Ratgeberjournalismus

Ratgeberjournalismus

Der Begriff Ratgeberjournalismus bezeichnet journalistischen Formate, die den Anspruch haben, den Medienrezipienten bei der Bewältigung von Problemsituationen Hilfe zu geben, wobei – in Abgrenzung zum Informationsjournalismus – die Lösung konkreter Probleme des Publikums im Vordergrund steht.[1] Ratgeberjournalismus ist eng mit dem Nutzwertjournalismus verwandt. Beziehen sich die thematisierten Probleme auf Konsumentenfragen, besteht auch eine Nähe des Verbraucherjournalismus zum Ratgeberjournalismus.

Inhaltsverzeichnis

Verbreitung

Insbesondere Online-Medien und Printmedien präsentieren immer häufiger immer größere Angebote an Seiten, Serien oder Beilagen mit impliziter oder expliziter Ratgeberfunktion.[2] Noch mehr als Tageszeitungen verkörpern Zeitschriften diesen Trend: Illustrierte, Frauen- und Familienzeitschriften verfügen über einschlägige Sparten und Fachredakteure, deren Themenfeld teilweise recht allgemein (z.B. durch Schlagworte wie Wellness), teilweise sehr speziell abgegrenzt ist. Einige der Themenbereiche von Special-Interest-Magazinen oder Ratgeberbüchern, wie z.B. Gesundheit oder Erziehung, sprechen größere Bevölkerungskreise an, bei anderen ist die Spezialisierung außerordentlich hochgradig.

Ratgebende Magazine präsentiert auch der Rundfunk: Lebenshilfe im Ökonomischen bieten etwa „WiSo“ (ZDF) und „Markt“ (NDR), bezüglich Erziehungsfragen konnten sich Kind und Kegel (WDR) oder Super-Nanny (RTL) profilieren. Insbesondere an Wochenenden präsentieren Privatsender zudem Sendungen zu Themen wie Reise, Autos, Mode etc., allesamt interessante Umfelder für die werbetreibende Wirtschaft. Längst stellen die „klassischen“ Medien ihre Ratgeberleistungen auch via Neue Medien – z.B. mittels Internet oder SMS-Abruf – zur Verfügung.

Historische Entwicklung

Prozesse wie sozialer Wandel, Ablösung alter Machteliten und Verweltlichung durch die Aufklärung machten überkommene, insbesondere religiöse Deutungsmuster brüchig. Schon damals halfen Massenmedien dabei, neue Muster zu finden, wie die Moralische Wochenschrift als Leitmedium der Aufklärung belegt. In einer Mischung aus Unterhaltung und Unterrichtung beinhaltete dieses Medium ganze Kanons praktischer Ratschläge, vom richtigen Gebrauch ökonomischer Güter bis hin zum menschlichen Umgang von Mann und Frau miteinander.

Der Orientierungsbedarf infolge sozialen Wandels ließ immer neue Medienangebote ganz dezidiert Ratgeberfunktionen erfüllen, wie auch zahlreiche Entwicklungen im 20. Jahrhundert zeigen. So erwies sich die Lockerung sexueller Sitten als Nährboden für das legendäre Dr. Sommer-Team von Bravo. Besondere Orientierungshilfen benötigte insbesondere auch die ostdeutsche Bevölkerung infolge des Mauerfalls: Standardisierte sozialistische Lebensvollzüge waren abrupt weggefallen, ersetzt durch offenere Biographien einer pluralistischen Gesellschaft. Zahlreiche Zeitschriften spezialisierten sich auf jene Situation, teils mit Sonderbeilagen für die neuen Bundesländer.[3]

Themenauswahl

Ratgeberjournalismus erweitert das journalistische Themengebiet um Bereiche, die zuvor als privat betrachtet und im öffentlichen Diskurs als Tabu angesehen wurden. Beispiele hierfür sind Gesundheit, Religion , Ehe, Familie und Intimität. Die klassischen journalistischen Themen des Nachrichtenjournalismus beschränken sich hingegen auf Politik, Wirtschaft, Kultur und Sport.[4]

Ratgeberjournalismus selektiert Probleme zunächst hinsichtlich der tendenziellen Massenrelevanz. Die vom Ratgeberjournalismus thematisierten Probleme zeichnen sich überdies durch individuelle Bestimmbarkeit und individuelle Lösbarkeit aus. Rezipienten erhalten Hinweise, wie sie Probleme weitgehend eigenständig erkennen und bewältigen können – es werden also Wissen und Problemlösungen vermittelt.[5]

Ist Politikjournalismus einem eher kollektiven Lösungsverfahren zuzurechnen, so ist Ratgeberjournalismus durch Fixierung auf eher individuelle Hilfe abzugrenzen.

Journalist-Rezipient-Verhältnis

Unterteilt man die Ratgeberfunktion in die Phasen ‚Problemdefinition’ und ‚Problemlösung’, lassen sich laut Hömberg und Neuberger (1995) analytisch vier Recherche- und Präsentationskonzepte unterschieden, und zwar danach, welche Rolle jeweils die Journalisten (bzw. sonstige Autoren mit Expertenstatus) und die Rezipienten (bzw. die von einem Problem Betroffenen) übernehmen:

  • Konzept 2: Problemdefinition von Rezipienten (Betroffenen), Problemlösung von Journalisten. Der Rezipient bittet um Rat, der Experte hilft. Diesem Konzept entsprechen klassischerweise Zeitschriften-Kummerkästen wie derjenige von Dr. Sommer oder Fragen Sie Frau Antje, aber auch im Rundfunk lassen sich solche Formate finden. Private Fernsehsender wie Neun Live bieten sogar dem esoterischen Kartenlegen eine Plattform.
  • Konzept 3: Problemdefinition vom Journalisten, Problemlösung von Rezipienten. Eine Redaktion gibt ein Problem vor und bittet Betroffene um Erfahrungsberichte über den Umgang mit diesem Problem und seine Bewältigung. Um Zugang zu den Betroffenen zu finden, lassen die Redakteure von Ratgeberformaten oft Rechercheanzeigen schalten. So finden sich etwa in den Videotexten der großen privaten Fernsehsender kontinuierlich Aufrufe zur Teilnahme an Daily Talks – meist an solche Personen gerichtet, die ein bestimmtes Problem mit sich herumtragen, dass wiederum „Stoff“ für die Medienmacher zu bedeuten vermag.
  • Konzept 4: Problemdefinition und Problemlösung von Rezipienten (Betroffenen). Der Journalist bringt Ratsuchende und Ratgebende zueinander. So gab es etwa in der Zeitschrift „Neue Post“ in den 90er Jahren eine Serie namens „Geheilte helfe Kranken“. Der Journalist hat nur dafür zu sorgen, dass Ratsuchende und Ratgebende auch tatsächlich zueinander finden. Längst werden auch Internetforen genutzt, in denen sich Laien gegenseitig helfen. Das Themenspektrum reicht von Kochrezepten über Haustier-Pflege bis hin zu aktiver Schreibhilfe beim Verfassen von Liebesbriefen, Entschuldigungsersuchen, Bewerbungen, Beschwerdeschreiben, Begründungen für Kriegsdienstverweigerungen etc..

Die ersten beiden dieser vier angeführten Konzepten sind durch eine Autoritätsbeziehung zwischen Anbieter und Rezipient gekennzeichnet. In den beiden zuletzt genannten Konzepten hingegen beschränkt sich der Journalist auf die Rolle eines Vermittlers zwischen den Rezipienten.

Kritik

Der Ratgeberjournalismus neigt zur Beliebigkeit, insbesondere in der Form von Talkshows oder Ratgebersparten in Zeitschriften, da selten endgültige Lösungen angeboten werden. Ratsuchende müssen schließlich selbst entscheiden, welches Angebot sie annehmen und welchem Problemlösungsmuster sie folgen. Vor allem im Fernsehen steht weniger die Hilfestellung im Vordergrund, als vielmehr Voyeurismus und Unterhaltung des Publikums.[6] Dass einzelne Personen, die sich in den Medien mit instimsten Problemen offenbaren, entwürdigend "vorgeführt" werden, ist ein Vorwurf, der insbesondere gegen Daily Talks oder auch gegen die Call-In-Sendung Domian erhoben worden ist.

Ein weiterer Kritikpunkt ist, dass in den Massenmedien nur Probleme aufgegriffen werden, die als relevant und interessant für das Publikum eingestuft werden. Eine Garantie für Hilfe gibt es also nicht. Sind Ratgeber und Ratsuchende nicht präsent, ist nur eine ungenaue Ferndiagnose möglich. Die Lösungsvorschläge werden der Einzigartigkeit des Falles selten gerecht, da der Ratgeber nur Wissen zur Selbsthilfe weitergibt, ohne selbst einzugreifen. Weder findet eine wiederholte Beratung über einen längeren Zeitraum hinweg statt noch eine systematische Erfolgskontrolle. Der Umfang der Beratung ist räumlich und zeitlich stark beschränkt. Oft mangelt es Journalisten an Expertenwissen für die Beratung, oder der Transfer von der Wissenschaft in die Öffentlichkeit gelingt nicht. Wiederholt gerät der Ratgeberjournalismus in den Verdacht der Schleichwerbung, wenn er den Kauf bestimmter Produkte als Lösungsweg darstellt.

Auf der anderen Seite ist die Beratung über Massenmedien eine relativ unverbindliche, anonyme, preisgünstige, schnell verfügbare Hilfe, weshalb die Hemmschwelle für die Ratsuchenden geringer ist als bei anderen beratenden Institutionen. Zudem konstatieren Hömerg und Neuberger: „Der Ratgeberjournalismus schärft langfristig das Problembewusstsein und verbessert die Problemlösungskompetenz. Orientiert der Ratgeberjournalismus auch über einschlägige Institutionen, findet der Rezipient leichter Zugang zu einer direkten und individuellen Beratung durch einen Experten. So kann der Ratgeberjournalismus dazu beitragen, dass die Rezipienten rechtzeitig in die ‚richtigen Hände’ gelangen.“[7]

Literatur

  • Fasel, Christoph: Nutzwertjournalismus. Konstanz 2004. ISBN 3-89669-455-3.
  • Hömberg, Walter / Neuberger, Christoph: Experten des Alltags. Ratgeberjournalismus und Rechercheanzeigen. Eichstätt 1995.

Einzelnachweise

  1. Vgl. Mast, Claudia: Wirtschaftsjournalismus. Grundlagen und Neue Konzepte für die Presse. Wiesbaden: Westdeutscher Verlag (2.Aufl.), 2003. S.127.
  2. Vgl. Hömberg/Neuberger 1995. Zitiert nach: Theis-Berglmair, Anna Maria: Internet und die Zukunft der Printmedien. Kommunikationswissenschaftliche und medienökonomische Aspekte. Beiträge zur Medienökonomie. LIT Verlag, 2002. S. 237.
  3. Vgl. Hömberg, Walter/Neuberger, Christoph: Experten des Alltags. Ratgeberjournalismus und Rechercheanzeigen. Eichstätt, 1995. S.11.
  4. Vgl. Hömberg, Walter/Neuberger, Christoph: Experten des Alltags. Ratgeberjournalismus und Rechercheanzeigen. Eichstätt, 1995. S.14.
  5. Vgl. Hömberg, Walter/Neuberger, Christoph: Experten des Alltags. Ratgeberjournalismus und Rechercheanzeigen. Eichstätt, 1995. S.16
    Vgl. Hömberg, Walter/Neuberger, Christoph: Konturen und Konzepte des Ratgeberjournalismus. In: Bentele, Günter/Hesse, Kurt R. (Hrsg.): Publizistik in der Gesellschaft. Konstanz: UVK, 1994. S. 211-233.
  6. Vgl. Mast, Claudis/Spachmann, Klaus:Reformen in Deutschland. Wege einer besseren Verständigung zwischen Wirtschaft und Gesellschaft. VS Verlag, 2000. S. 43.
  7. Hömberg/Neuberger 1995: 14.

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