Prozessschutz

Prozessschutz

Prozessschutz ist eine Naturschutzstrategie, die vom deutschen Forstökologen Knut Sturm geprägt wurde. Sie beruht im engeren Sinne auf dem Nicht-Eingreifen in die natürlichen Prozesse von Ökosystemen, daneben auch auf der Integration von Naturschutzbelangen in umweltfreundlichen Nutzungen in der Kulturlandschaft.[1]

Diese Strategie ist nicht geeignet für die Erhaltung unveränderlicher Soll-Zustände, wie es bei verschiedenen Pflegestrategien der Fall ist. Der Schwerpunkt liegt stattdessen auf der Erhaltung der natürlich-dynamischen Prozesse, die zu neuen - nicht exakt vorhersehbaren - Systemzuständen führen.

In diesem Zusammenhang sind natürliche und nutzungsbedingte Störeinflüsse (wie Sturm, Wildfeuer, Überalterung eines Baumbestandes, Schädlinge u.ä.) für eine solche Entwicklungsdynamik von großer Bedeutung. Dabei werden zwar immer wieder einzelne Habitattypen oder Teile davon zerstört, zugleich schaffen sie jedoch neuartige Lebenssituationen und verändern das Konkurrenzgefüge zwischen den Arten. Die Sukzession beginnt von neuem, Regenerationszyklen werden neu realisiert oder modifiziert. Die natürliche Selektion wird angeregt, so dass sich der Genpool der beteiligten Arten regenerieren kann und das dynamische Gleichgewicht des Ökosystems stabilisiert wird.

Damit ist der Prozessschutz im Grundsatz ein Spiegelbild der natürlichen Prozesse in der Wildnis. Man unterscheidet allerdings zwischen segregativem und integrativem Prozessschutz.

Inhaltsverzeichnis

Entwicklung

Grundlage für die Idee des Prozessschutzes war die Revision des aus den 1970er Jahren stammenden Paradigmas des "ökologischen Gleichgewichtes". Der US-Naturschutzbiologe Daniel Botkin wies in seinem 1990 erschienen Buch Discordant Harmonies das Scheitern vieler wissenschaftlich begründeter Managementbemühungen in US-Nationalparks und dem Fischereimanagemnt aufgrund überholter Naturschutz-Mythen nach. Er plädierte für einen Schutz der "natürlichen Prozesse". Steward Picket schlug dafür 1992 die Begrifflichkeit des "flux of nature"[2] vor. Wichtig für die Neue Sicht war das Mosaik-Zyklus-Konzept von Hermann Remmert. Mit ihm machte der Ökologe deutlich, wie sehr die Wertung eines Ökosystems von Stabilitätsdefinition als auch von der Betrachtungsebene und dem Betrachtungszeitraum abhängen.

Natur Natur sein lassen ist das Motto des NP Schleswig-Holsteinisches Wattenmeer. Die ablaufenden Prozesse zu beobachten ohne einzugreifen gilt als anzustrebendes Ideal, wie hier in der Amrumer Dünenlandschaft

Segregativer Prozessschutz

Nur beim segregativen Prozessschutz steht die vollkommen ungesteuerte Naturentwicklung zu wildnisähnlichen Lebensräumen im Mittelpunkt. Sie wird vor allem bei der Wiederherstellung wildnisähnlicher Gebiete in Kulturlandschaften angewendet (siehe Wildnisentwicklungsgebiete).

Integrativer Prozessschutz

Beim integrativen Prozessschutz findet eine Bewertung der natürlichen Prozesse statt, die entsprechend der bewusst formulierten Ziele einer bestimmten Landschaftsentwicklung zugelassen oder verhindert werden. Allerdings galt dies im ursprünglichen Sinne nur auf begrenzten, mosaikartigen Teilflächen in Wirtschaftswäldern. Das heißt, die natürliche Dynamik von "Wildnis- (sprich: Urwald-) inseln" im Wirtschaftswald soll genutzt werden [3].

Einsatzgebiete

Neben den bereits genannten Wildnisentwicklungsgebieten wird der Ansatz des Prozessschutzes auch in Nationalparks, wie im "Nationalpark Vorpommersche Boddenlandschaft" [1], "Nationalpark Kellerwald-Edersee" [2] oder "Nationalpark Bayerischer Wald" [3], als Leitbild verwendet.

Konflikte

Laien setzen Prozessschutz oft mit bloßem "Nichtstun" gleich, was gegebenenfalls in Konflikten mit den "Ausführenden" mündet. So führte z.B. der Prozessschutz im Nationalpark Bayerischer Wald (der seit Mitte der 90er Jahre von starkem Borkenkäferbefall betroffen ist) zu heftigen Diskussionen zwischen Befürwortern und Gegnern des Prozessschutzkonzepts.

Naturschutzfachliche Definition nach Jedicke

Die aktuelle Prozessschutz-Definition aus Jedicke 1998, S. 233 [4]: "Prozessschutz bedeutet das Aufrechterhalten natürlicher Prozesse (ökologischer Veränderungen in Raum und Zeit) in Form von dynamischen Erscheinungen auf der Ebene von Arten, Biozönosen, Bio- oder Ökotopen, Ökosystemen und Landschaften. Prozeßschutz zielt sowohl auf den Erhalt

  • anthropogen ungesteuerter Dynamik auf mindestens aktuell ungenutzten Flächen unter Einfluss von Sukzessionsprozessen auf durch den Menschen veränderten bzw. beeinflussten Standorten, welche zu naturnäheren Stadien führen können (Prozessschutz im engeren Sinne oder segregativer Prozeßschutz)

als auch

  • von Nutzungsprozessen, welche eine Kulturlandschafts-Dynamik mit positiven Auswirkungen auf Naturschutzziele (des Arten- und Biozönosen-, Biotop-, abiotischen Ressourcen- und Kulturlandschaftsschutzes) als Nebeneffekt bedingen, ohne dass gezielt betriebene Pflegeeingriffe stattfinden (Nutzungsprozeßschutz oder integrativer Prozeßschutz)."

Kritik

Der Naturschutzbiologe Reinhard Piechocki argumentiert, dass auch der Schutz „natürlicher Prozesse“ dominiert sei von menschlichen Vorstellungen vor allem der „Wildnis“.

„Obwohl der Prozesschutz vorgibt, primär naturwissenschaftlich zu argumentieren, löst er sich nicht von den ganzheitlich-organizistischen Naturvorstellungen, denn es geht im letztlich nicht um den Schutz ökologischer Prozesse an sich, sondern um die Verwirklichung idealtypischer, wildnisgeprägter Naturbilder.“

Reinhard Piechocki, 2007[5]

Einzelnachweise

  1. Jedicke: Raum-Zeit-Dynamik in Ökosystemen und Landschaften, Naturschutz und Landschaftsplanung 30 (1998), S. 229, 233.
  2. Ziteiert nach R. Piechocki (2007): Landschaft-Heimat-Wildniss. Bek`sche Reihe S. 108
  3. K. Sturm: Prozeßschutz – ein Konzept für naturgerechte Waldwirtschaft. Zeitschrift für Ökologie und Naturschutz 2 (1993), S. 181-192
  4. http://www.waldwildnis.de/cd/archiv/boehmer/lit_page.htm
  5. Piechocki (2007): Landschaft-Heimat-Wildnis. Schutz der Natur - aber welcher und warum? Becksche Reihe.

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