmbau von Babel. Geschichte und Meinungen über Ursprung und Vielfalt der Sprachen und Völker. 4 Bde., München 1957-1963 (Ndr. als dtv-Taschenbuch, München 1995).
  • Andreas Galk: Ethnogenese und Kulturwandel - Der Versuch einer Begriffsklärung. München 2008, ISBN 3-638-95068-9, EAN 978-3-6389-5068-8
  • Patrick J. Geary: Europäische Völker im frühen Mittelalter. Zur Legende vom Werden der Nationen. Frankfurt 2002 (The Myth of Nations. The Medieval Origins of Europe, Princeton 2002).
  • Andrew Gillett (Hrsg.): On Barbarian Identity. Critical Approaches to Ethnicity in the Early Middle Ages. Studies in the Early Middle Ages 4. Turnhout 2002.
  • Walter A. Goffart: The Narrators of Barbarian History, AD 550-800. Princeton 1988.
  • Walter A. Goffart: Barbarian Tides. Philadelphia 2006.
  • Walter Pohl: Die Awaren. Ein Steppenvolk in Mitteleuropa, 2 Aufl., München 2002.
  • Walter Pohl: Die Germanen, Enzyklopädie deutscher Geschichte Band 37. München 2000.
  • Walter Pohl: Die Völkerwanderung. Stuttgart 2002.
  • David Rohrbacher: The Historians of Late Antiquity. London 2002.
  • Roland Steinacher: Wenden, Slawen, Vandalen. Eine frühmittelalterliche pseudologische Gleichsetzung und ihr Nachleben bis ins 18. Jahrhundert. In: Walter Pohl (Hrsg.), Die Suche nach den Ursprüngen (Forschungen zur Geschichte des Mittelalters 8). Wien 2004, S. 329-353.
  • Roland Steinacher: Ethnogenese, Gens, Regnum. Die historische Ethnographie. In: Lateinforum 50/51 (2003), S. 83-105, online.
  • H. Tadmor: The Aramaization of Assyria: aspects of Western impact. In: Hans-Jörg Nissen/Johannes Renger (Hrsg.), Mesopotamien und seine Nachbarn. Politische und kulturelle Wechselbeziehungen im Alten Orient vom 4. bis 1. Jahrtausend v. Chr. Berliner Beiträge zum Vorderen Orient 1. Berlin 1982, S. 449-470.
  • Max Weber: Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriss der verstehenden Soziologie. 5. Aufl., Tübingen 2002.
  • Leslie Webster/Michelle Brown (Hrsg.): The Transformation of The Roman World. AD 400-900. London 1997, ISBN 0-7141-0585-6 (mehrbändige Reihe).
  • Reinhard Wenskus: Stammesbildung und Verfassung. Das Werden der frühmittelalterlichen gentes. Ndr. Stuttgart 1977.
  • Herwig Wolfram: Ethnogenesen im frühmittelalterlichen Donau- und Ostalpenraum (6.-10. Jahrhundert). In: H. Beumann, W. Schröder (Hrsg.), Frühmittelalterliche Ethnogenesen im Alpenraum. Sigmaringen 1985.
  • Herwig Wolfram: Die Geburt Mitteleuropas. Geschichte Österreichs vor seiner Entstehung (378-907). Wien 1987.
  • Herwig Wolfram: Einleitung oder Überlegungen zur Origo gentis. In: Herwig Wolfram, Walter Pohl (Hrsg.), Typen der Ethnogenese. Wien 1990, S. 19-31.
  • Herwig Wolfram: Das Reich und die Germanen. Zwischen Antike und Mittelalter. Siedlers Deutsche Geschichte 1, Ndr. Berlin 1998.
  • Herwig Wolfram: Die Goten. Von den Anfängen bis zur Mitte des 6. Jahrhunderts. Entwurf einer historischen Ethnographie. 4. Aufl. München 2001.

Siehe auch


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