Sozialcharakter

Sozialcharakter

Mit Sozialcharakter oder Gesellschaftscharakter (social character), einem zentralen Grundbegriff der analytischen Sozialpsychologie von Erich Fromm, ist die gesellschaftliche Formierung der Charakterstruktur der Menschen einer Gesellschaft, eines sozialen Milieus oder einer Bezugsgruppe entsprechend ihrer Lebensweise und der gesellschaftstypischen Erwartungen und Funktionserfordernisse hinsichtlich sozial angepassten Verhaltens gemeint.

Während der Individualcharakter die unverwechselbare Reichhaltigkeit der Charakterstruktur eines Individuums bezeichnet, ist mit dem Sozialcharakter die den Menschen einer Gesellschaft gemeinsame sozial signifikante Kernstruktur des Charakters gemeint, die die Menschen veranlasst, mit dem Gefühl von Freiheit die erwarteten gesellschaftlichen Aufgaben bezüglich Arbeit und Interaktion, Erziehung und Konsumtion zu erfüllen. In diesem Sinne ist der Sozialcharakter identisch mit der Modalpersönlichkeit oder Grundpersönlichkeit. Er wird wesentlich in der Familie als "Agentur der Gesellschaft" erworben. Der Sozialcharakter entsteht nach Fromm in der Interaktion von sozioökonomischer Gesellschaftsstruktur und psychischer Struktur und ermöglicht es, die menschlichen Energien als gesellschaftliche Produktivkraft zu nutzen. Derzeit vorfindbare Ausprägungen des Sozialcharakters sind u.a. der autoritäre Charakter, der Marketing-Charakter, der nekrophile Charakter und der narzisstische Charakter. Wandlungen des Sozialcharakters gehen in Richtung einer zunehmenden Flexibilisierung und Multioptionalität, aber auch eingeschränkter Bindungsfähigkeit. Darüber hinaus sind auch regressive, konsummaterialistische, hedonistische, experimentalistische, postmaterialistische und produktive Orientierungen zu finden, die eine zunehmend milieuspezifische Differenzierung in der Entwicklung des Sozialcharakters nahelegen. Heute wird der Sozialcharakter besonders durch sog. anonyme Autoritäten (Massenmedien, Moden, öffentliche Meinung) geprägt. Eine besondere Rolle spielt das Fernsehen bei der Ausformung des Sozialcharakters. Immer wieder werden lebensstilbezogen neue milieuspezifische Varianten des Sozialcharakters beschrieben, wie z.B. der LOHAS.

Erich Fromm hebt die sozialen Notwendigkeiten hervor, die in der jeweiligen Gesellschaft von den Gesellschaftsmitgliedern befolgt werden müssen. Damit eine Gesellschaft adäquat funktioniert, müssen ihre Mitglieder einen Charakter erwerben, der sie in die Lage versetzt, das zu tun, was sie tun müssen. In einer autoritär strukturierten Gesellschaft wird zum Beispiel von den Menschen erwartet, dass sie hochmotiviert und beflissen sind, ihre Zeit und Energie in die Arbeit zu investieren, dass sie sich einer Hierarchie unterordnen und selbstlos die an sie herangetragenen Anweisungen erfüllen. In der permissiven Konsumgesellschaft hingegen ist eine Charakter- und Aktivitätsstruktur erforderlich, die die Menschen veranlasst, gern und ausgiebig zu konsumieren.

So wird die Charakterstruktur eines jeden Menschen dahingehend ausgerichtet, dass er in der jeweiligen Gesellschaft die an ihn gerichteten Erwartungen quasi freiwillig erfüllen kann. Er entwickelt Charakterzüge, die ihn von Menschen unterscheidet, die in anderen Gesellschaften leben. Mit dieser Blickrichtung zeigt sich Fromm nicht an den Eigenheiten interessiert, durch die sich die einzelnen Personen voneinander unterscheiden, sondern er fragt nach den Gemeinsamkeiten, die in den psychologischen Reaktionen der Mitglieder einer Bezugsgruppe erkennbar werden, und untersucht den Teil ihrer Charakterstruktur, der den meisten Mitgliedern dieser Gruppe gemeinsam ist. Diesen gemeinsamen Kern im Charakter bezeichnet Fromm als Sozialcharakter. Die Formung des Sozialcharakters findet in den meisten Gesellschaften auf Kosten der Spontaneität und Freiheit des einzelnen Gesellschaftsmitgliedes statt.

Ein vergleichbares, davon abweichendes Konzept entwickelte später Pierre Bourdieu mit dem soziologischen Begriff des Habitus.

Literatur

  • Erich Fromm, Anhang: Charakter und Gesellschaftsprozeß, in: ders., Die Furcht vor der Freiheit, in: Erich-Fromm-Gesamtausgabe, Band I, München 1981, S. 379-392.
  • Peter Winterhoff-Spurk, Kalte Herzen. Wie das Fernsehen unseren Charakter formt, Stuttgart 2005.

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