- Curzon-Linie
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Die Curzon-Linie (benannt nach dem damaligen britischen Außenminister George Curzon) war nach dem Ersten Weltkrieg am 8. Dezember 1919 in Paris unter Bezugnahme auf die Muttersprache der jeweiligen Mehrheitsbevölkerung als polnisch-russische Demarkationslinie vorgeschlagen worden.
Inhaltsverzeichnis
Ausgangslage
Unmittelbar nach dem Ersten Weltkrieg war die Frage nach der politischen Grenze des 1916 neu gegründeten polnischen Staates zunächst weitgehend offen gewesen. Die zwischenstaatliche, völkerrechtlich anerkannte Grenze zwischen Polen und Deutschland wurde durch den Versailler Friedensvertrag festgelegt. Weiterhin offen geblieben war jedoch zunächst die Frage nach der Ostgrenze Polens. Es schien nach dem Selbstbestimmungsrecht der Völker naheliegend, als Kriterium für die Grenzfestlegung gegenüber Sowjetrussland die (Mutter-)Sprachmehrheit zu wählen, also die Ostgrenze Polens nach Maßgabe seiner ethnographischen Grenze zu ziehen, was insbesondere der polnische Politiker Roman Dmowski seit langem gefordert hatte.[1] Dieser Ansicht schlossen sich die Westalliierten an, als sie am 8. Dezember 1919 die Curzon-Linie als vorläufige Demarkationslinie zwischen Polen und Sowjetrussland verkündeten.[2] Den Namen „Curzon-Linie“ erhielt die Demarkationslinie erst im Juli 1920, nachdem sie im Zusammenhang mit den Waffenstillstandsverhandlungen der Alliierten im Polnisch-Sowjetischen Krieg vom britischen Außenminister Lord Curzon im Protokoll von Spa als Waffenstillstandslinie vorgeschlagen worden war.[3]
Doch weder alle Polen noch Russland akzeptierten den Vorschlag zur Grenzziehung. Unvereinbar mit dem Grenzvorschlag der Curzon-Linie war das Föderationskonzept Józef Piłsudskis, das die Restauration Polen-Litauens in den vor den Teilungen bestehenden Grenzen vorsah. Piłsudskis Konzept der polnisch-litauisch-weißrussisch-ukrainischen Föderation standen vielfältige Interessen entgegen (nationale Interessen bzw. Nationalismus Litauens, Weißrusslands, der Ukraine sowie von Großrussen, Lenins Konzept der Weltrevolution). Unter Piłsudski wurde die Ostgrenze Polens bis 1923 weit über die Curzon-Linie hinaus nach Osten verschoben: 1919 wurde zunächst Ostgalizien mit Waffengewalt erobert, 1921 Wolhynien und 1920/22 noch das Wilna-Gebiet. In den neu eroberten Gebieten befand sich der polnische Bevölkerungsanteil in der Minderheit. In dem russisch-litauischen Gouvernement Wilna beispielsweise lag der polnische Bevölkerungsanteil im Jahr 1897 bei lediglich 8,2 %, während Weißrussen 61,2 %, Litauer 17,6 % und Juden 12,8 % stellten.[4] Nach einer von der britischen Tageszeitung The Times 1944 durchgeführten Schätzung lebten im Jahr 1931 östlich der Curzon-Linie 2,2 bis 2,5 Millionen Polen.[5] Neueren Schätzungen zufolge lebten vor dem Zweiten Weltkrieg in den Gebieten östlich der Curzon-Linie rund 3 Millionen Polen, von denen 2,1 Millionen[6] bis 2.2 Millionen[7] das Land verließen.
Am 17. Juli 1920 hatte Sowjetrussland Polen eine weitaus günstigere Grenze östlich der Curzon-Linie vorgeschlagen und damit begründet, dass die Curzon-Linie teilweise unter dem Druck polenfeindlicher, imperialistischer Forderungen der von den Alliierten unterstützten russischen „Weißen“ festgelegt worden sei.[8]
Im Polnisch-Sowjetischen Krieg 1919–21, der mit dem Frieden von Riga endete, konnten weder Polen noch Sowjetrussland ihre Kriegsziele durchsetzen. Sowjetrussland gelang es nicht, seine Einflusssphäre nach Westen auszudehnen, aber auch das polnische Ziel einer Wiederherstellung Polens in den vor den Teilungen bestehenden Grenzen wurde nicht erreicht. Dennoch wurde die Grenze weit östlich der Curzon-Linie festgelegt.
Der heutige Verlauf der Ostgrenze Polens stimmt hingegen weitgehend mit der 1919 vorgeschlagenen Curzon-Linie überein.
A-Linie
Die Curzon-Linie in der Version „A“ verläuft in etwa vom Südende des Wystiter Sees nach Südosten, dann kurz vor Hrodna (Grodno) nach Süden, verläuft am Fluss Bug entlang und knickt schließlich nach Südwesten ab, bis die Bieszczady nahe dem Lupkapass erreicht wird.
Am Verlauf der nach dem Ersten Weltkrieg vorgeschlagenen Grenzlinie orientiert sich der Deutsch-sowjetische Nichtangriffspakt und der Deutsch-Sowjetische Grenz- und Freundschaftsvertrag, es gab einige Abweichungen zugunsten der Sowjetunion (Bialystok).
B-Linie
Die Curzon-Linie „B“, die auch 1945 von Roosevelt als östliche Grenze Polens vorgeschlagen wurde, verlief ähnlich wie die Curzon-Linie der A-Version, beließ jedoch Lemberg und Drohobycz auf der polnischen Seite.
Direkt westlich dieser Linie (in Zentral-Polen) dominierten mit großem Abstand die Polen. Zugleich lebten westlich der Curzon-Linie zwischen Warschau und Lublin etwa 1,5 Mio. Ukrainer. In den Gebieten östlich davon stellten die Ukrainer und Weißrussen die Mehrheit, es lebten dort aber auch viele Polen (laut der polnischen Volkszählung von 1919 etwa 25 %, nach der Amtszeit Piłsudskis 1936 etwa 36 % der Bevölkerung). In den Städten lebten viele Bürger jüdischen Glaubens, während die Landbevölkerung überwiegend russisch- oder ukrainisch-orthodox war.
Zweiter Weltkrieg
Im Hitler-Stalin-Pakt entsprach die Teilungslinie in etwa der Curzon-Linie, die Sowjetunion konnte die Gebiete östlich der Linie 1939 zurückgewinnen, wie es 1919 vorgesehen worden war. Die britische Regierung war während des gesamten Verlaufs des Zweiten Weltkriegs konsequent der Ansicht, dass die Ostgrenze Polens nach Kriegsende auf der Grundlage der Curzon-Linie festzulegen sei.[9] Auf der Konferenz von Teheran hatten Churchill und Roosevelt schließlich Stalins Forderung nach der Curzon-Linie als neue polnische Ostgrenze zugestimmt.[10]
Als Nachkriegsregelung vereinbarte die Sowjetunion auf der Konferenz von Jalta (4. bis 11. Februar 1945) eine Grenze, die mit einigen Vergünstigungen zugunsten Polens annähernd der Curzon-A-Linie entsprach. Die polnische Regierung nahm an der Konferenz nicht teil – weder die Londoner Exilregierung noch die prosowjetische Lubliner Regierung.
Während des Zweiten Weltkriegs und im Anschluss daran kam es, neben dem Völkermord an russischen und jüdischen Einwohnern vor 1945, nach 1945 zu Vertreibungen, vor allem von Polen aus den Gebieten östlich der Curzon-Linie und von Ukrainern westlich der Linie durch die Sowjetunion. Die Betroffenen waren gewöhnlich vor die Wahl gestellt worden, entweder eine andere Staatsangehörigkeit anzunehmen oder aussiedeln zu müssen.
Einzelnachweise
- ↑ Paul Roth: Die Entstehung des polnischen Staates - Eine völkerrechtlich-politische Untersuchung (= Öffentlich-rechtliche Abhandlungen, herausgegeben von Heinrich Triepel, Erich Kaufmann und Rudolf Smend, 7. Heft), Verlag Otto Liebmann, Berlin 1926, insbesondere S. 133-142.
- ↑ Gotthold Rhode: Kleine Geschichte Polens. 1. Auflage, Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 1964, S. 466 ff.
- ↑ Ellinor von Puttkamer: Die Curzon-Linie als Ostgrenze Polens. In: Die Wandlung, Band 2, 2. Heft (15. April 1947), Verlag Lambert Schneider, Heidelberg, S. 175-183.
- ↑ Meyers Großes Konversationslexikon, 6. Auflage, 20. Band: Veda bis Zz, Bibliographisches Institut, Leipzig und Wien 1909, vgl. Stichwort Wilna auf S. 655 und Stichwort Wolynien auf S. 744f.
- ↑ The Times vom 12. Januar 1944, zitiert nach Alexandre Abramson (Alius): Die Curzon-Linie. Europa Verlag, Zürich 1945, S. 45.
- ↑ Jörg-Detlef Kühne: Veränderungsmöglichkeiten der Oder-Neiße-Linie vor 1945. 2. Auflage, Nomos, Baden-Baden 2007, Fußnote 2.
- ↑ Manfred Alexander: Kleine Geschichte Polens. 2. Auflage, Reclam, Stuttgart 2008, S. 321
- ↑ Potjomkin (Hrsg.): Geschichte der Diplomatie, III-1, Berlin 1948, S. 99 und 104.
- ↑ Ludwik Gelberg: Die Entstehung der Volksrepublik Polen. Die völkerrechtlichen Probleme (aus dem Polnischen übersetzt von Barbara Bönnemann-Wittek), Atnenäum Verlag, Frankfurt/M. 1972, ISBN 3-7610-2614-5, S. 86.
- ↑ Jerzy Lukowski, Hubert Zawadzki: A concise history of Poland. Cambridge University Press, Cambridge 2001, ISBN 0-521-55109-9, S. 238.
Literatur
- Kordan Bohdan: Making Borders Stick. Population Transfer and Resettlement in the Trans-Curzon Territories, 1944–1949. In: International Migration Review. 31, (1997), No. 3., S. 704–720.
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