Unheimlich

Unheimlich

Das Unheimliche (engl. uncanny, frz. Inquiétant, l’inquiétante étrangeté) ist als Gefühl des Schreckhaften, Angst und Grauen Erregenden nicht auf den Bereich ästhetischer Erfahrung beschränkt, sondern beunruhigt den Menschen als verstörende Irritation nicht selten in alltäglichen Situationen.

Inhaltsverzeichnis

Theorien

Ernst Jentsch

Ernst Jentsch erklärt das Gefühl des Unheimlichen durch intellektuelle Unsicherheit gegenüber Fremdem und Unvertrautem. Der typische Fall ist für ihn der Zweifel an der Beseeltheit eines anscheinend lebendigen Wesens und umgekehrt der Zweifel darüber, ob ein lebloser Gegenstand nicht etwa doch beseelt sei. In der Literatur kann das Gefühl des Unheimlichen, Jentsch zufolge, am sichersten dadurch hergestellt werden, dass der Autor den Leser darüber im Unklaren lässt, ob er in einer bestimmten Gestalt eine lebendige Person oder einen Automaten vor sich hat; Jentsch verweist hierfür auf die Figur der belebt scheinenden Puppe Olimpia in E.T.A. Hoffmanns Erzählung Der Sandmann.

Sigmund Freud

Sigmund Freuds Essay Das Unheimliche blieb auch für die aktuelle Diskussion wegweisend, obwohl der Begründer der Psychoanalyse mit der ästhetischen Debatte über das Erhabene, Schreckliche, Hässliche und Groteske wohl kaum vertraut war.

Gegen Jentsch wendet Freud ein, das Unheimliche sei nicht nur das Unvertraute, sondern zugleich das Vertraute - unheimlich ist für Freud das, was zugleich unvertraut und vertraut ist.

Er begreift das Gefühl des Unheimlichen als eine bestimmte Form der Angst, und er führt diese Angst auf zwei Quellen zurück: auf die Wiederkehr des Verdrängten und auf die Wiederbelebung eines überwundenen Realitätsverständnisses.

  • Eine verdrängte Vorstellung ist beispielsweise die Kastrationsphantasie. In Hoffmanns Erzählung Der Sandmann ruft das Herausreißen der Augen, Freud zufolge, die verdrängte Kastrationsvorstellung wach und erzeugt so das Gefühl des Unheimlichen.
  • Ein überwundenes Realitätsverständnis ist beispielsweise die Überzeugung, bloßes Wünschen sei in der Lage, in der Wirklichkeit Veränderungen hervorzurufen. Dieser infantile Realitätsglaube wird nicht verdrängt, sondern überwunden, befindet sich danach also nicht im Zustand der "Verdrängung", sondern des "Überwundenseins"[1]. Falls sich Reste dieses Glaubens erhalten haben, kann er durch bestimmte Situationen scheinbar bestätigt werden und dies ruft das Gefühl des Unheimlichen hervor. Freud führt als Beispiel einen Patienten an, der über einen vermeintlichen Rivalen äußerte, es möge ihn der Schlag treffen, und der vierzehn Tage später erfuhr, dass der andere tatsächlich einen Schlaganfall erlitten hatte; für den Patienten war dies ein "unheimliches" Erlebnis.

Für Freud ist das Unheimliche also das einst Vertraute, etwa ein infantiler Wunsch oder der kindliche Glaube an die Allmacht der Gedanken. Dieses Vertraute wurde verdrängt oder überwunden und hielt sich im Unbewussten verborgen. In unheimlichen Erlebnissen und Vorstellungen kehrt es in entfremdeter Form wieder. Der Angstcharakter des Unheimlichen beruht darauf, dass der Affekt jeder Gefühlsregung durch die Verdrängung in Angst verwandelt wird. "Die Vorsilbe 'un' an diesem Worte ist aber die Marke der Verdrängung."[2]

Freud unterscheidet das Unheimliche, das man erlebt, von dem Unheimlichen, das man sich bloß vorstellt oder von dem man liest, und am vorgestellten Unheimlichen interessiert ihn vor allem die Fiktion in Gestalt von Phantasie und Dichtung. Für das Erleben gilt die Erklärung des Unheimlichen ohne Ausnahme: die Wiederkehr des Verdrängten und die Wiederbelebung eines überwundenen Realitätsglaubens führen in jedem Fall dazu, dass das Gefühl des Unheimlichen entsteht. Allerdings umfasst das erlebte Unheimliche sehr viel weniger Fälle als das Unheimliche, das auf Fiktion beruht.

Im Bereich der Fiktion ruft die Wiederkehr des Verdrängten ebenfalls ganz ohne Ausnahme ein unheimliches Gefühl hervor. Bei der scheinbaren Bestätigung eines überwundenen Realitätsglaubens ist das jedoch anders. Beispielsweise ist ein Märchen, in dem von der Allmacht des Wünschens erzählt wird, keineswegs unheimlich, und zwar deshalb nicht, weil es den Boden der Realität von vornherein verlassen hat. Unheimlich werden fiktive Vorgänge erst dann, wenn der Dichter sich zunächst dem Anschein nach auf den Boden der Realität gestellt hat; erst dann kommt es zum "Urteilsstreit"[3], ob das überwundene Glaubwürdige nicht doch real möglich ist, und dieser Konflikt ist die Bedingung für die Entstehung des Gefühls der Unheimlichkeit.

Die Etymologie des Wortes 'unheimlich' kommt der Freudschen Analyse entgegen, und so stellt er dessen sprachgeschichtliche Herkunft seinen psychologischen Überlegungen zur Seite. 'Unheimlich' entwickelt sich als Gegenteil des gemeingermanischen Wortes heim und dessen Bedeutung von 'Haus', 'Wohnort', 'Heimat'. Neben dieser Bedeutung im Sinne des zum Hause Gehörigen und Vertrauten weist das Wort 'heimlich' von Anfang an auch auf den sich verbergenden Rückzug in das Haus und damit auf ein Geheimnis hin.

Rudolf Otto und Martin Heidegger

Der Theologe Rudolf Otto betrachtet das Unheimliche als rohe, noch unreflektierte Form des beängstigenden Gefühls (mysterium tremendum), das neben der Faszination, die vom Heiligen ausgeht, einen irreduziblen Teil der Erfahrung des Göttlichen ausmacht.

Der Philosoph Martin Heidegger unterscheidet die konkrete Furcht von der Grundbefindlichkeit der Angst, in der sich der Mensch nicht vor etwas Bestimmtem fürchtet, sondern mit dem Nichts und Nirgends seines Daseinsgrundes konfrontiert wird. Das ängstigende Unheimliche begreift Heidegger als ein existentiales Gestimmtsein des Nicht-zuhause-seins in der Welt.

Das Unheimliche in Kunst und Populärkultur

In der Literatur waren z. B. E. T. A. Hoffmann, Edgar Allan Poe und Franz Kafka Meister darin, ihren Erzählungen eine suggestiv unheimliche Atmosphäre zu geben. In der Bildenden Kunst lassen sich Johann Heinrich Füssli, Arnold Böcklin oder A. Paul Weber nennen, in der Musik etwa die Komposition Eine Nacht auf dem kahlen Berge von Modest Petrowitsch Mussorgski.

Viele Regisseure bedienen sich in ihren Werken der Motive und Wirkungsmechanismen des Unheimlichen, zum Beispiel in Form von Horrorfilmen und 'schief' klingenden Melodien.

Siehe auch

Wiktionary Wiktionary: unheimlich – Bedeutungserklärungen, Wortherkunft, Synonyme, Übersetzungen

Literatur

  • Hans Richard Brittnacher: Ästhetik des Horrors. Gespenster, Vampire, Monster, Teufel und künstliche Menschen in der phantastischen Literatur. Suhrkamp, Frankfurt am Main 1994, ISBN 3-518-38897-5.
  • Das Unheimliche. 1919 In: Sigmund Freud: Gesammelte Werke. Chronologisch geordnet. Hrsg. v. Anna Freud u.a. Bd. XII. Fischer Taschenbuch-Verlag, Frankfurt am Main 1999, ISBN 3-596-50300-0, S. 227-278.
  • Martin Heidegger: Sein und Zeit. 1927, 17. Aufl. Niemeyer, Tübingen 1993, ISBN 3-484-70122-6.
  • Ernst Jentsch: Zur Psychologie des Unheimlichen. In: Psychiatrisch-neurologische Wochenschrift. 22 (1906), S. 203-205.
  • Friedrich Kittler: "Das Phantom unseres Ichs" und die Literaturpsychologie. E.T.A. Hoffmann - Freud - Lacan. In: Friedrich A. Kittler, Horst Turk: Urszenen. Literaturwissenschaft als Diskursanalyse und Diskurskritik. Suhrkamp, Frankfurt am Main 1977, ISBN 3-518-07475-X, S. 139-166.
  • Rudolf Otto: Das Heilige. Über das Irrationale in der Idee des Göttlichen und sein Verhältnis zum Rationalen. Trewendt u. Granier, Breslau 1917; Reprint: Beck, München 1987, ISBN 3-406-31899-1.
  • Nicholas Royle: The Uncanny. Routledge, London 2003, ISBN 0-415-96702-3.

Einzelnachweise

  1. Sigmund Freud: Das Unheimliche. In: Ders.: Studienausgabe, Bd. IV. Psychologische Schriften. Hg. v. Alexander Mitscherlich, Angela Richards, James Strachey. Fischer, Frankfurt am Main 1982, S. 241-274, hier: S. 271
  2. Ebenda, S. 267.
  3. Ebenda, S. 272.

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