Tilly Edinger

Tilly Edinger

Johanna Gabriele Ottilie Edinger (* 13. November 1897 in Frankfurt am Main; † 27. Mai 1967 in Cambridge (USA) war Paläontologin und die Begründerin der Paläoneurologie. Dieses Fachgebiet hat die Erforschung von Abdrücken fossiler Gehirne zum Gegenstand. Stephen Jay Gould bezeichnete Edinger in einem Nachruf als „eine der außergewöhnlichsten Naturwissenschaftlerinnen des 20. Jahrhunderts“.

Inhaltsverzeichnis

Werdegang

Tilly Edinger war die jüngste Tochter von Ludwig Edinger, einem Hirnforscher und Professor für Neurologie. 1916 bestand sie an der Frankfurter Schillerschule das Abitur und studierte danach an der Universität Heidelberg, an der Universität Frankfurt am Main sowie in München „Naturwissenschaften“: zunächst Geologie, danach Zoologie (insbesondere vergleichende Anatomie) und zusätzlich Paläontologie. Im Grenzgebiet von Geologie und Zoologie, der Paläozoologie, fertigte sie 1920/21 in Frankfurt am Main ihre Doktorarbeit bei Fritz Drevermann an, die der Anatomie des Gaumens von Nothosauriern gewidmet sein sollte. Auf der Suche nach Belegexemplaren stieß sie in Heidelberg auf ein Schädelfragment von Nothosaurus mirabilis, dessen Schädelhöhle vollständig mit Sediment ausgefüllt war. Diesen natürlichen Schädelausguss erkannte sie als „fossiles Gehirn“. Sie beschäftigte sich daraufhin in ihrer Doktorarbeit zusätzlich der genauen Analyse des fossilen Nothosauriergehirns. Anschließend arbeitete sie von 1921 bis 1938 als ehrenamtliche Wissenschaftlerin am Frankfurter Naturmuseum Senckenberg auch an Fossilien vieler anderer Wirbeltiere.

Tilly Edinger unterschätzte lange Zeit die Lebensgefahr in der sie durch die seit der nationalsozialistischen „Machtergreifung“ 1933 einsetzende Judenverfolgung schwebte – unter anderem deshalb, weil ihr Arbeitgeber, die Senckenbergische Naturforschende Gesellschaft, 1933 klargestellt hatte, dass sie ihre jüdischen Mitarbeiter unbehelligt weiterarbeiten lassen werde. Der Direktor des Senckenberg-Museums, Rudolf Richter, war zwar Mitglied der NSDAP, hielt aber den Antisemitismus dieser Partei für eine vorübergehende Verirrung. Erst nach den Novemberpogromen von 1938 durfte sie das Museum nicht mehr betreten, hatte aber noch Gelegenheit, über London in die USA auszureisen, wo sie an der Harvard-Universität weiterarbeiten konnte.

Am 26. Mai 1967 überhörte sie auf der Straße vor dem Harvard-Museum für vergleichende Zoologie aufgrund ihres schlechten Hörvermögens ein herannahendes Auto und verstarb am folgenden Tag an den Folgen des Unfalls.

1962 wurde sie Ehrenmitglied der Paläontologischen Gesellschaft.

Forschungsthemen

1804 hatte bereits Georges Cuvier Schädelausgüsse beschrieben, doch erst Tilly Edinger untersuchte solche Ausgüsse systematisch und machte sie so für die Evolutionsforschung nutzbar.

Um Form und Oberfläche eines fossilen Gehirns zu rekonstruieren, wird der Hirnschädel des Fossils beispielsweise mit Gips ausgegossen. Ein solcher Schädelausguss kann aber auch auf natürliche Weise entstehen: Liegt der Schädel anfangs in bewegtem Wasser, kann Sediment durch die Augenhöhlen oder das Hinterhauptsloch eindringen und sich später im Schädel zu einem Steinkern verfestigen. Dieser kann die Form der Gehirnoberfläche annehmen und diese so abbilden. Wenn das Wasser mit Calcium gesättigt war, kann sich im Inneren des Schädels Kalk absetzen; diese Kalkabsätze bilden dann die Fläche des Innenraumes der Schädelhöhle ab, wodurch sehr detailreiche Steinkerne fossiler Gehirnhohlräume entstehen können. Es gibt Funde, bei denen neben den Knochen auch Hirnwindungen (Gyri) und Blutgefäße abgebildet sind.

Edinger konnte am Gehirnabguss einer fossilen Fledermaus zwei Ausstülpungen nachweisen, wie sie auch bei heute lebenden Fledermäusen vorkommen. In diesen Strukturen werden die Ultraschallechos verarbeitet, mit denen sich Fledermäuse in der Dunkelheit orientieren. Es ist daher anzunehmen, dass bereits bei dieser frühen Fledermaus die Echoortung ausgebildet war. Ferner untersuchte sie die Gehirne von Nothosauriern und konnte als Erste den Verlauf der Evolution bei diesen Gehirnen nachvollziehen. Auf den grundlegenden Erkenntnissen Tilly Edingers fußt auch heute noch die paläontologische Forschung auf diesem Gebiet.

Literatur

  • Rolf Kohring, Gerald Kreft (Hrsg.): Tilly Edinger. Leben und Werk einer jüdischen Wissenschaftlerin. E. Schweizerbart'sche Verlagsbuchhandlung, Stuttgart 2003, ISBN 3-510-61351-1, (Senckenberg-Buch 76).

Weblinks


Wikimedia Foundation.

Игры ⚽ Нужно сделать НИР?

Schlagen Sie auch in anderen Wörterbüchern nach:

  • Edinger — ist der Name folgender Personen: Christiane Edinger (* 1945), deutsche Violinistin Ludwig Edinger (1855–1918), deutscher Nervenarzt und Hirnforscher (Edinger Westphal Kern) Rudolf Edinger (1902–1997), österreichischer Gewichtheber Weltmeister… …   Deutsch Wikipedia

  • Tilly bone — an unusually thickened bone which may occur in the axial or cranial skeleton of some fishes, e.g. thickenings of haemal and neural spines, postcleithra and anterior cranium in Lagocephalus. Named for Tilly Edinger of Harvard who studied these… …   Dictionary of ichthyology

  • EDINGER, TILLY — (1897–1967), vertebrate paleontologist. Born in Frankfurt on the Main, Edinger received her doctorate in paleontology from Frankfurt University. Her main research interest was brain development and she created the field of paleoneurology. She was …   Encyclopedia of Judaism

  • Ludwig Edinger — Ludwig Edinger. Ludwig Edinger (* 13. April 1855 in Worms; † 26. Januar 1918 in Frankfurt am Main) war als Nervenarzt und Hirnforscher 1912 einer der Mitunterzeichner des Stiftungsvertrags zur Gründung der Universität Frankfurt am Main (eröffnet… …   Deutsch Wikipedia

  • Paläoneurologie — Johanna Gabriele Ottilie Edinger (* 13. November 1897 in Frankfurt am Main; † 27. Mai 1967 in Cambridge (USA) war Paläontologin und die Begründerin der Paläoneurologie. Dieses Fachgebiet hat die Erforschung von Abdrücken fossiler Gehirne zum… …   Deutsch Wikipedia

  • Liste der Biografien/Ed — Biografien: A B C D E F G H I J K L M N O P Q …   Deutsch Wikipedia

  • Frankfurter Hauptfriedhof — Die ungefähr 150 Jahre alte Buche auf dem Hauptfriedhof, Gewann C, wurde im März 2006 gefällt. Sie war krank und nicht mehr zu retten. Der Hauptfriedhof von Frankfurt am Main wurde 1828 eröffnet. Gemeinsam mit den beiden direkt angrenzenden… …   Deutsch Wikipedia

  • Hauptfriedhof (Frankfurt) — Die ungefähr 150 Jahre alte Buche auf dem Hauptfriedhof, Gewann C, wurde im März 2006 gefällt. Sie war krank und nicht mehr zu retten. Der Hauptfriedhof von Frankfurt am Main wurde 1828 eröffnet. Gemeinsam mit den beiden direkt angrenzenden… …   Deutsch Wikipedia

  • Bedeutende Paläontologen — Die folgende Liste führt Personen in alphabetischer Ordnung auf, die eine bedeutende Stellung in der Geschichte der Paläontologie im weiteren Sinne einnehmen. Eine solche Auswahl wird jedoch immer subjektiv bleiben. Nicolaus Steno Georges Cuvier …   Deutsch Wikipedia

  • Endocast — Überreste des Taung Kindes mit natürlichem Schädelausguss Abguss des Gehirns eines Tyrannosaurus rex Als Schädelausguss oder Endocast …   Deutsch Wikipedia

Share the article and excerpts

Direct link
Do a right-click on the link above
and select “Copy Link”