Wildnis

Wildnis
Heide: Früher ein Synonym für Wildnis, aus heutiger Naturschutzsicht jedoch keine Wildnis
Garten-„Wildnis“
Tiger, angewiesen auf großflächige Wildnisgebiete

Wildnis ist die vom Menschen weitgehend unbeeinflusste Natur in Abgrenzung zur Kulturlandschaft.

Inhaltsverzeichnis

Begriffsgeschichte

Etymologie

Der Begriff Wildnis[1] tauchte erstmals im 15. Jahrhundert in den mittelhochdeutschen Formen „wiltnisse“, „wiltnis“, „wiltnüsse“, oder „wiltnus“ im deutschen Schrifttum auf. Ab dem 17. Jahrhundert setzt sich langsam die Form „Wildnis“ durch. Die gleichbedeutenden Wörter in den anderen germanischen Sprachen enthalten fast immer den Wortbestandteil „wild“, der in den meisten Sprachen sehr ähnlich klingt und auf die (rekonstruierte) urgermanische Wurzel *wilthiz zurückgeführt wird. Deutsch, Englisch, Holländisch: wild, Schwedisch, Dänisch: vild'#, Norwegisch: vill, Isländisch: villtur.

Synonyme für Wildnis sind allgemein „Abgeschiedenheit“, „Menschenleere“, „Einöde“, „Ödland“ (öde(n) ursprünglich ebenfalls „unbewohnt“, aber auch „unbebaut“)[2]. Das Wort wird heute vorwiegend stellvertretend für unbewohnte Landschaften wie „Steppe“, „Wüste“, „Urwald“, „Heide“, „Moor“ u. Ä. verwendet. Darüber hinaus steht Wildnis jedoch auch für solch negativ belegte Begriffe wie „Unfruchtbarkeit“, „Trostlosigkeit“, „Nutzlosigkeit“, „Verbannung“ oder „Kulturlosigkeit“.[3][1]

Der Wildnisbegriff im geschichtlichen Kontext

In frühen (Ackerbau-)Kulturen bildete das bewirtschaftete Kulturland nur Inseln in einer großen Wildnis. Wo das Kulturland mit der Zeit zu einer zusammenhängenden Fläche zusammenwuchs, kehrte sich die Situation um. Die restlichen Wildnisinseln wurden ursprünglich als Forst bezeichnet. Einerseits sicherten sich viele Herrscher ausgedehnte Jagdreviere, die nicht urbar gemacht werden durften und daher lange Zeit ihren Wildnischarakter behielten. Zum anderen gab es Grenzwälder entlang strittiger Grenzen wie den Sachsenwald (Limes Saxoniae) zwischen sächsischem und slawischem Siedlungsgebiet im heutigen Schleswig-Holstein. Derartige Grenzwildnisse wurden mancherorts durch Verwüstung von Siedlungen in jahrzehnte-, ja jahrhundertelangen Kleinkriegen künstlich erhalten. So wurde z.B. der Süden (späteres Masuren) und Osten des preußischen Ordenslandes zunächst gezielt entvölkert und erst nach vertraglicher Grenzfestlegung (Frieden von Melnosee) wieder besiedelt [4]. Derartige Gebiete wurden an den Ostgrenzen des deutschen Sprachgebietes allgemein als Wildnisse bezeichnet. So ist auch die mittelalterliche Wildnis Bauske im Baltikum im Zusammenhang mit den Litauerzügen des Deutschen Ordens entstanden.

Entwicklung des Konzepts der Wildheit

Das altehrwürdige Wörterbuch der Gebrüder Grimm gibt Auskunft über die Bedeutung des Wortes in historischer Zeit. Da heißt es z. B. „die grundbedeutung ist eine weitere, als der heutige gebrauch vermuthen läszt. das wort bezeichnet (…) ganz allgemein ‚wildheit, etwas wildes‘, sowohl zuständlich als gegenständlich (…) der alten sprache fremd ist die heutige bildliche verwendung von wildnis für ‚üppigwuchernde fülle, hemmende noth, geistige verwirrung‘“. Weiter steht dort: „die gewöhnliche, ältere Vorstellung scheint fast nur die unfreundlichen Züge des bildes zu bemerken.“ So spricht Luther von der „grausamen wildnusz“ oder benutzt den Begriff für „Verwirrung“, „verwildern“ und „verirren“, während Schambach Wildnis und Anarchie gleichsetzt.[1]

Die ursprünglich negative Belegung des Begriffes zeigt, dass die Abneigung gegen die Wildnis tief in uns verwurzelt ist. Bei unseren Vorfahren war die Wildnis der Gegenpart zur Kultur: die ungezähmte, gefährliche und unkontrollierbare Urnatur, das „Unbewohnbare“, die allenfalls nur störend in die vom Menschen geschaffene Kultur, die Ökumene, eingreift.

Im Zeitalter der Aufklärung wurde der Begriff zunehmend positiv belegt. Er findet sich in Ausdrücken wie „wildromatische Landschaft“ oder „wilde Bergwelt“ als Inbegriff des Naturschönen oder des Reizvoll-Abenteuerlichen, sowie im Konzept des edlen Wilden als Verkörperung des verlorenen Garten Edens im Sinne Rousseaus. Diese Vorstellungen finden ihre Fortsetzung in der auf die amerikanischen Romantiker zurückgehende Wilderness-Bewegung, die die Wildnis als Leitbild des „Freien“ sieht, ähnlich wie im modernen Naturschutzgedanken.

Bis heute liegt dem Begriff die beschriebene Mehrdeutigkeit zugrunde (etwa: Wildbach als der ungezähmte, unverbaute, und überschwemmungsgefährliche Fluss; dagegen Wildwasser als sportlich herausforderndes Ambiente). Der Historiker Roderick Nash sieht das Substantiv „Wildnis“ als irreführende Verdinglichung des Adjektives „wild“. Er schreibt: „Es gibt Wildnis nicht als eigentliches, materielles Objekt. Der Terminus beschreibt eine Eigenschaft (…), die in einem bestimmten Individuum eine bestimmte Stimmung oder ein bestimmtes Gefühl erzeugt.“ Tatsächlich ist der heutige Gebrauch des Wortes sehr mehrdeutig. Während der eine damit seine Abneigung gegen einen verwilderten Garten ausdrückt, spricht der andere respektvoll von der „Weisheit der Wildnis“. Der Ökologe Wolfgang Scherzinger bezeichnete diesen Widerspruch im Wildnisbegriff als „Spannungsfeld zwischen Ehrfurcht und Furcht, Staunen und Schauern, Begeisterung und Bestürzung, Sehnsucht und Angst, Geborgenheit und Hilflosigkeit“[5].

Sinn der Wildnis für Menschen und Wildnisdebatte

Aktuell wird die Rolle der Wildnis unter dem Stichwort Wilderness oder Wildnisdebatte diskutiert. [6] Sie betrifft einen weitverbreiteten Wandel der Wahrnehmung des Waldes und Bergen als bedrohten, sensiblen und schützenswerten Ökosystemen zu einer regelrechten Sehnsucht, einem Wunsch nach Wildnis als kulturellem Phänomen.[7]. Die dazu notwendige aktive Wiederherstellung von Wildnis durch aktives menschliches Zutun erscheint paradox, was in Titeln wie „Beim nächsten Wald wird alles anders“ oder „Wa(h)re Wildnis“ zum Ausdruck kommt. [8]. Darüber hinaus kommen ästhetische Punkte zum Tragen - Urwälder werden akzeptiert und gefordert, Borkenkäferbefall, Windwurfflächen und Waldbrandfolgen sollen aber möglichst schnell wieder beseitigt werden. [9]

Eine der wesentlichen Motivationen, die Wildnis aufzusuchen oder sie im Naturschutz als - Leitbild zu formulieren, liege in ihrem Kontrast zur modernen Zivilisation wie in Freiheitserfahrungen im weitesten Sinn[6]. Drei Freiheitsaspekte werden in deutschen Quellen unterschieden. Zum einen die Waldfreiheit des konservativen Wilhelm Heinrich Riehls, der im Rahmen einer organisch-konservativen Weltanschauung den Wald als Jungbrunnen des Volkes charakterisierte. Dem gegenüber steht eine aufklärerisch-liberale Perspektive einer emanzipatorischen Freiheit und Autonomie in der Wildnis und Natur wie als dritter Aspekt das romantisch innerliche Freiheitsgefühl.[10]. Dabei unterscheiden sich der mitteleuropäische Wildnisbegriff durchaus von der älteren Wildernessdebatte in den USA. [11] Ursachen liegen unter anderem im sinkenden Flächenbedarf in der Land- und Forstwirtschaft, der Entscheidungen über die Verwilderung zahlreicher Flächen notwendig macht. [12]

Aus philosophischer Sicht kommt bei der Wildnisdebatte unter dem Stichwort Wildnis und Tod die vergleichsweise kurze Lebensspanne des Menschen zum Ausdruck. Langfristige Entwicklungen in der Natur können wir nur episodisch begleiten. Bei der Borkenkäfer-Diskussion im Bayerischen Wald gingen Menschen auf die Straße, die das für andere Anliegen nie getan hätten, mit Aussagen wie "Was nützt es uns, wenn in 70 Jahren ein neuer Wald entstehen wird. Wir haben nichts mehr davon". Unterschwellig bedingt die Möglichkeit, in der Wildnis zu sterben zu können, vielleicht den stärksten Widerstand beim Versuch, Wildnis zu akzeptieren. Echte Wildnis ist ein Naturraum, der in der Lage ist, den Menschen - je nach dessen Fähigkeiten - in seiner physischen Existenz zu gefährden. Wildnis beginnt für jeden dort, wo er - bewusst oder unbewusst und je nach persönlicher Disposition - Lebensgefahr spürt.[13]

Heutige rechtliche Definitionen von Wildnis im Sinne des Naturschutzes

Seit mit dem Yellowstone-Nationalpark im Jahre 1872 das erste Mal ein großes Wildnisgebiet unter Schutz gestellt wurde, entstand die Notwendigkeit, den Begriff wissenschaftlich zu definieren. Wie man an den folgenden Definitionsversuchen sehen kann, sind die Vorstellungen je nach Urheber, Staat oder Vegetation sehr unterschiedlich.

Conservation International

Als Wildnis im Sinne der Conservation International gelten Bereiche, in denen 70 oder mehr Prozent der ursprünglichen Vegetation erhalten sind, die mehr als 1.000.000 ha umfassen und in denen weniger als fünf Menschen pro Quadratkilometer leben. (Nach dieser Definition werden weltweit 37 Gebiete differenziert)

International Union of Conservation Nature

Die International Union for Conservation of Nature and Natural Resources (IUCN) definiert Wildnis ebenfalls weniger abhängig von der Flächengröße und mehr im Hinblick auf auszuweisende Schutzgebiete (Wilderness Area IUCN Ib):[14]

„Als Wildnis gilt ein ausgedehntes, ursprüngliches oder leicht verändertes Gebiet, das seinen ursprünglichen Charakter bewahrt hat, eine weitgehend ungestörte Lebensraumdynamik und biologische Vielfalt aufweist, in dem keine ständigen Siedlungen sowie sonstige Infrastrukturen mit gravierendem Einfluss existieren und dessen Schutz und Management dazu dienen, seinen ursprünglichen Charakter zu erhalten.“

Neuseeland

Wildnis definiert sich in Neuseeland durch unbewohnte Gebiete, für die man „mindestens zwei Tagesmärsche zur Durchquerung benötigt.“, das entspricht zwischen 150.000 – 500.000 ha[15]

Vereinigte Staaten

Unter das Gesetz zum Schutz der Wildnis von 1964 (Wilderness Act) fallen in den Vereinigten Staaten mindestens 2.000 ha große, unbesiedelte, natürliche Landschaften oder Inseln, die auch kleiner sein dürfen. Wilderness Areas werden vom US-Kongress durch Gesetz gewidmet. Es gibt 702 (Stand 2007) Wilderness Areas in 44 der 50 US-Bundesstaaten und in Puerto Rico.

Schweden

Die größten, verbliebenen Wildnisgebiete Westeuropas liegen in Skandinavien. So spielt die Größe bei den schwedischen Definitionen die vorrangige Rolle. Finden sich keine Wanderwege oder touristische Anlagen in zusammenhängenden Gebieten, die größer als 100.000 ha sind und mehr als 15 km von Straßen oder Eisenbahnlinien entfernt liegen, spricht man von „Wildniskernen“. Alle weiteren unbesiedelten Gebiete von mindestens 1.000 ha (Süd- und Mittelschweden) bzw. 2.000 ha (Nordschweden), die nicht schmaler als 1 km sind, werden als „Weglose Gebiete“ erfasst[16].

Mitteleuropa

In den Ländern, wo ursprüngliche Wildnis nahezu nur noch in den höchsten Bergregionen zu finden ist (z. B. gelten noch 4 % der Alpen als Wildnis[17]), geht es vorwiegend um die Ermittlung der tatsächlichen Mindestgröße, die Wildnisgebiete haben müssen, um langfristig in ihrer typischen Ökologie mit allen notwendigen, natürlichen Prozessen ohne menschliche Eingriffe bestehen zu können oder neu zu entstehen. So hält der NABU Deutschland für „neue“, geschützte Waldwildnis mindestens 40 ha für erforderlich. Die angestrebte Flächengröße sollte jedoch mindestens 1.000 ha betragen. Die Frage der Flächengröße ließe sich jedoch zur Zeit nicht wissenschaftlich, sondern zunächst einmal nur politisch begründen.[18] Das Bundesamt für Naturschutz (BfN) schätzt den Wildnisgebietsanteil in Deutschland auf „etwa 0,5 Prozent der Landfläche“[19] (ungefähr 1800 Quadratkilometer). Für "neue" Wildnis- und Wildnisentwicklungsgebiete schlägt das BfN Mindestflächen von 500 ha vor.[20]

In Niederösterreich gibt es mit dem Wildnisgebiet Dürrenstein mit 2400 ha Fläche das größte zusammenhängende anerkannte Wildnisgebiet Mitteleuropas.

In der Schweiz gelten Gebiete, die seit länger als 50 Jahren nicht mehr genutzt wurden und mindestens 600 ha umfassen als schutzwürdige Wildnisparks[21].

In Mitteleuropa (außer Deutschland) werden unbesiedelte Gebiete über 10.000 ha als „siedlungsferne Wildnis“ bezeichnet.[22] Nach einer Untersuchung des WWF befinden sich nur 2 Prozent der Waldfläche Europas gegenwärtig in einem natürlichen Zustand.

Primäre Wildnis

Bestand

Unberührte Naturlandschaft im Naturreservat Vindelfjäll (S)

Eine Gruppe von 200 Experten der Naturschutzorganisation Conservation International (CI, s. o.) hat errechnet, dass im Jahre 2002 noch 46 % der Landoberfläche unberührte und damit schützenswerte Wildnis war[23]. 1996 kam CI noch auf 52 %. Der größte Anteil liegt in Fels-, Eis- oder Wüstenregionen, die ohnehin nicht besiedelt werden können. Betrachtet man nur die bewohnbaren Regionen, sind noch rund 25 % wild[24]. Die unterschiedlichen Maßstäbe für Wildnis werden auch dadurch deutlich, dass andere Organisationen zu völlig verschiedenen Ergebnissen kommen. So hat die „Wildlife Conservation Society“ mit Hilfe von Satellitenaufnahmen einen Wert von 26 % Last of the wild ermittelt. Nach National Geographic waren 2008 noch 17 % der eisfreien Erdoberfläche (inkl. der Meere!) ohne menschliche Eingriffe bzw. ohne Anzeichen menschlichen Tuns [25] während die IUCN lediglich 10,9 % relativ unberührte Natur annimmt (Stand 2003).

In Mitteleuropa ist der Wildnisanteil nur noch verschwindend gering. So schätzt z.B. Panek, dass der Anteil urwaldähnlicher (unversehrter) Rotbuchenwälder am gesamten Buchenwald europaweit bei weit unter 5 % liegt. Auf die gesamte Fläche von 90,7 Mio. ha bezogen, auf der ohne menschliche Eingriffe Buchenwald wachsen würde, ergibt sich somit ein Urwaldanteil von unter 0,5 %.[20]

Karte

Die Wildnisse der Welt Anfang des 21. Jahrhunderts
Die Grundlage der Karte ist die ursprüngliche Vegetation der Erde, präziser die potentielle, klimatogene Zonierung. Darüber ist als ziegelrote Fläche der menschliche „Fußabdruck“ aus der UNEP-Karte Human Impacts on the Biosphere 2002[26] gelegt. Sie zeigt sämtliche Siedlungs- und Verkehrsflächen auf der Erde, sowie einen etwa 5 km breiten Saum um diese Flächen, und erfasst den direkten Einflussbereich des Menschen auf die Natur. Weitere Informationen über den Zustand der Natur in den übrigen unbesiedelten Gebieten entstammen Erhebungen von Greenpeace über den Zustand der Wälder, sowie verschiedene Atlaskarten über Flächen intensiver Nutzung. Diese Flächen sind hier gesprenkelt dargestellt. Die Flächen, die weder gesprenkelt noch rot bedeckt sind, geben eine Übersicht über die Vegetationsformen unbesiedelter Gebiete und weitgehend unbeeinflusster Wildnis (Primärwildnis, marginal-extensiv besiedelte Räume, und vom Menschen historisch aufgegebene Siedlungsgebiete). – Version in höherer Auflösung


Qualität

Wisent als Beispiel für große Pflanzenfresser in der Wildnisentwicklung

Die hier dargestellten Wildnisgebiete beziehen sich wohlgemerkt nur auf die Faktoren Besiedlung, Vegetation und Nutzung, so dass daraus nicht grundsätzlich auf vollkommen intakte Naturzusammenhänge geschlossen werden kann. Vor allem die Zusammensetzung der Tierwelt wird nicht berücksichtigt, obwohl Anzahl und Artenspektrum der Tiere natürlich einen wesentlichen Einfluss auf das Aussehen der Landschaft haben! Besonders deutlich wird dies bei einem Blick auf Mitteleuropa, wo die Veränderung des Artenspektrums durch menschliche Einflüsse nicht erst seit dem 20. Jahrhundert stattfindet. Bereits im Laufe des Mittelalters wurden die großen Weidetiere Auerochse, Elch, Wildpferd und Wisent ausgerottet oder auf unbedeutende Restbestände dezimiert. Später kamen die großen Räuber Bär, Wolf und Luchs hinzu, so dass von einer natürlichen Zusammensetzung seit langem keine Rede mehr sein kann [27]. Eine ähnlich dramatische Dezimierung der Tierwelt findet zur Zeit vor allem in den tropischen Wildnisgebieten statt, wie man den Berichten der großen Naturschutzorganisationen allenthalben entnehmen kann. Weitere negative Einflüsse auf die Lebewelt der Wildnis gehen von der Luftverschmutzung aus. Hier spielt zum Beispiel die Versauerung der Böden oder der düngende Effekt der Stickstoffeinträge in der Nähe industrieller Zentren eine Rolle. Die größten Veränderungen der Natur wird jedoch der globale Klimawandel verursachen, der zu dramatischen Wetterextremen wie Überflutungen und Dürren, sowie zu einer Verschiebung der Klima- und Vegetationszonen nach Norden führt.

Indigene Bevölkerung

Einige Saami bringen den Touristen die Wildnis näher

Nahezu alle Wildnisregionen der Erde sind die Heimat indigener Völker, die sich dort seit der Erstbesiedlung an die speziellen Umweltbedingungen angepasst haben. Die wenigsten dieser Völker leben noch ausschließlich in ihrer traditionellen Lebensweise. In aller Regel nutzen die meisten die Wildnis jedoch nach wie vor extensiv und optimal an den jeweiligen Naturraum angepasst, indem sie die vorhandenen Ressourcen nachhaltig nutzen, ohne sie zu zerstören. Dabei wirken sie z.T. durchaus auf die Artenzusammensetzung ein, so dass sie als landschaftsverändernder Faktor ein wesentlichen Teil der jeweiligen Wildnisregion sind. So sind z.B. die Regenwälder Südamerikas auch eine vom Menschen geprägte Kulturlandschaft.[28] Obwohl indigene Naturvölker ein natürliches Interesse an der Unversehrtheit ihrer Umwelt haben, werden ihre Rechte in geschützten Wildnisgebieten von manchen Staaten nicht anerkannt. So steht z. B. im „Wilderness Act“ der USA (s. o.) eindeutig: „Wo der Mensch selbst ein Besucher ist, der nicht verweilt.“ Ähnliche imperialistische Repressalien gegen Indigene sind auch aus anderen Ländern wie Kanada, Brasilien oder Russland bekannt.[29] Häufig handelt es sich dabei um Landrechtskonflikte bei der Vergabe von Konzessionen zur Ausbeutung wertvoller Ressourcen an internationale Konzerne in Gebieten, die nie rechtswirksam von den Indigenen übereignet wurden. Da diese Menschen die Wildnis sehr genau kennen, wird von Umwelt- und Menschenrechtsorganisationen wie dem WWF[30] oder der Gesellschaft für bedrohte Völker[31] darauf hingewiesen, das Wissen der Indigenen zu nutzen, ihre traditionellen Lebensweisen zu achten.

Nutzwert

Trekking in der Waldwildnis des Tresticklan-Nationalparks (S)

Als Lebensraum bedrohter Tiere und Pflanzen spielen die verbliebenen Wildnisgebiete die wesentlichste Rolle zur Erhaltung der Artenvielfalt. Der größte Nutzen für den Menschen liegt vorrangig in ihrer Bedeutung als letzte intakte „Funktionszusammenhänge“ der Biosphäre. Dies wird besonders heute deutlich, seit der anthropogen verursachte Klimawandel die Stabilität der irdischen Lebensgemeinschaften bedroht. So erzeugen z. B. die Regenwälder große Mengen Sauerstoff und binden ebenso große Mengen Kohlendioxid. Zugleich bestimmen sie maßgeblich den Wasserhaushalt in den Tropen. Ähnlich wichtig ist die Speicherung des hoch-klimaschädlichen Methangases in den dauergefrorenen Torflagerstätten der Polargebiete. Grundsätzlich gelten intakte Naturgebiete als Garant für gesunde Böden, sauberes Wasser und saubere Luft. Darüber hinaus wird vor allem in den artenreichen Regenwäldern eine große Zahl noch unentdeckter Substanzen vermutet, die in der Medizin oder Chemie äußerst nutzbringend sein könnten. Die Nutzung dieser Ressourcen setzt jedoch intakte Ökosysteme voraus, die leider in großem Tempo immer weiter degradiert werden.

Ein weiterer, nicht zu vernachlässigender „Nutzwert“ der Wildnis liegt sicherlich auch in ihrer Bedeutung als „Regenerationsraum“ des modernen Menschen, denn sie übt auf viele Menschen eine große Faszination aus. Daher wird der Begriff „Wildnis“ in Werbung, Fernsehen (z. B. Tiere vor der Kamera) und Literatur oftmals verbunden mit Abenteuerlust und Ursprünglichkeit. Dabei wird allerdings meistens ein romantisiertes Bild aufgebaut, das den unerfahrenen Besucher, der die Wildnis einmal hautnah erleben möchte, schnell in gefährliche Situationen bringen kann. Insbesondere die Orientierung in weglosem Gelände stellt besondere Anforderungen an den Besucher. Echte Wildnis ist kein Garten Eden, sondern eher ein Naturraum, „der in der Lage ist, den Menschen – je nach dessen Fähigkeiten – in seiner physischen Existenz zu gefährden“ (Zitat Herwig Decker in [5]). Wer weglose Wildnisgebiete bereisen möchte, sollte sich daher für eine geführte Tour entscheiden.

Gefährdungen

Die derzeit vorrangige Nutzung primärer Wildnisregionen ist die intensive Ausbeutung der Rohstoffreserven wie Holz, Erdöl oder diverse Metallerze. Aufgrund der häufig damit verbundenen weitreichenden Naturzerstörung ist dies nicht mehr im Kontext „Nutzwert der Wildnis“ zu betrachten, da die Wildnis an dieser Stelle in genutztes Land umgewandelt wird und ihren „wilden Charakter“ damit eingebüßt hat. Die Verringerung der verbliebenen Wildnisflächen schreitet in erschreckendem Tempo voran.

Sekundäre Wildnis

Urwälder brauchen Zeit zur Entwicklung

Schon im ausgehenden 19. Jahrhundert gab es Stimmen, die die Erhaltung oder Wiederherstellung eines „Naturzustandes“ für einige Gebiete forderten. In dieser Zeit drohten die letzten Wälder der Verkohlung für die Metallverarbeitung zum Opfer zu fallen und es entstanden erste Naturschutzvereine.

Heute, wo in Mitteleuropa praktisch keine Primärwildnis mehr existiert, wurde der Gedanke in den 1990er Jahren aufgegriffen, geeignete Gebiete sich selbst zu überlassen und nicht mehr pflegend einzugreifen, wie es der Naturschutz bis dahin vorsah. Wald ist die potentielle natürliche Vegetation der größten Teile Europas. In Deutschland war einer der Vorreiter der Idee sekundärer Wildnis Hans Bibelriether, langjähriger Leiter des Nationalparks Bayerischer Wald, der sich für die Entwicklung neuer Urwälder im Park einsetzte. Neben wissenschaftlichen Gründen zur Erforschung natürlicher Prozesse wollte Bibelriether gegen die zunehmende Natur-Entfremdung ein Bewusstsein für Wildnis als „unzerstörten Naturschatz“ wecken.

Erst in neuerer Zeit hat man erkannt, dass eine große Anzahl geschützter Natur in Mitteleuropa nicht auf Wildnis, sondern auf ehemals extensiv genutzte Kulturlandschaften wie Heiden, Bergweidegebiete, Offenlandbereiche oder Hutewälder entfällt. Diese Lebensräume bedürfen der Pflege, um erhalten zu werden. Ohne diese Maßnahmen würden sie verbuschen und sich schließlich in Wälder verwandeln. Zum anderen hat sich aber auch gezeigt, dass die Primärwälder in Europa bis auf wenige Inseln verloren sind, und sich selbst überlassene Wälder nur in Ausnahmefällen in einen wie auch immer gearteten „Originalzustand“ verfallen können. Daher ist man von einem zu strengen Fokus auf den Unberührtheitsgedanken wieder abgekommen, und erarbeitet Konzepte von Landschaftspflege und integrierten Kulturlandschafts- und Sekundärwildnisbereichen.

Weltweit ist dort, wo der Mensch sich aus dem Landschaftsraum zurückzieht, in erster Linie Versteppung oder gar Wüstenbildung zu beobachten – ein Zustand, der, obwohl dem Wildnisbegriff genau entsprechend, als unerwünscht oder bedrohlich angesehen wird. Ob diese Prozesse als „natürlich“ gedeutet werden können, ist im Kontext Klimaveränderung/globale Erwärmung heute noch nicht geklärt.

Naturschutzkonzepte

Schutzgebiete

Die häufigste Schutzgebietsform für große, unzerstörte Naturräume ist die des Nationalparks, den es seit den 1870er-Jahren gibt. Als Reaktion auf die Wilderness-Bewegung des ausgehenden 19. Jahrhunderts gibt es in den USA bereits seit 1964 auch gesetzlich geschützte Wilderness Areas für primäre Wildnisregionen, die rund 4,7 % der amerikanischen Gesamtfläche (40 Mio. ha) umfassen (Stand Januar 2007). Die weitaus größten Gebiete davon liegen im Bundesstaat Alaska. Auf globaler Ebene wurden primäre Wildnisgebiete im Rahmen der Kategorienfindung der IUCN für international gültige Schutzgebietsstandards in die höchste Schutzstufe (Kategorie Ib) eingruppiert.

Obwohl sich alle großen Naturschutzorganisationen – u. a. CI dank einiger Millionenspenden – weltweit um den Wildnisschutz bemühen, waren im Jahre 2002 erst ca. 7 % der Primärgebiete tatsächlich geschützt[23].

Die größten Schutzgebiete nach Kontinenten:

Flächenunabhängige Konzepte

Dem Begriff des Wildnisgebiets liegt immer der eines zusammenhängenden Raums zugrunde.

Dr. Mario Broggi, der Leiter der Eidg. Forschungsanstalt für Wald, Schnee und Landschaft (WSL) hat eine von der Größe unabhängige Definition verfasst, die in der Literatur als „kleinster, gemeinsamer Wildnisnenner“ bezeichnet wird:[32]

„Unter Wildnis wird jener Raum verstanden, im dem wir jede Nutzung und Gestaltung bewusst unterlassen, im dem natürliche Prozesse ablaufen können, ohne dass der Mensch denkt und lenkt, im dem sich Ungeplantes und Unvorhergesehenes entwickeln kann.“

Prozessschutz

Der von dem deutschen Forstökologen Knut Sturm geprägte Begriff Prozessschutz wird in der Diskussion häufig mit Wildnisentwicklung gleichgesetzt. Zufällige, natürliche Vorgänge wie Sturm, Brand oder Schädlinge, die in der Wildnis ungehindert wirken können, spielen bei dieser Naturschutzstrategie durchaus eine wichtige Rolle (Zitat Sturm: „Störungen und Konkurrenz müssen wirken dürfen“). Allerdings galt dies im ursprünglichen Sinne nur auf begrenzten, mosaikartigen Teilflächen in Wirtschaftswäldern. Das heißt, die natürliche Dynamik von Wildnis- (sprich: Urwald-) inseln im Wirtschaftswald soll genutzt werden.[33]

Die neuere Definition erstreckt sich nicht mehr nur auf Wälder, und es wird nunmehr zwischen segregativem- und integrativem Prozessschutz unterschieden. Beim segregativen Prozessschutz steht die vollkommen ungesteuerte Naturentwicklung zu wildnisähnlichen Lebensräumen im Mittelpunkt. Dagegen findet beim integrativen Prozessschutz eine Bewertung der natürlichen Prozesse statt, die entsprechend den bewusst formulierten Zielen einer bestimmten Landschaftsentwicklung zugelassen oder verhindert werden.[34]

Umgesetzt werden diese Konzepte in Schutzgebieten mit der Deklarierung von Kernzonen, die vollkommen unberührt bleiben sollen, und Rand- und Pufferzonen, in denen anthropogene Einflüsse abgefangen werden, oder in verschiedenen Konzepten von Schutzgebietsklassen (Schongebiete, Sperrzonen, temporäre Regelungen).

Umsetzung

Nationalparke

Frei lebende Islandpferde im Nationalpark De Meinweg (NL)

Nach den international gültigen Kategorien der IUCN müssen in einem Nationalpark (Kategorie II) mindestens 75 % der Fläche sich selbst überlassen bleiben und dürfen in keiner Weise genutzt werden.

Dieser Standard findet sich auch im deutschen Bundesnaturschutzgesetz wieder: §24 (2) „Nationalparke haben zum Ziel, im überwiegenden Teil ihres Gebiets den möglichst ungestörten Ablauf der Naturvorgänge in ihrer natürlichen Dynamik zu gewährleisten.“ In Deutschland erreichen bis auf zwei Nationalparks alle diese strengen Anforderungen. Allerdings wird es noch viele Jahrzehnte dauern, bis in einem deutschen Nationalpark tatsächlich wieder von Wildnis gesprochen werden kann. In anderen Ländern orientiert man sich nicht unbedingt an den IUCN-Kategorien. Die Nationalparks der Niederlande unterliegen beispielsweise weitaus schwächeren Schutzkriterien, so dass hier noch weniger von der Entwicklung sekundärer Wildnis die Rede sein kann.

Andere Schutzkonzepte

Bereits in den 1970er Jahren begann man in Deutschland aus wissenschaftlichem Interesse kleine naturnahe Waldinseln als Dauerversuchsflächen (Naturwaldreservate, Naturwaldzellen, Totalreservate) auszuweisen, die ihrer ungestörten biologischen Entwicklung überlassen wurden. Es unterbleibt jegliche forstliche Nutzung und direkte Beeinträchtigung. Diese Schutzgebiete sind ein Beispiel für die Strategie des integrativen Prozessschutzes s. o. auf Landesebene. Sie werden je nach Bundesland unterschiedlich benannt. Viele Landes-Forstverwaltungen bezeichnen diese Reservate gern als „Urwälder von morgen“. Aufgrund der geringen Flächengröße von durchschnittlich rund 37 ha (bezogen auf insgesamt 719 Reservate dieser Art) und nur 0,3 Prozent der Waldfläche Deutschlands ist diese Bezeichnung jedoch sicherlich zu euphorisch. Fachleute geben die Mindestgröße von Naturwaldreservaten mit 50 - 100 ha an.[20]

In den anderen Schutzgebietstypen (Naturschutzgebiete, FFH-Gebiete, Vogelschutzgebiete, geschützte Biotope nach jeweiligem Landesrecht etc.) hat der Prozessschutz in der Regel eine geringere Bedeutung. Die Schutzbestimmungen werden individuell festgelegt und zielen vielfach auf die Erhaltung anthropogen gestalteter, artenreicher Naturlandschaften wie z. B. Heiden und andere Offenlandbiotope, die sich ohne Pflegemaßnahmen in – zumeist artenärmere – Waldbiotope verwandeln würden s. o.

Unter anderem aufgrund der geringen Flächengrößen liegt Deutschland in der unteren Hälfte einer europäischen Rangliste zum Waldschutz. Die Schweiz belegt in dieser Bewertung den ersten Platz [18].

Wildnisentwicklungsgebiete

Wie bereits im Abschnitt „Primäre Wildnis: Qualität“ dargestellt, muss auch die potentielle Tierwelt berücksichtigt werden, wenn das Naturschutzziel die Wiederherstellung der natürlichen Prozesse eines Gebietes sein soll.

Für Mitteleuropa ging man lange Zeit davon aus, dass die gesamte Landfläche bis auf einige Moore, Auen und Berge von Wald bedeckt war. Nach umfangreichen Pollenanalysen in verschiedenen Bodenschichten vertreten manche Wissenschaftler seit den 1980er Jahren jedoch vermehrt die Theorie, dass größere Teile Mitteleuropas doch nicht so dicht bewaldet, sondern eher mit offenen Graslandbereichen durchsetzt waren. Die Erklärung dafür seien neben Stürmen und Dürren auch Herden großer Pflanzenfresser, die den Wald – vor allem auf mageren Tieflandstandorten – kurz hielten (siehe Megaherbivorentheorie und Mosaik-Zyklus-Konzept). Besonders in den Niederlanden und Belgien werden diese Theorien bei der Wiederherstellung von „neuer Wildnis“ berücksichtigt und erforscht. Ein herausragendes Beispiel dafür ist das Gebiet Oostvaardersplassen in Holland, wo in einer aufgelassenen Küstenlandschaft große Herden von Rothirschen und sogenannte Abbildzüchtungen von Wildpferden (Koniks) und Wildrindern (Heckrinder als Modelle des Auerochsen) leben. Der Eingriff des Menschen ist hier ausschließlich auf die Bejagung kranker und Entfernung toter Tiere beschränkt, um die fehlenden Beutegreifer zu ersetzen. Nach den Vorstellungen der niederländischen Naturschützer sollte das Gebiet deutlich vergrößert werden und schließlich zu einem vernetzten Verbund ähnlicher Schutzgebiete erweitert werden, der u. a. bis an die Lippe reichen könnte. Die Voraussetzungen am Niederrhein sind naturräumlich günstig, und auch in Deutschland finden sich genügend Befürworter der Megaherbivorentheorie. In den Veröffentlichungen des Bundesamt für Naturschutz (BfN) spricht man in diesem Zusammenhang von Wildnisentwicklungsgebiet, für die das folgende Leitbild formuliert wurde: „In Deutschland gibt es in der Zukunft wieder großflächige Wildnisgebiete (Zielkorridor 2 % der Gesamtfläche Deutschlands bis zum Jahre 2020), in denen Entwicklungsprozesse natürlich und ungestört ablaufen und die weitere Evolution der Arten und Lebensgemeinschaften stattfinden kann“[20]. In den Niederlanden wird der Begriff Naturentwicklungsgebiet verwendet.

Erste Beispiele dieser Naturschutzstrategie finden sich im NSG Königsbrücker Heide und beim Hutewaldprojekt im Solling. Große Herden wilder Weidetiere benötigen große Flächen, so dass vor allem die Nationalparks, ehemalige Truppenübungsplätze und Bergbaufolgelandschaften in Frage kämen. Wie ernst die Verwilderung großer Landschaften genommen wird, zeigt die aktuelle Empfehlung einer Studie des Berlin-Institutes für Bevölkerung und Entwicklung an den Brandenburger Landtag, ohnehin dünnbesiedelte Landstriche mit Hilfe von Abwanderungsprämien gänzlich zu entvölkern und in ökologisch und touristisch attraktive Wildnisgebiete umzuwandeln.[35] Vergleichbare Projekte außerhalb Europas sind ein Pleistozän-Park in Nordostsibirien und das Mahazat As-Sayd-Schutzgebiet in der Arabischen Wüste.

Konfliktpotential

Sowohl in der Bevölkerung als auch in der Wissenschaft hat Wildnisschutz und –entwicklung ein großes Konfliktpotential.

Bevölkerung

Faszination Wildnis im Nationalpark Sarek

Bereits bei der Etymologie des Begriffes „Wildnis“ (s. o.) wurde deutlich, dass die negative Bedeutung tief in uns verwurzelt ist. Viele „un-Worte“ wie unschön, ungepflegt, unberechenbar, unproduktiv oder unordentlich werden mit Wildnis in Verbindung gebracht. Seit Urzeiten bemüht sich der Mensch, Wildnis zu zähmen und zu kultivieren. Erst seit vergleichsweise kurzer Zeit spricht man von einem Schutz der Wildnis. Handelt es sich um Gebiete in fernen Ländern, ist die Bevölkerung meist positiv eingestellt. Bei direkter Konfrontation jedoch bricht sich die alte Abneigung sehr schnell Bahn. Ein Beispiel sind die monatelangen Tumulte der Anwohner des Nationalparks Bayerischer Wald, als es aufgrund der großen Totholzmengen im Wald zu einer explosionsartigen Vermehrung des Borkenkäfers kam [5]. Da sich Wildnisentwicklung nicht planen lässt und einem stetigen, unvorhersehbarem Wandel unterliegt, erfordert es ein großes Maß an Vertrauen in die Natur, auch solche Entwicklungen zu akzeptieren. „Wer eine Entwicklung zur Wildnis wirklich akzeptiert, der muss den Borkenkäfer und den Birkenspanner genauso akzeptieren wie Wolf, Luchs oder Wisent[36]. Um dies zu erreichen, sollten daher die Bedürfnisse und Vorstellungen der Bevölkerung frühzeitig mit berücksichtigt werden. In der Schweiz hat man aus den Problemen in Bayern gelernt und das Meinungsspektrum möglichst vieler Bewohner und potenzieller Nutzer bei der Ausweisung von Wildnisgebieten ermittelt. Interessanterweise stimmten die meisten Eidgenossen den typischen Merkmalen von Wildnis in wissenschaftlichen Positionen zu, obwohl sie sich andererseits Wanderwege, Feuerstellen und Besucherparkplätze wünschten. Die Gebiete sollen demnach zwar verwildern dürfen, aber nicht komplett für die menschliche (Freizeit-)Nutzung gesperrt werden. Um den Wünschen der Bevölkerung nachzukommen, böte sich eine Einteilung der Gebiete in verschieden stark geschützte Zonen an, wie es von Nationalparks bekannt ist [32].

Fachleute

In den Reihen der Naturschützer und Wissenschaftler gibt es ebenfalls einige Bedenken gegen den Wildnisschutz [36]:

  • Die meisten Offenlandbiotope Mitteleuropas benötigen Pflege, um das jeweilige Artenspektrum zu erhalten. Bei einer Wildnisentwicklung gingen diese Arten verloren
  • Wildnisentwicklung ist nicht gleichbedeutend mit größerem Artenreichtum! Prozessschutz (s. o.) führt in der Regel zuerst zu einer massenhaften Vermehrung ohnehin häufiger Arten (z. B. Weidenröschen, Brennnesseln, Brombeeren, Adlerfarn, Birken). Die Entstehung einer ursprünglichen (potentiellen) Artenzusammensetzung ist nicht bzw. nur in sehr langen Zeiträumen möglich
  • Einige Förster und Waldbauern behaupten, dass naturnah bepflanzte, aber forstwirtschaftlich gepflegte Wälder wesentlich stabiler und ertragreicher seien
  • Einige Naturschützer fürchten um den Sinn ihrer Arbeit, denn es ist eine ungewohnte Vorstellung für viele Menschen, am besten einfach nichts zu tun und damit keine Kontrolle über die Dinge zu haben.

Nicht erst seit dem spektakulären Vorschlag des Berlin-Institutes zur Wildnisentwicklung in großen Teilen des Bundeslandes Brandenburg ist eine Debatte über die Anteile solcher Gebiete entbrannt. Selbst die moderate Forderung des BfN für einen Zielkorridor von 5 % stößt in einigen Gesellschaftskreisen auf Ablehnung. So hat das Umweltministerium im Rahmen der Entwicklung einer nationalen Biodiversitätsstrategie für Wildnisgebiete eine Zielvorstellung von 2 % genannt. Auf der einen Seite erklären die Naturschutzverbände, dass allein für die Erfordernisse der FFH-Richtlinie 1–2 % der Fläche an Wildnisgebieten vorhanden sein müssten. Auf der anderen Seite steht zur Zeit jedoch erst maximal 0,9 % der Fläche Deutschlands als Potential zur Verfügung (ermittelt aus ca. 0,3 % Naturschutzgebiete, 0,085 % Naturwaldzellen, 0,25 % Nationalparke, weitere Flächen ca. 0,25 %)[17].

Philosophische Dimension

In der Diskussion[5] um „neue Wildnisse“ gibt es sicherlich gute Gründe für und gegen die Details der entsprechenden Konzepte. Die Grundsatzfrage ist jedoch, ob der Mensch bereit ist, ein „Grundrecht der Natur“ anzuerkennen oder seine Vorstellungen von Natur höher zu bewerten. Der amerikanische Ökologe Aldo Leopold hat diese Philosophie drastisch formuliert:

„Wildnis ist eine Absage an die Arroganz des Menschen.“

Hubert Weinzierl, ehemaliger Vorsitzender des Bundes Naturschutz, hat ein diplomatisches Plädoyer für die Wildnis abgegeben. Er schrieb 1998:

„Wollen wir eine Momentaufnahme menschengemachter Landschaft für immer konservieren oder wollen wir die Natur an sich schützen? (…) Wir sollten (…) wieder viel mehr den Mut zur Wildnis beweisen und uns nicht mit ein paar ‚Biotopen‘, als Landschaftsalmosen sozusagen, abspeisen lassen. Vielmehr sollten die Naturschutzgebiete als Perlen eingebettet sein in eine Landschaft, mit der wir insgesamt anständiger umgehen. Wir brauchen also künftig den Naturschutz auf der Gesamtfläche. Und wir brauchen wieder einen Hauch von Wildnis in unserem Lande, damit wir uns nicht ganz von der Natur entfernen. Das bedeutet einige Korrekturen in unserer Denkweise: (Dazu gehört auch) das Eingeständnis bei uns Naturschützern selbst, dass manche Pflege-Manie letztlich dem anthropozentrischen Wunschdenken entspricht, die Natur so zu bewahren, wie wir sie gerne haben möchten.“

Der amerikanische Schriftsteller Edward Abbey schrieb in „Desert Solitaire“:[37]

„[…] Wildnis ist kein Luxus sondern ein Bedürfnis des menschlichen Geistes, so lebenswichtig wie Wasser und gutes Brot. Eine Zivilisation, die das wenige zerstört, was von der Wildnis übrig ist, das Spärliche, das Ursprüngliche, schneidet sich selbst von ihren Ursprüngen ab und begeht Verrat an den Prinzipien der Zivilisation.“

und:[38]

„Aber die Liebe zur Wildnis ist mehr als ein Hunger nach dem, was außerhalb unseres Einflußbereichs liegt; sie ist ein Ausdruck der Loyalität zur Erde, der Erde, die uns hervorbringt und ernährt, die einzige Heimat, die wir je kennen werden, das einzige Paradies, das wir benötigen – wenn wir denn die Augen hätten [es] zu sehen.“

Henry David Thoreau, der amerikanische Schriftsteller, Unitarier, Philosoph und Mitbegründer des Transzendentalismus war ein starker Verfechter der Wildnis, und forderte auf sie als öffentlich zugängliches Land zu bewahren. In seinem Essay "Walking" beschreibt er Wildnis als einen Schatz, der erhalten werden muss, anstatt geplündert zu werden:[39]

„Ich würde gerne ein Wort über die Natur aussprechen, für absolute Freiheit und Wildheit, wie sie sich gegenüber einer Freiheit und lediglich zivilen Kultur abhob. — Menschen als Bewohner betrachten, oder ein Teil oder Stück der Natur, anstatt eines Mitglieds einer Gesellschaft.“

sowie:[40]

„Das Leben setzt sich aus der Wildheit zusammen. Am belebtesten ist der wildeste.“

Siehe auch

Literatur

  • WWF Deutschland (Hg.): Weisheit der Wildnis – Unser Umgang mit der Erde. Pro Futura, München 1995

Weblinks

Einzelnachweise

  1. a b c WILDNIS, f. und n., zu wild adj.. In: Jacob Grimm, Wilhelm Grimm: Deutsches Wörterbuch. Leipzig 1854ff (dbw.uni-trier.de)
  2. ÖDE, f.. In: Grimm: Deutsches Wörterbuch.
  3. Online Wortschatz-Portal der Universität Leipzig
  4. http://www.ostpreussen.net/index.php?seite_id=12&kreis=04&stadt=01
  5. a b c d Herwig Decker: Wozu brauchen wir Wildnis? In: BERGE 2/2000
  6. a b Wald und Hochgebirge als Idealtypen von Wildnis. Eine kulturhistorische und phänomenologische Untersuchung vor dem Hintergrund der Wildnisdebatte in Naturschutz und Landschaftsplanung Diplomarbeit im Studiengang Landschaftsarchitektur und Landschaftsplanung der Technischen Universität München Eingereicht bei Prof. Dr. Ludwig Trepl, Lehrstuhl für Landschaftsökologie Zweitbetreuerin: Dipl.-Ing. Vera Vicenzotti, von Markus Schwarzer, Freising, im Januar 2007
  7. Stremlow, Matthias & Sidler, Christian 2002: Schreibzüge durch die Wildnis. Wildnisvorstellungen in Literatur und Printmedien der Schweiz. Bristol-Stiftung, Zürich. Eidgenössische Forschungsanstalt WSL, Birmensdorf. Haupt Verlag, Bern, Stuttgart, Wien. 192 S.
  8. Böhmer, Hans Jürgen 1999: Beim nächsten Wald wird alles anders. Politische Ökologie 59: Wa(h)re Wildnis. Ökom Verlag, München. S.14-17.
  9. [1] Unser wilder Wald Informationsblatt des Nationalparks Bayerischer Wald, Nr. 21 Winter 2007
  10. Vicenzotti, Vera 2005: Stadt und Wildnis. Die Bedeutung der Wildnis in der konservativen Stadtkritik Wilhelm Heinrich Riehls. Diplomarbeit am Lehrstuhl für Landschaftsökologie, TU München, Freising. 117 S. URL: - http://www.wzw.tum.de/loek/mitarbeiter/vicenzotti/dipl_vicenzotti.pdf (22. November 2006)
  11. Eissing, Hildegard 2002: Die Wiedergewinnung der Wildnis – Gedanken zu Wildnis und - Wildniserfahrung. In: Evangelische Akademie Tutzing & Nationalparkverwaltung - Bayerischer Wald (Hrsg.): Wildnis vor der Haustür. Tagungsbericht 7. Grafenau. S. - 12-24.
  12. Nicole Bauer & Marcel Hunziker (2004), Wildnis in der Schweiz Eine qualitative Studie zu den Einstellungen zu Verwilderung und zur Ausweisung neuer Wildnisgebiete. Umweltpsychologie 8(2), 102-123.
  13. [2] nach ARGE Waldwildnis, abgerufen 24. Juli 2009
  14. Deutsche Übersetzung durch das Bundesamt für Naturschutz
  15. Hendee, Stankey und Lucas 1990
  16. Sveriges Nationalatlas. Bd. Miljön, 2. Auflage, Kartförlaget, Gävle 1997, ISBN 91-87760-42-8
  17. a b http://www.dnr.de/publikationen/news/docs/Doku_mehrWildnis_komplett.pdf
  18. a b Berichte, NABU
  19. Hanno Charisius: Halb so wild. In: Süddeutsche Zeitung 120/2010, 28. Mai 2010, S. 16.
  20. a b c d Panek, Norbert: "Deutschlands internationale Verantwortung: Rotbuchenwälder im Verbund schützen." Gutachten im Auftrag von Greenpeace e. V., 2011
  21. nach BUWAL 2002, Eidgenössischen Forschungsanstalt WSL, Schweiz
  22. nach einem Workshop der Nabu-Akademie
  23. a b Hubertus Breuer: Korridore des Lebens. In: Die Zeit 52/2002
  24. "Wildnis statistisch" in WWF-Journal 2/96, S. 36
  25. National Geographic, Planet Erde 2008. Unsere Welt im Wandel: Zahlen, Daten, Fakten. S. 36
  26. Umsetzung der Karte von globio.info (png)
  27. Beispiel: Naturhistorie des Niederbergischen Landes
  28. "Amazoniens Tropenwälder - Eine alte Kulturlandschaft?" in "Spektrum der Wissenschaft", Februar 2010
  29. Umfangreiche Informationen bei "Survival International", siehe http://www.survivalinternational.de/indigene
  30. http://www.wwf.de/fileadmin/fm-wwf/pdf_neu/HG_CBD__Indigene_Voelker.pdf
  31. http://www.gfbv.de/report.php?id=30
  32. a b Nicole Bauer, Marcel Hunziker: Umfrage über Wahrnehmung von Waldwildnis in der Schweiz. In: Wald Holz 85, 12, WSL (Schweiz) 2004, S. 38–40
  33. K. Sturm: Prozeßschutz – ein Konzept für naturgerechte Waldwirtschaft. In: Zeitschrift für Ökologie und Naturschutz 2, 1993, S. 181–192
  34. E. Jedicke: Raum-Zeit-Dynamik in Ökosystemen und Landschaften. In: Naturschutz und Landschaftsplanung 8/9, 1998, S. 229–236
  35. [3], www.berlin-institut.org (pdf)
  36. a b Hans Jürgen Böhmer: Wa(h)re Wildnis. Ökom-Verlag, München, ISSN 0947-5028, ISBN 3-928244-46-9 B 8400 F, aus: Politische Ökologie 59, April 1999
  37. Edward Abbey: Desert Solitaire. University of Arizona Press, 1968, S. 165
  38. Edward Abbey: Desert Solitaire. University of Arizona Press, 1968, S. 163
  39. http://thoreau.eserver.org/walking2.html#25
  40. http://thoreau.eserver.org/walking2.html#24

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