Sozial- und Wirtschaftsgeschichte im Ersten Weltkrieg

Sozial- und Wirtschaftsgeschichte im Ersten Weltkrieg

Der Erste Weltkrieg unterschied sich in vielerlei Hinsicht von früheren europäischen Kriegen. Für das Deutsche Reich lag einer der Unterschiede darin, dass zum ersten Mal ein Krieg, der außerhalb der heimatlichen Region, sogar außerhalb des Staates geführt wurde, in seinen wirtschaftlichen und sozialen Auswirkungen ganz unmittelbar und in unerwarteter Intensität auf die heimatliche Region und auf den Staat durchschlug. Dass Männer für die hoch- und spätsommerlichen Arbeiten vor allem in der Landwirtschaft fehlten, war klar (Kriegsbeginn 1866: Ende Juni, 1870 und 1914 Anfang August) und auch dass bald die ersten Mitteilungen über Gefallene kommen würden, war vorauszusehen.

Aber schon der Grad der Mobilmachung war 1914 ein ganz anderer als 1870. 1914 wurde von Anfang an die Reserve einberufen, die 1870/71 praktisch noch keine Rolle gespielt hat, es wurde die Landwehr einberufen, also die gedienten Soldaten nach dem Übertritt aus der Reservepflichtigkeit bis zum 38. Lebensjahr und es wurde auch bald der Landsturm, also die bis 45-Jährigen, einberufen. Das bayerische Heer betrug nach dem Friedensstand etwas über 87.000 Mann, das Feldheer bei Kriegsausbruch über 278.000. Wie unmittelbar sich allein diese erste Vermehrung der Armee auf die Wirtschaft auswirken musste, zeigt sich noch deutlicher bei der Zahl der Pferde, damals noch ein wesentlicher Faktor im Bereich der Wirtschaft: Der Friedensstand von etwa 19.000 wurde bei Kriegsbeginn auf über 81.000 erhöht. Bei Kriegsende hatten dann etwa 15 bis 20 % der gesamten Bevölkerung Bayerns das Feldheer durchlaufen, wogegen für frühere Kriege ein Satz von höchsten 3 % angenommen werden kann.

Die durch den Krieg bedingten Engpässe und Veränderungen machten sich sehr schnell bemerkbar. Sie beruhten unter anderem auf Voraussetzungen aus der Vorkriegszeit. Dazu gehörte das Problem der Finanzierbarkeit des Krieges. Bei der Reichsgründung hatten sich die Länder die direkten Steuern vorbehalten mit dem Ergebnis, dass das Reich, das die gesamte Kriegslast zu tragen hatte, an einer Steuerschwäche litt, die "abenteuerlich" (Haller 1976) war. Der Schuldendienst betrug vor Kriegsbeginn bereits 26 % des Haushaltes. Die Kriegsausgaben des Reiches betrugen 1915 24 Milliarden, d. h. das Zehnfache der Steuereinnahmen des letzten Friedenshaushaltes. Das zog natürlich alle negativen Folgen nach sich, die man von einer auf Schulden basierenden Volkswirtschaft kennt. Die Auswirkungen der Inflation konnten dabei zunächst wegen des Systems der Zwangsbewirtschaftung relativ klein gehalten werden, das während des gesamten Krieges herrschte. Aber die Inflation von 1923 wurde bereits vor Kriegsbeginn grundgelegt und war nach dem Zusammenbruch des Kriegswirtschaftssystems nicht mehr aufzuhalten.

Da aus unterschiedlichen Gründen, u. a. wegen der Aufrechterhaltung des sozialen Friedens, die Kriegsfinanzierung nicht durch Steuern, sondern durch Kreditaufnahmen erfolgen sollte, kam es von Anfang an zu massiven Eingriffen in die Finanzwirtschaft. Bereits am 31. Juli 1914, also noch vor Verhängung des Kriegszustands, löste sich die Reichsbank von ihrer Verpflichtung, Banknoten gegen Goldmünzen einwechseln zu müssen. Das bedeutete nicht die Aufgabe der Golddeckung, sondern den Versuch, dem zu erwartenden Umtauschansturm zu entgehen. Dann wurden im Zuge der Mobilmachung zur Erhöhung der Liquidität verschiedene Maßnahmen getroffen, mit denen der Geldumlauf erheblich gesteigert wurde, insbesondere durch die Errichtung von Darlehenskassen, die mit den Reichsbankfilialen verknüpft wurden (4. August 1914).

Im September 1914 kam dann die erste Kriegsanleihe bis zum Ende des Weltkrieges.

Alle diese Maßnahmen waren noch unter der Voraussetzung getroffen worden, dass der Krieg - entsprechend den Erfahrungen von 1866 und 1870/71 - in wenigen Monaten beendet sein würde. Von dieser Überlegung ging auch die Armee aus. Man erwartete von der vorhandenen deutschen Rüstungsindustrie eine ausreichende Versorgung. Erst der Munitionsmangel Anfang November 1914, als nur noch Munition für sechs Tage zur Verfügung stand, zeigte die rüstungswirtschaftlichen Engpässe in aller Deutlichkeit auf.

Auch für die übrige Wirtschaft war ein frühes Kriegsende wichtig. Vor Kriegsbeginn hatte man nicht nur darauf, sondern auch auf die Möglichkeit der Beschlagnahme von Rohstoffen im - selbstverständlich besiegten - Feindesland gehofft. Doch allein schon die englische Seeblockade stürzte die stark importabhängige deutsche Wirtschaft in größte Verlegenheit. Eine Umfrage bei Kriegsbeginn hatte ergeben, dass die Rohstoffvorräte für höchstens ein halbes Jahr ausreichen würden. Es war nun merkwürdigerweise nicht das Militär, das bei Kriegsbeginn aus dieser Problematik erste wirtschaftspolitische und organisatorische Folgerungen zog, sondern die Wirtschaft oder jedenfalls einige Wirtschaftsführer. Auf Initiative namentlich von Walther Rathenau und Wichard von Moellendorff von der AEG wurde noch im August 1914 die Kriegsrohstoffabteilung (KRA) ins Leben gerufen. Diese Stelle, bis 1915 unter der Leitung Rathenaus, stand für eine enge Verzahnung von Privatwirtschaft und Staat, allerdings schon seit ihrer Gründung unter heftiger Ablehnung von Teilen der Privatwirtschaft. Ihre Hauptaufgabe sah sie in der Versorgung der Privatwirtschaft mit den benötigten Rohstoffen, die daher zentral bewirtschaftet werden mussten. Eine andere war die Entwicklung von Ersatzrohstoffen. Der Widerstand der Industrie richtete sich vor allem gegen die auf Initiative Rathenaus erfolgte Gründung von Kriegsgesellschaften, etwa die Kriegsmetall AG und die Kriegschemikalien AG.

Diese Kriegsgesellschaften, deren Zahl im Laufe des Krieges auf über hundert stieg, waren typische Resultate des Gemisches von staatlichem Dirigismus, wirtschaftlicher Selbstverwaltung, gewinnorientiertem Unternehmertum und Staatssozialismus. Organisiert waren sie ähnlich wie Aktiengesellschaften.

Im Frühsommer 1916 kam es zu einer massiven militärischen, politischen und wirtschaftlichen Krise. Bis dahin konnten die Staatsschulden auf dem Anleihenweg fast vollständig konsolidiert werden, die Rüstungsproduktion konnte einigermaßen Schritt halten, die Firmen machten satte Gewinne, die Ernährungslage war noch gesichert. Einen tiefen Einschnitt brachte jedoch Falkenhayns Angriffe auf Verdun, dazu kamen die gleichermaßen gigantischen Materialschlachten an der Somme, schließlich auch noch die Brussilow-Offensive im Südosten. Die Kriegskosten überstiegen im August 1916 zum ersten Mal die 3-Milliarden-Grenze monatlich (Okt. 1918: 4,8 Mrd.), d.h. mehr als ein Zehntel des Jahresvolkseinkommens 1913 wurde in einem Monat ausgegeben. Ab der fünften Kriegsanleihe im September und Oktober 1916 konnten die Zeichnungsergebnisse nicht mehr mit dem Geldbedarf Schritt halten.

Die Ablösung Falkenhayns durch Paul von Hindenburg am 29. August 1916 (3. OHL) brachte einen Wechsel in der Politik der OHL gegenüber Kriegsministerium und Wirtschaft. Hindenburg und Ludendorff verkündeten am 31. August 1916 das "Hindenburg-Programm", das drastische Maßnahmen zur Steigerung der Wirtschaftskraft verlangte.

Gleichzeitig wurde das "Kriegsamt" unter Wilhelm Groener neugeschaffen. Ihm unterstanden die KRA (Mj. Koeth), das Kriegsersatz- und Arbeits-Departement, das Waffen- und Munitions-Beschaffungsamt (Wumba, in dem die Feldzeugmeisterei aufging), das Bekleidungs-Beschaffungsamt, die Abteilung für Einfuhr und Ausfuhr sowie die Abteilung für Volksernährung. Das Amt kam also der von Ludendorff forcierten Ausweitung des Kriegs zu einem totalen Krieg ebenso entgegen, wie der Aushöhlung des preußischen Kriegsministerium durch den Entzug von Kompetenzen.

Ausführende Organe des Kriegsamtes waren die Kriegsamtsstellen (auf der Ebene der Stellv. GenKdos, jedoch keine klare Regelung wegen Unterstellung). Hier waren auch die Referate für Frauenarbeit angesiedelt.

Als rechtliche Grundlagen für das staatliche bzw. militärische Vorgehen diente im rechtsrheinischen Bayern das Gesetz über die Verhängung des Kriegszustandes von 1912, das im Kriegsfall die gesamte Exekutive den Kommandierenden Generälen der drei Armeekorps übertrug, die ihrerseits wieder dem Befehlshaber des Besatzungsheeres, dem Kriegsminister, unterstanden. In Preußen und in der bayerischen Rheinpfalz galten in gleicher Funktion Gesetze über den Belagerungszustand.

Die Folgen des Hindenburg-Programms waren aber nicht nur für die Wirtschaft und vor allem für die Schwer- und Rüstungswirtschaft spürbar, sondern auch für die Soldaten und Arbeiter. Denn zur Steigerung der Produktion war es unumgänglich, aus den Armeen eine Fülle von Facharbeitern herauszuziehen. Aber auch damit war der Bedarf noch längst nicht gedeckt. Der Einsatz von Frauen in der Industrie stieg weiter an. Das "Gesetz über den Vaterländischen Hilfsdienst" vom 5. Dezember 1916 setzte einen allgemeinen Arbeitszwang fest. Und schließlich mussten auch Kriegsgefangene und (vielfach belgische) Zwangsarbeiter in der Rüstungsindustrie eingesetzt werden.

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Der Rüstungsindustrie die benötigten Rohstoffe und Arbeitskräfte zuzuführen hieß aber auch, den nicht als "kriegswichtig" eingestuften Betrieben diese zu entziehen. Wege dazu waren Begrenzungen bei Zuteilungen, Beschlagnahmungen, Zusammenlegungen und Stilllegungen von Betrieben. Letztere Maßnahme stieß jedoch insoweit schon ins Leere, als namentlich im Handwerk zahlreiche Betriebe schon seit Kriegsbeginn die Arbeit eingestellt hatten, vor allem wegen Einberufungen des Inhabers, aber auch wegen fehlender Rohstoffe oder Absatzschwierigkeiten. Für Bewirtschaftung und Planung dienten als Grundlage unter anderem umfängliche Umfragen.

Für die Industriearbeiter hatte der Krieg durchaus seine finanziellen Vorteile. Der Arbeitslohn lag erheblich über dem Sold, auch über den Löhnen in der Landwirtschaft, was zur Landflucht führte. Die Höchstpreise sorgten wenigstens auf dem Papier für eine gesicherte Ernährung. In der Realität gab es jedoch große Probleme. Die Ernährung ließ von Anfang an zu wünschen übrig, zumal das Reich schon 1914 auf Importe von Lebensmitteln angewiesen war. Sie verschlechterte sich zunehmend und erreichte einen Tiefpunkt im Winter 1916/17, dem "Steckrübenwinter". Die Produktivität war stetig abgesunken, es fehlten Arbeitskräfte, Zugtiere und Düngemittel. Die Einführung von Höchstpreisen begann schon Ende Oktober 1914.

Doch von Kriegsbeginn an machte sich der Gegensatz von Stadt und Land, genauer und deutlicher von Arbeiter und Bauer, bemerkbar. Die Ernährungslage war der Sektor, auf dem die Masse der nicht landwirtschaftlichen Bevölkerung den Krieg am meisten spürte. Auch hier hatte die Bewirtschaftung schon im Herbst 1914 begonnen. Unübersehbar wurde der Mangel mit Einführung von Lebensmittelmarken (März 1915 Brotmarken, Mai 1916 Fleischmarken). Die Festsetzung von einheitlichen Höchstpreisen wirkte sich regional sehr unterschiedlich aus, was sich sofort in Steigerung oder Verminderung des Angebots auswirkte, allerdings nicht in einem vernünftigen Ausgleich des Marktes, sondern, da die Ablieferungsstellen die angelieferten Produkte abnehmen mussten, in der Einspeisung minderwertiger Lebensmittel in den Markt oder aber umgekehrt in der völligen Zurückhaltung, die manchmal nur mit gewaltsamer Eintreibung gebrochen werden konnte. Eine überforderte Logistik in der Verteilung auf Städte und Regionen des Reiches tat ein Übriges.

Auf kommunaler bzw. Bezirksamtsebene wurden die Kommunalgesellschaften eingerichtet, die Ernährung und Versorgung sicherstellen sollten, allerdings kaum Steuerungsmöglichkeiten hatten. Im Gegenteil waren sie es, die den wachsenden Ärger und die Wut der Bevölkerung zu spüren bekamen.

Denn es ist in diesem Krieg ganz typisch, dass für die Bevölkerung die Verantwortung für die zunehmenden wirtschaftlichen Probleme in erster Linie bei der nächstgelegenen kriegsgeborenen Verwaltung lag, also beim Kommunalverband, der Stelle, mit der sie am ehesten zu tun hatte. Höher hinauf wurden noch die bayerischen Ministerien gesehen, aber diese waren für einen großen Teil der Bevölkerung schon im vollen Wortsinn weit entrückt in München. Die bäuerliche und kleinbürgerliche Bevölkerung sah nicht oder wollte nicht die Abhängigkeit ihrer Lage von den großen politischen und militärischen Konstellationen sehen. Je mehr sich die Lage verschlechterte, desto mehr wurde die Schuld "oben" gesucht, wobei dieses "oben" einerseits personalisiert wurde und König und Königin ("Millibauer", "Topfenresel") meinte, andererseits sich auf die bösen Preußen konzentrierte, die die braven Bayern in einen Krieg gezwungen hatten und ihnen jetzt auch noch die wenigen Lebensmittel raubten.

Auffällig ist, wie wenig die oberste militärische Führung in die Kritik geriet. Bei der bäuerlichen Bevölkerung mag das zum Teil daran gelegen haben, dass sie vielfach den Krieg als eine andere von Gott verhängte Katastrophe sah, wie sie sich im bäuerlichen Leben immer wieder einmal ereignete. Die städtische Bevölkerung war eher zur Rebellion geneigt. Hier hat die miserable Ernährung zweifellos eine Rolle gespielt, die sich ja dann 1917/18 in verschiedenen Hungerrevolten niederschlug, nicht zufällig unter erheblicher Beteiligung von Frauen. Die Armee selbst war bis in den Sommer 1918 in sich ziemlich gefestigt. Erst die militärischen Rückschläge ließen sie zusammenbrechen. Dann allerdings in einem Maße, wie man es noch im Oktober 1918 nicht für möglich gehalten hätte.

Die Niederlage allerdings hatte schon vorher festgestanden, und das spätestens 1915, seit man die Überlegungen zu einem Verständigungsfrieden aufgegeben hatte.

Siehe auch: Judenzählung

Weiterführende Literatur

  • Gerald D. Feldmann Armee, Industrie und Arbeiterschaft in Deutschland 1914 bis 1918 Berlin: J. H. W Dietz, 1985
  • Jürgen Kocka Klassengesellschaft im Krieg. Deutsche Gesellschaft 1914 - 1918 2. Aufl. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 1978
  • Roger Chickering Imperial Germany and the Great War, 1914-1918, Cambridge University Press, Neuaufl. 2001.
  • Der Erste Weltkrieg. Wirkung, Wahrnehmung und Analyse. Im Auftrag des Militärgeschichtlichen Forschungsamtes herausgegeben von Wolfgang Michalka, München: Piper 1994, Sonderausgabe Weyarn: Seehamer Verlag, 1997.
  • Kriegsende 1918. Ereignis, Wirkung, Nachwirkung. Im Auftrag des Militärgeschichtlichen Forschungsamtes herausgegeben von Jörg Duppler und Gerhard P. Groß, München: Oldenbourg 1999 (Beitr. zur Militärgeschichte, 53)
  • Eine Welt von Feinden. Der Große Krieg 1914-1918, hrsg. v. Wolfgang Kruse, Fischer TB 2490, 1997.
  • Regina Roth Staat und Wirtschaft im Ersten Weltkrieg. Kriegsgesellschaften als kriegswirtschaftliche Steuerungsinstrumente Berlin: Duncker & Humblot, 1997
  • Benjamin Ziemann Front und Heimat. Ländliche Kriegserfahrung im südlichen Bayern 1914-1923 Essen: Klartext, 1997
  • Christoph Jahr Gewöhnliche Soldaten. Desertion und Deserteure im deutschen und britischen Heer 1914-1918 Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 1998 (Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft, 123).
  • Katja Mitze Das Kriegsgefangenenlager Ingolstadt während des Ersten Weltkriegs Berlin: Dissertation.de 2000 (zugl. Diss. Uni Münster)

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