Polnisch-Ukrainischer Konflikt

Polnisch-Ukrainischer Konflikt

Der polnisch-ukrainische Konflikt war ein Nationalitätenkonflikt zwischen den Polen und den Ukrainern im 19. und 20. Jahrhundert.

Inhaltsverzeichnis

Anfänge

Die Polen im österreichischen Teilungsgebiet Galizien hatten nach den Teilungen Polens relativ früh wieder die Möglichkeit, ihre nationalen Empfindungen zu zeigen, insbesondere nach der Autonomiegewährung durch den österreichischen Staat im Jahre 1867. Es wurde dort nicht nur von der städtischen Bevölkerung, sondern auch von Teilen der ländlich-bäuerlichen Schichten getragen. In gleichem Maße wuchs in den östlichen Teilen Galiziens jedoch auch ein ukrainischer Nationalismus, dessen gewalttätig-radikaler Charakter dadurch genährt wurde, dass neben die ethnische Variante des Konflikts eine soziale hinzutrat: Die Mehrzahl der landarmen, bäuerlichen Bevölkerung ukrainischer Nationalität litt erheblich unter dem extensiv wirtschaftenden und gesellschaftlich konservativen Großgrundbesitzertum polnischer Nationalität. Der Konflikt trug somit die Züge einer auch sozialen Spaltung. Die dem Großteil der Bevölkerung kaum bewussten nationalen und kulturellen Trennungslinien konnten demzufolge anhand der für alle klar erkennbaren sozialen Spaltung zwischen gesellschaftspolitischer Elite und sozial sowie ökonomisch deklassierten Schichten definiert werden, wodurch die Betonung der nationalkulturellen Eigenständigkeit der Ukrainer und die Idee ihrer nationalen Unabhängigkeit besondere politische Sprengkraft gewannen. Mit der Struktur der wirtschaftlichen Macht ging die Verteilung der politischen Macht einher: Sie lag fast ausschließlich in der Hand des polnischen Adels. Zudem trennten beide Nationalitäten die konfessionellen Unterschiede. Man kann daher den schwelenden polnisch-ukrainischen Streit als einen Konflikt zwischen einer ehemals privilegierten Nation, die von ihrem Besitzstand an Schulen, Universitäten und politischer Macht nicht lassen wollte, und einer ursprünglich kleinbürgerlich bis bäuerlichen Nation, die ihre Gleichstellung forderte, charakterisieren.

Entwicklung nach dem Ersten Weltkrieg

Hauptartikel: Polnisch-Ukrainischer Krieg

Der Erste Weltkrieg verschärfte die nationalen Gegensätze, indem die sich bekämpfenden Großmächte Österreich und Russland den polnisch-ukrainischen Gegensatz für ihre jeweiligen Ziele ausnutzten, beide Bevölkerungsgruppen gegeneinander ausspielten und somit den Konflikt sowohl zu verschärfen als auch zu verstetigen halfen. Nach der Niederlage der Mittelmächte und dem Auseinanderfallen des Vielvölkerstaates Österreich-Ungarn strebten sowohl Polen als auch Ukrainer die nationale Staatenbildung an – selbstverständlich jeweils auf territoriale, politische und ökonomische Kosten der anderen Seite. Den daraus entstehenden Polnisch-Ukrainischen Krieg im Anschluss an den Ersten Weltkrieg konnte die polnische Seite vollständig für sich entscheiden. Ganz Ostgalizien und das im ehemaligen russischen Teilungsgebiet liegende Wolhynien – beide im ländlichen Bereich überwiegend ukrainisch geprägt – wurden dem neuen Staatswesen angegliedert. Diese gewaltsame Entscheidung führte jedoch zu keiner wirklichen Lösung der polnisch-ukrainischen Konflikte, sondern transformierte seine mannigfaltigen Probleme direkt hinein in den jungen polnischen Staat: Ein Sechstel der Gesamtbevölkerung der Polnischen Republik stellten die Ukrainer.

Zeit der Zweiten Polnischen Republik

Hauptartikel: Kresy

Insgesamt fiel die Qualität der Lebensverhältnisse der ukrainischen Minderheit noch hinter die in der Habsburger Monarchie zurück: Das spezifisch ukrainische Schulwesen wurde unterdrückt, Ukrainer sukzessive aus dem polnischen Staatsdienst entfernt und orthodoxe Kirchen zerstört. Der soziale Konflikt verschärfte sich zusehends, da der Landbesitz des polnischen Adels und der polnischen Großgrundbesitzer nicht in die Landreform der zwanziger Jahre mit einbezogen wurde. Die Folge war eine weitere Verarmung insbesondere der ukrainischen Landbevölkerung. Zum zweifelsohne größten Problem zwischen Polen und Ukrainern wurde jedoch das Bestreben des polnischen Staates und seiner Nationalitätenpolitik, das Polentum durch die Ansiedlung von Polen in den östlichen, ukrainisch bestimmten Gebieten des Landes in Form einer inneren Kolonisation zu verbreiten bzw. zu vertiefen. Dort, wo die Versuche, polnische Siedler aus Zentralpolen anzusiedeln, am stärksten unternommen wurden, wie etwa in Wolhynien, war die Reaktion der mehr und mehr wirtschaftlich, sozial, politisch und kulturell bedrängten ukrainischen Minderheit am heftigsten: Zu Anfang der dreißiger Jahre waren Anschläge auf polnische Politiker und staatliche Repräsentanten beinahe an der Tagesordnung. Zuvor hatte sich in der ukrainischen Widerstands- bzw. Untergrundbewegung Organisation Ukrainischer Nationalisten (OUN) die Haltung durchgesetzt, dass die Besserung der ukrainischen Lebensverhältnisse und die Erreichung der politischen Ziele nur mit Gewalt gegenüber dem polnischen Staat durchzusetzen seien. Der polnische Staat reagierte mit äußerster Härte, indem er mit umfassenden Repressionsmaßnahmen und gewaltsamen Übergriffen gegen ganze ukrainische Dorfgemeinschaften vorging. Gleichzeitig entwickelte man in Polen auch erstmals den Gedanken an eine Vertreibung der Ukrainer von polnischem Staatsgebiet, unternahm – mit Hilfe und Zutun der katholischen Kirche in Polen – Zwangsmissionierungen der orthodoxen Ukrainer und ließ deren Geistliche deportieren. Im Gegenzug zu diesen Formen der polnischen Gegengewalt entwickelte man in der OUN kurz vor Ausbruch des Zweiten Weltkrieges erstmals die Idee, die Polen aus den als ukrainisch betrachteten Gebieten zu vertreiben.

Zweiter Weltkrieg

Hauptartikel: Massaker in Wolhynien

Die abermalige Teilung Polens im Rahmen des Hitler-Stalin-Paktes und der Beginn des Zweiten Weltkrieges mit Einmarsch der Wehrmacht und der Roten Armee führten zu den ersten Deportationen von Polen aus der Heimat. Es gab verschiedene Flucht- und Deportationswellen, von denen die Polen zum einen um 1939/1940 im Zuge des deutschen Einmarsches und dann wieder 1944/1945 im Zuge der des Einmarsches der Roten Armee betroffen waren.

In den Gebieten Ostpolens tobte nicht nur der Zweite Weltkrieg, sondern auch ein blutiger Bürgerkrieg zwischen Polen und ukrainischen Nationalisten (vgl. dazu Massaker in Wolhynien). Im Januar 1944 hatte die Rote Armee zwar die polnisch-sowjetische Grenze von 1939 ein erneutes Mal überschritten. Sie war dabei jedoch nicht in der Lage, die polnische Bevölkerung in Wolhynien und Ostgalizien vor den Angriffen der Ukrainischen Aufständischenarmee (UPA) zu schützen.

Umsiedlung der Polen

Grundlage der Umsiedlungen der sogenannten Repatrianten war zunächst einmal, dass die östliche Hälfte Polens und insbesondere Ostgalizien und Wolhynien an die Sowjetunion fielen. Vater dieser Idee war Josef Stalin, der erstmals zwischen dem 28. November und dem 1. Dezember 1943 auf der Konferenz von Teheran eine Westverschiebung Polens auf Kosten Deutschlands und zugunsten der UdSSR anregte. Auf der Konferenz von Jalta, 4.–11. Februar 1945, beschlossen Roosevelt, Churchill und Stalin, dass Polen im Osten von der Curzon-Linie und im Westen von der Oder begrenzt sein sollte. Gleichzeitig wurde von Großbritannien und den USA die von Stalin eingesetzte provisorische polnische Regierung anerkannt. Mit der Konferenz von Potsdam vom 17. Juli bis 2. August 1945 wurde schließlich die „Überführung“ der deutschen Bevölkerung aus den an Polen abgetretenen Gebieten nach Deutschland „in ordnungsgemäßer und humaner Weise“ beschlossen.

Die sich den polnisch-sowjetischen Grenzverträgen anschließende Zwangsumsiedlung der Polen aus den östlichen Landesteilen erfolgte also in einem Gebiet, das sich permanent im Kriegszustand befunden hatte. Insbesondere dieser Umstand mag auch Winston Churchill – im Übrigen genauso wie die polnischen Kommunisten – dazu bewogen haben, für die Zukunft einen polnischen Nationalstaat ohne Minderheiten anzustreben und daher dem Drängen Stalins nach einer Westverschiebung Polens einhergehend mit einem Bevölkerungsaustausch nachzugeben:

There will be no mixture of populations to cause endless trouble […]. A clean sweep will be made.

Siehe auch

Literatur

  • Alexander, M.: Kleine Geschichte Polens. Stuttgart 2003.
  • Bömelburg, H.-J.: Die polnisch-ukrainischen Beziehungen 1922–1939. Ein Literatur- und Forschungsbericht. in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas. Neue Folge 39 (1991) S. 81–102.
  • Chojnowski, A.: Koncepcje polityki narodowościowej rządów polskich w latach 1921–1939. Wrocław 1979.
  • Chrzanowski, Z.: Problemy adaptacji i integracji społecznej w Lewinie Brzeskim. Opole 1966.
  • Churchill, W.S.: His complete speeches 1897–1963. Ed. By Robert Rhodes James, vol. VII 1943–1949, New York/London 1974.
  • Davies, N.: God’s Playground: A History of Poland. Band 2, New York 1981.
  • Dmitrow, E.: Flucht – Vertreibung – Zwangsaussiedlung. in: Kobylinska, E., Lawaty, A. und R. Stephan (Hrsg.): Deutsche und Polen. 100 Schlüsselbegriffe. München/Zürich 1992, S. 420–427.
  • Eberhardt, P.: Przemiany narodowościowe na Ukrainie XX wieku. Warschau 1994.
  • Fuhrmann, R.: Polen: Handbuch. Geschichte, Politik, Wirtschaft. Hannover 1990.
  • Gansiniec, R.: Na straży miasta. Karta 13, Warschau 1994.
  • Kersten, K.: Polska – państwo narodowe. Dylematy i rzeczywistość. in: Narody. Jak powstawały i jak wybijały się na niepodległość. Warschau 1989, S. 442–497.
  • Meyer, E.: Grundzüge der Geschichte Polens. Darmstadt 1977.
  • Roos, H.: Geschichte der Polnischen Nation: 1918–1985. Von der Staatsgründung im 1. Weltkrieg bis zur Gegenwart. Stuttgart/Berlin/Köln/Mainz 1986.
  • Sobkow, M.: Do innego kraju. Karta 14, Warschau 1994.
  • Ther, P.: Deutsche und polnische Vertriebene. Gesellschaft und Vertriebenenpolitik in der SBZ/DDR und in Polen 1945–1956. Göttingen 1998 (= Berding, H., Ko-cka, J., Ullmann, H.-P. und H.-U. Wehler (Hrsg.): Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft. Band 127).
  • Torzecki, R.: Polacy i Ukraińcy. Sprawa ukraińska w czasie II wojny światowej na terenie II Rzeczypospolitej. Warschau 1993.

Wikimedia Foundation.

Игры ⚽ Нужна курсовая?

Schlagen Sie auch in anderen Wörterbüchern nach:

  • Polnisch-Ukrainischer Konflikt in Wolhynien und Ostgalizien — Mit Polnisch Ukrainischer Konflikt in Wolhynien und Ostgalizien werden hier die Auseinandersetzungen zwischen Polen und Ukrainern bezeichnet, die während des Zweiten Weltkrieges in den im deutschen Machtbereich liegenden Gebieten… …   Deutsch Wikipedia

  • Polnisch-ukrainischer Krieg — Der polnisch ukrainische Krieg von 1918 und 1919 war ein Konflikt zwischen den Streitkräften der Zweiten Polnischen Republik und der Westukrainischen Volksrepublik um die Kontrolle über Ostgalizien nach der Auflösung von Österreich Ungarn.… …   Deutsch Wikipedia

  • Polnisch-Ukrainischer Krieg — Der polnisch ukrainische Krieg von 1918 und 1919 war ein Konflikt zwischen den Streitkräften der Zweiten Polnischen Republik und der Westukrainischen Volksrepublik um die Kontrolle über Ostgalizien nach der Auflösung von Österreich Ungarn.… …   Deutsch Wikipedia

  • Polnisch-Sowjetischer Krieg — Polnischer Schützengraben in der Schlacht an der Memel, September 1920 …   Deutsch Wikipedia

  • Polnisch-sowjetischer Krieg — Im Polnisch Sowjetischen Krieg von 1920 (russisch Советско польская война, Sowetsko polskaja woina; polnisch Wojna polsko bolszewicka) standen sich der wiederentstandene polnische Staat sowie das postrevolutionäre Sowjetrussland gegenüber.… …   Deutsch Wikipedia

  • Organisation Ukrainischer Nationalisten — Die Organisation Ukrainischer Nationalisten (ukrainisch: Організація Українських Націоналістів; deutsche Abkürzung: OUN) war eine ukrainische politische Bewegung, ihr Ziel war die Unabhängigkeit der Ukraine. Sie entstand durch den Zusammenschluss …   Deutsch Wikipedia

  • Friede von Riga (1921) — Im Polnisch Sowjetischen Krieg von 1920 (russisch Советско польская война, Sowetsko polskaja woina; polnisch Wojna polsko bolszewicka) standen sich der wiederentstandene polnische Staat sowie das postrevolutionäre Sowjetrussland gegenüber.… …   Deutsch Wikipedia

  • Sowjetisch-Polnischer Krieg — Im Polnisch Sowjetischen Krieg von 1920 (russisch Советско польская война, Sowetsko polskaja woina; polnisch Wojna polsko bolszewicka) standen sich der wiederentstandene polnische Staat sowie das postrevolutionäre Sowjetrussland gegenüber.… …   Deutsch Wikipedia

  • OUN — Die Neutralität dieses Artikels oder Abschnitts ist umstritten. Eine Begründung steht auf der Diskussionsseite. In diesem Arti …   Deutsch Wikipedia

  • Lutsk — Luzk (Луцьк) …   Deutsch Wikipedia

Share the article and excerpts

Direct link
Do a right-click on the link above
and select “Copy Link”