Psychosoziale Notfallversorgung

Psychosoziale Notfallversorgung

Psychosoziale Notfallversorgung (PSNV) ist die Gesamtheit aller Aktionen und Vorkehrungen, die getroffen werden, um Einsatzkräften und notfallbetroffenen Personen (Patienten, Angehörige, Hinterbliebene, Augenzeugen und Ersthelfer) im Bereich der psychosozialen Be- und Verarbeitung von Notfällen zu helfen.

Inhaltsverzeichnis

Allgemeine Grundlagen

Die Psychosoziale Notfallversorgung (PSNV) beinhaltet die Gesamtstruktur, Maßnahmen, Angebote und Leistungen der Prävention sowie der kurz-, mittel- und langfristigen Versorgung im Kontext von belastenden Großschadensereignissen, Notfällen bzw. Einsatzsituationen. Übergreifende Ziele der PSNV sind

  • Prävention von psychosozialen Belastungsfolgen
  • Früherkennung von psychosozialen Belastungsfolgen nach belastenden Notfällen bzw. Einsatzsituationen
  • Bereitstellung von adäquater Unterstützung und Hilfe für betroffene Personen und Gruppen zur Erfahrungsverarbeitung sowie die angemessene Behandlung von Traumafolgestörungen und – bezogen auf Einsatzkräfte – einsatzbezogene psychische Fehlbeanspruchungsfolgen.[1]

Die Angebote und Maßnahmen der Psychosozialen Notfallversorgung zielen dabei auf die Bewältigung dieser kritischen Lebensereignisse und der damit einhergehenden psychosozialen Belastungen. Zur PSNV gehören unter anderem:

  • Strukturwissen zu Großschadensereignissen (Rollen, Hierarchien)
  • Stressprävention
  • Aus- und Fortbildung für Einsatzkräfte
  • langfristige Begleitung der Einsatzkräfte
  • Einsatz(kräfte)nachsorge (Stressbearbeitung nach belastenden Ereignissen, Critical Incident Stress Management)
  • Krisenintervention (KIT/KID)
  • Seelsorge in Feuerwehr, Rettungsdienst, Polizei und Katastrophenschutz (SFR)
  • Notfallpsychologie (NFP)
  • Notfallseelsorge (NFS)
  • Krisenseelsorge in Schulen (KIS)
  • Krisenintervention durch Schulpsychologen (in Bayern: KIBBS)
  • psychosoziale Beratungsstellen

Der Begriff Psychosoziale Unterstützung (PSU) wird unterschiedlich genutzt: A) Alle Maßnahmen der PSNV, die mit einem bestimmten Einsatz zusammenhängen oder B) Überbegriff für alle Maßnahmen der Einsatzkräfte-Begleitung. In der Psychosozialen Notfallversorgung werden zwei Zielgruppen unterschieden:

  1. „Psychisch unverletzt Betroffene des Notfalls oder Unglücks“: Angehörige, Hinterbliebene, Überlebende, Augenzeugen und/oder Vermissende
  2. Einsatzkräfte des Rettungsdienstes, der Feuerwehren, der Polizei, des Katastrophenschutzes, des THW und der Bundeswehr

Angebote und Maßnahmen für Betroffene und für Einsatzkräfte

Die Maßnahmen und Angebote für die Zielgruppe der „zufällig Betroffenen“ gliedern sich in psychische Erste Hilfe (durch Ersthelfer und Einsatzkräfte), Psychosoziale Akuthilfe (durch Kriseninterventions- und Notfallseelsorgeteams) und heilkundliche Interventionen (durch psychologische und ärztliche Psychotherapeuten).

Die Maßnahmen und Angebote für die Einsatzkräfte gliedern sich in einsatzvorbereitende (z.B. Aus- und Fortbildung), einsatzbegleitende (z.B. Beratung der Führungskräfte) und einsatznachsorgende Angebote und Maßnahmen (z.B. methodisch-strukturierte Einzel- und Gruppengespräche, längerfristig auch psychotherapeutische Interventionen). "Die gesunde Verarbeitung belastender Ereignisse hängt nicht nur von der einzelnen Einsatzkraft und deren Ressourcen ab, sondern wird maßgeblich beeinflusst von verschiedenen organisatorischen Faktoren"[2]

Der aktuelle Stand in Deutschland

„Die Psychosoziale Notfallversorgung (PSNV) von Überlebenden, Angehörigen, Hinterbliebenen, Vermissenden sowie Einsatzkräften und weiteren von schweren Not- und Unglücksfällen sowie Katastrophen Betroffenen gehört national wie international inzwischen zum Versorgungsstandard. Die weltweiten Unglücksfälle und Katastrophen der letzten Jahre, dabei auch die in Deutschland, wie zum Beispiel das Flugschauunglück in Ramstein 1988, das ICE-Unglück in Eschede 1998, die Flutkatastrophe längs der Elbe 2002, die Flugzeugkollision in Überlingen am Bodensee 2002, der Einsturz der Eissporthalle in Bad Reichenhall 2006 oder der Transrapidunfall 2006 haben im Einsatzwesen eindrucksvoll bestätigt, dass die medizinische und technische Hilfeleistung um psychosoziale Versorgungsangebote zu erweitern ist. In Deutschland, der Schweiz und Österreich und weiteren benachbarten Ländern in Europa entwickelt sich die psychosoziale Versorgung und Hilfe im Kontext von Notfallereignissen und belastenden Einsatzsituationen seit gut zwei Jahrzehnten sehr dynamisch. Verschiedene Angebotsstrukturen und Konzepte wurden entwickelt und seit Mitte der 1990er-Jahre in der Praxis erprobt.“[3]

Dies führte zu einer Heterogenität in Angebotsstruktur und inhaltlicher Ausrichtung. Daher wurde das Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe vonseiten des Bundesministeriums des Inneren beauftragt, eine bundesweite Qualitätssicherung zu erreichen: Leitlinien und Qualitätsstandards zur PSNV, die 2010 gemeinsam beschlossen werden. Zu den beteiligten Partnern zählen neben den Hilfsorganisationen und Kirchen als Hauptakteure in der PSNV verschiedene Fachverbände und –Gesellschaften wie beispielsweise die Bundespsychotherapeutenkammer und die Deutsche Gesellschaft für Psychotraumatologie, Vertreter der Länder, sowie Vertreter des Bundesministeriums des Inneren und des Auswärtigen Amtes.

PSNV im Einsatzalltag wird von den Einsatzteams der örtlichen Schulpsychologen und anderer Kriseninterventionsspezialisten, von der Notfallnachsorge oder Notfallbetreuung der Hilfsorganisationen (Deutsches Rotes Kreuz, Malteser Hilfsdienst, Johanniter-Unfall-Hilfe, Arbeiter Samariter Bund), von der Unfallkasse sowie der kirchlichen Notfallseelsorge geleistet. Diese qualifizieren Mitarbeitende unterschiedlicher Profession und bereiten sie für ihre hauptberufliche, nebenberufliche oder ehrenamtliche Tätigkeit nach ihren eigenen Standards vor. Zwischenzeitlich haben alle PSNV-Akteure interne Anforderungsprofile und Ausbildungscurricula formuliert. Die Tätigkeit beschränkt sich in der Regel auf die Akutphase, d.h. auf die Phase innerhalb oder direkt nach einem Notallfeinsatz. Bei Bedarf werden mit Blick auf eine möglicherweise folgende, länger andauernde Nachbetreuung weiterführende Hilfen im Sinne einer psychosozialen Begleitung oder psychotherapeutischen Intervention, aber auch im Sinne einer pragmatischen Hilfestellung, z.B. in sozialen, finanziellen und rechtlichen Belangen vermittelt. Im Großschadensereignis ist aufgrund des Koordinationsbedarfs, der längeren medialen Aufbereitung, sowie der höheren Anzahl von Betroffenen vorgesehen, gerade auch mit Blick auf die Koordinierung weiterführender Maßnahmen und Hilfen, therapeutische Fachkräfte unmittelbar in den Einsatz mit einzubinden. Dabei spielt die Pressearbeit eine nicht unwesentliche Rolle.

Perspektiven für PSNV in Deutschland

Die Zukunft der Psychosozialen Notfallversorgung wird wesentlich abhängen, dass v:a. die PSNV-Akteure den Weg der Verständigung in Sachen bundeseinheitliche Leitlinien und Qualitätsstandards weiter beschreiten. Die allgemeinen Standards sind auszudifferenzieren. Um diesen Prozess zu beschleunigen, haben sich die Mandatsträger und PSNV-Verantwortlichen der Hilfsorganisationen entschlossen, einen Runden Tisch unter Einbezug der kirchlichen PSNV-Vertreter zu begründen.

Im Bereich der psychosozialen Akuthilfe für von Not- und Unglücksfällen Betroffene gibt es in Deutschland nahezu flächendeckend Angebote, die sich in kleinen Schritten einem gemeinsamen Qualitätsverständnis annähern. Mit Blick auf die mittel- und langfristige Versorgung im Sinne einer vernetzten Begleitung und Betreuung Betroffener, die einer qualifizierten Folgeberatung oder psychotherapeutischen Intervention und Folgebehandlung bedürfen gibt es Defizite. Im Bereich der präventiven und einsatzbegleitenden Maßnahmen ist es notwendig, den Weg der Sensibilisierung der Führungskräfte für dieses Thema fortzusetzen (Aus- und Fortbildung, Arbeitsbedingungen) zu intensivieren. Da es sich auch um einen Teil des betrieblichen Gesundheitsmanagements handelt ist wichtig, das Gespräch und die Kooperation mit Unfallkassen, Berufsgenossenschaften und Krankenkassen zu suchen.

Das Netzwerk PSNV

Dieses Netzwerk wurde 2009 in Freiburg gegründet. Dessen Mitglieder setzen sich für die flächendeckend koordinierte und bedarfsorientierte Psychosoziale Notfallversorgung (PSNV) von Menschen in akuten Krisensituationen ein. Gründungsmitglied und Vorsitzender ist Michael Steil, zugleich Bundeskoordinator PSNV des Deutschen Roten Kreuzes. Gemäß ihrer Satzung engagiert sich das Netzwerk in folgenden Aufgabenfeldern:

  • Finanzielle, personelle, fachliche und logistische Unterstützung bestehender ehrenamtlicher Dienste und Einsatzteams.
  • Bedarfsorientierte, nachsorgende psychosoziale Begleitung und Beratung von Betroffenen und belasteten Einsatzkräften.
  • Förderung interdisziplinärer Vernetzung (z. B. mit Ambulanzen und Beratungsstellen) und des fachlichen Austauschs (zwischen Psychologie, Theologie, Sozialarbeit und Medizin) sowie Forschung.
  • Angebot der Aus- und Weiterbildung, sowie Beratung, Coaching und Supervision von PSNV-Kräften.
  • Unterstützung eines bedarfsorientierten gezielten Ausbaus der Einsatzkräftenachsorge.

Netzwerk PSNV e.V. bietet eine kostenlose E-Mail-Beratung für Einsatzkräfte, die sich von Einsätzen belastet und gestresst fühlen, durch psychosoziale Fachkräfte an, erreichbar über die E-Mail-Adresse einsatzkraft@netzwerk-psnv.de

Literatur

  • Psychosoziale Notfallversorgung: Qualitätsstandards und Leitlinien (Teil 1), Hrsg: Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe, Bonn 2009
  • Michael Steil: Einsatzstress? So helfen Sie sich und anderen. (Broschur, Hrsg: Ecomed Sicherheit), 2010

Einzelnachweise

  1. [Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe (BBK), Psychosoziale Notfallversorgung: Qualitätsstandards und Leitlinien (Teil1), Bonn 2009, S. 15.]
  2. Steil Michael: Einsatzstress? So helfen Sie sich und anderen! 2010, S.74
  3. [Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe, Psychosoziale Notfallversorgung: Qualitätsstandards und Leitlinien, Bonn 2009, S. 7.]

Weblinks


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