Stottern

Stottern
Klassifikation nach ICD-10
F98.5 Stottern
ICD-10 online (WHO-Version 2011)

Stottern, auch Balbuties (von lat. balbutire „stottern“), ist eine Störung des Redeflusses,[1] welche durch häufige Unterbrechungen des Sprechablaufs, durch Wiederholungen von Lauten und anderen Teilen eines Wortes gekennzeichnet ist. Dieser Artikel befasst sich mit dem so genannten idiopathischen Stottern (engl. persistent developmental stuttering),[2] das vom Stottern mit bekannter psychischer oder physischer Ursache abzugrenzen ist. Nach neuen Erkenntnissen von Sprachwissenschaftlern der Purdue University/USA basiert die Störung nicht nur auf einer motorischen Fehlfunktion, sondern hat seine Ursachen auch im Gehirn[3]. Damit ist sie eine kombinierte Sprech- und Sprachstörung, wie etwa Dyslalie oder Poltern.[4]

Inhaltsverzeichnis

Phänomenologie

Von außen beobachtbare Symptome können als äußere, von außen nicht beobachtbare Symptome als innere Symptome bezeichnet werden.[5]

Äußere Symptome

Die äußeren Symptome des Stotterns werden in primäre und sekundäre Symptome unterteilt.[5][6] Primäre Symptome stellen den eigentlichen Kern des Stotterns dar, während sekundäre Symptome eine – zum Teil bewusste – Reaktion auf die primären Symptome sind.

Zu den primären Symptomen zählen:

  • Rasche Wiederholungen von Lauten, Silben oder Wörtern (auch klonisches Stottern genannt),
  • Verlängerungen von Lauten (so genannte Dehnungen),
  • stumme oder hörbare Blockaden (auch tonisches Stottern genannt),
  • wiederholte zwischengeschobene Laute länger als zwei Sekunden (sog. Interjektionen).[7]

Zu den sekundären Symptomen gehören:

  • Vermeidungsverhalten und
  • Fluchtverhalten.

Ein Vermeidungsverhalten versucht durch Vermeidung von Lauten, Wörtern, Sprechsituationen und ähnlichen Reaktionen, dem Stottern im Voraus auszuweichen. Im Gegensatz dazu soll ein Fluchtverhalten auftretende primäre Symptome überwinden. Erhöhte Anspannung der Sprechmuskulatur oder einer anderen Muskulatur, auch Grimassieren oder ruckartige Bewegungen können Anzeichen eines Fluchtverhaltens sein.

Innere Symptome

Innere Symptome sind solche, die für den Zuhörer nicht direkt beobachtbar sind. Es handelt sich um negative Gefühle, Gedanken und Einstellungen, die als Reaktion auf das Stottern entstehen. Häufige innere Symptome sind Angst, Scham und Minderwertigkeitsgefühle.

Diagnose

Die Diagnose Stottern wird gestellt, wenn typische Symptome in einem erheblichen Ausmaß vorhanden sind. Gemäß ICD-10[8] soll Stottern diagnostiziert werden, wenn Symptome wie Wiederholungen und Dehnungen von Sprachelementen und häufige Pausen anhaltend oder wiederholt auftreten, zu einer deutlichen Unterbrechung des Sprachflusses führen und die Störung mindestens drei Monate andauert.

Bei der Diagnose sollte darauf geachtet werden, dass repräsentative Daten bezüglich der Sprechflüssigkeit erhoben werden, da manche Klienten in der diagnostischen Situation flüssiger sprechen als in Alltagssituationen. Daher sollten der Klient oder dessen Angehörige über die Sprechflüssigkeit im Alltag befragt werden. Auch Tonaufnahmen aus Alltagssituationen können hilfreich sein.

Differentialdiagnose

Das Stottern muss von folgenden Störungen unterschieden werden:

  • Physiologische Redeunflüssigkeit: Bei Kindern mit Unflüssigkeiten muss entschieden werden, ob es sich um normale Unflüssigkeiten (fälschlich oftmals als Entwicklungsstottern bezeichnet) oder um pathologisches Stottern handelt.
  • Poltern: Eine Redeflussstörung, die durch erhöhtes Sprechtempo und undeutliche Aussprache gekennzeichnet ist.
  • Erworbenes Stottern: Ein Stottern, das beispielsweise auf ein psychisches oder physisches Trauma oder auf eine neurologische Erkrankung zurückgeht, ist kein Stottern im hier beschriebenen (idiopathischen) Sinne.

Epidemiologie

Die Lebenszeitprävalenz des Stotterns beträgt etwa fünf Prozent, die Punktprävalenz bei älteren Kindern und Erwachsenen etwa ein Prozent.[5][9] Bei Kindern beträgt das Verhältnis von Jungen und Mädchen etwa 2:1. Das entsprechende Verhältnis bei Erwachsenen beträgt 4:1 bis 5:1. Personen mit neurologischen Erkrankungen, zum Beispiel Epilepsie, sind häufiger betroffen.

Verlauf und Prognose

Stottern beginnt immer vor dem zwölften Lebensjahr, bei der Hälfte der Betroffenen zwischen dem dritten und vierten Lebensjahr, bei 90 Prozent vor dem sechsten Lebensjahr. Ein Großteil der stotternden Kinder verliert die Störung bis zur Pubertät. Bei Mädchen beginnt das Stottern früher, sie verlieren es aber auch mit größerer Wahrscheinlichkeit wieder. Nach der Pubertät ist eine vollständige Remission unwahrscheinlich bis unmöglich. Eine Besserung mit oder ohne Therapie kommt in jedem Alter vor.

Ätiologie

Es gibt eine Vielzahl von Theorien, welche die Ursachen oder die Entstehung des Stotterns zu erklären versuchen. Zum jetzigen Zeitpunkt gibt es für keine dieser Theorien ausreichende empirische Belege.

Die bestehenden Theorien lassen sich einteilen in psychodynamische, genetische, neuropsychologische, Breakdown- und Lerntheorien.

  • Psychodynamische Theorien gehen davon aus, dass unbewusste Konflikte oder Ziele zum Stottern führen, etwa das Ziel, Aufmerksamkeit oder Fürsorge zu erhalten. Ein Beispiel ist die Theorie Theo Schoenakers, welche auf der Individualpsychologie Alfred Adlers beruht. In der akademischen Sprechwissenschaft gelten psychodynamische Theorien im Allgemeinen als widerlegt.
  • Genetische Theorien gehen von einer vererbten Disposition aus, welche die Entwicklung des Stotterns wahrscheinlicher macht. In Zwillingsstudien zeigt sich etwa, dass die Konkordanz bei eineiigen Zwillingen höher ist als bei zweieiigen. Genetische Theorien können nicht das gesamte Phänomen Stottern erklären.
  • Neuropsychologische Theorien nehmen an, dass sich das Gehirn bei Stotternden anders entwickelt als bei Normalsprechenden, woraus das Stottern resultiert. Einige Studien haben beispielsweise festgestellt, dass Stotternde eine weniger stark ausgeprägte Lateralisierung der Sprachverarbeitung haben als Normalsprechende. Neuropsychologische Studien sind oft korrelativ, weshalb sie keine befriedigende Interpretation von Kausalbeziehungen zulassen.
  • Breakdown-Theorien besagen, dass die Ressourcen zur Verarbeitung von Sprache und Sprechen bei Stotternden den Anforderungen nicht genügen, was zum Zusammenbruch (Breakdown) der Sprechverarbeitung führe. Für diese Theorien spricht etwa, dass Stotternde häufiger als Normalsprechende Sprachentwicklungsstörungen und andere Sprachstörungen haben.
  • Lerntheorien erklären die – vor allem sekundäre – Symptomatik durch eine Kombination aus klassischer und operanter Konditionierung. Klassische Konditionierung erklärt demnach die Verknüpfung des Primärstotterns mit sekundären Verhaltensweisen: Die wiederholte Kopplung primärer mit sekundären Verhaltensweisen führt dazu, dass die sekundären Verhaltensweisen durch die primären automatisch ausgelöst werden. Operante Konditionierung erklärt, warum Vermeidungsverhalten gezeigt wird: Vermeidungsverhalten führt zu verminderter Angst und wird daher verstärkt, womit die Wahrscheinlichkeit solchen Verhaltens steigt.

Therapie

Vorbemerkung

Eine vollständige Heilung – als absolute Symptomfreiheit in allen Situationen – ist beim Stottern insbesondere im Erwachsenenalter schwer oder gar nicht erreichbar. Da für die Betroffenen das Stottern oft eine schwere Einschränkung darstellt, existieren viele unseriöse Ansätze, welche meist innerhalb weniger Tage eine Heilung versprechen. Es ist vor einer Therapie daher ratsam, unabhängigen Rat von Fachleuten einzuholen, die keine finanziellen Interessen verfolgen.

Modifikations-Ansatz

Dieser verhaltenstherapeutische Ansatz basiert auf der Annahme, dass Stottern grundsätzlich nicht heilbar ist, da die neuronale Grundstruktur des Sprechens eines Erwachsenen mit ihren motorischen, psychogenen und teilweise neurotischen Einflüssen soweit ausgeprägt ist, dass grundlegende Änderungen unmöglich sind. Der Ansatz zielt daher primär darauf ab, die stotternde Sprechweise anzunehmen, mit ihr leben und sie explizit modifizieren zu lernen. Die Vorgehensweise ist verhaltenstherapeutisch angelegt und umfasst Aspekte wie

Dieser Ansatz wurde in den 1930er Jahren an der University of Iowa entwickelt. Hauptvertreter ist der US-Amerikaner Charles Van Riper (1905 bis 1994), der als einer der Begründer der speech-language pathology in den USA gelten kann (akademischer Beruf mit Studium an der Philosophischen Fakultät, daher mit Logopäden nicht zu vergleichen, eher mit klinischen Sprechwissenschaftlern). Ein Großteil seiner Schriften befasst sich mit dem Thema Stottern.

Sprechtechnischer Ansatz

Demgegenüber steht ein Ansatz, der sich im Hinblick auf Anleihen aus Gesangs-, Atem- und Stimmtechnik auf das Erlernen einer »neuen« Sprechweise richtet. Ausgehend von der Beobachtung, dass die Mehrheit der Stotternden beim Singen oder beim Sprechen im Chor keine Probleme hat, werden klangvolleres Sprechen, Tongebung, Atemtechnik und rhetorische Aspekte eingeübt. Die Begründer sind hier Karl Hartlieb, Oscar Hausdörfer, Ronald Muirden, Erwin Richter, Rudolf Denhardt und andere, wie P. A. Kreuels oder Leonard Del Ferro. Eventuell kann auch eine Elektronische Sprachflusshilfe eingesetzt werden.

Mentaler Ansatz

Mit dieser überwiegend mentalen (gedanklichen) Methode, die ihren Ursprung im Leistungssportbereich hat, sollen das Sprechen angstfrei in geordneten Bahnen neu und natürlich gelernt und die alten Stotterstrukturen überlernt werden. Durch regelmäßiges Lesen und Umsetzen der autosuggestiven und wohltuenden Leitsätze soll das Unbewusste in die gewünschte Richtung eines individuellen und flüssigen Sprechens gebracht werden. Begründer der Ropana-Methode ist Roland Pauli. Eine andere Methode ist die Hausdörfer-Technik, bei der ein Mensch anstreben müsse, zum Phlegmatiker zu werden.[10].

Weitere Ansätze

Viele weitere Therapien und therapeutische Ansätze fokussieren Teilaspekte wie Atemtechnik, Stimmgebrauch und Klangerzeugung oder arbeiten mit Hilfsmitteln wie Hypnose. Allerdings ist die Fachwelt uneins über die Wirksamkeit dieser Ansätze, obwohl in der medialen Öffentlichkeit immer wieder „geheilte“ Klienten vorgeführt werden.

Literatur

  • Ulrich Natke und Anke Alpermann: Stottern. Erkenntnisse, Theorien, Behandlungsmethoden. 3. Auflage. Huber, Bern 2010.
  • Wolfgang Wendlandt: Stottern im Erwachsenenalter. Grundlagenwissen und Handlungshilfen für die Therapie und Selbsthilfe. Thieme, Stuttgart 2009.

Weblinks

Siehe auch

Apparative Sprechhilfen

Einzelnachweise

  1. Springer Lexikon Medizin: Lemma Stottern. Springer, Berlin 2004
  2. Benecken, J.: Zur Psychopathologie des Stotterns. In: Praxis der Kinderpsychologie und Kinderpsychiatrie. 2004, 9. 623–636.
  3. In: Spiegel online, 24. Juli 2004. Abgerufen am 8. Oktober 2010.
  4. Gesundheitsportal Onmeda , Abgerufen am 8. Oktober 2010.
  5. a b c Ptok, M., Natke, U. & Oertle, H. M. Stottern – Pathogenese und Therapie. In: Deutsches Ärzteblatt, 18, A1216-1221. http://www.aerzteblatt.de/v4/archiv/artikel.asp?id=51277
  6. Stachelski, D.J.: Information on Stuttering.
  7. Hansen, B./Iven, C.: Stottern und Sprechflüssigkeit.Sprach- und Kommunikationstherapie mit unflüssig sprechenden (Vor-)Schulkindern. München/Jena 2002
  8. Weltgesundheitsorganisation: Internationale Klassifikation psychischer Störungen. Diagnostische Kriterien für Forschung und Praxis. Huber, Bern 2006, 3-456-84286-4.
  9. Spindler, Claudia: Prävalenzstudien Stottern.
  10. http://deposit.ddb.de/cgi-bin/dokserv?idn=967342902&dok_var=d1&dok_ext=pdf&filename=967342902.pdf
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