Virtuelle Rekonstruktion vorvernichteter Stasi-Akten

Virtuelle Rekonstruktion vorvernichteter Stasi-Akten

Als Stasi-Schnipselmaschine wird umgangssprachlich ein Computerprogramm bezeichnet, das die virtuelle Rekonstruktion zerrissener Stasi-Unterlagen ermöglichen soll. Die Software wird im Auftrag der Stasi-Unterlagen-Behörde („Birthler-Behörde“) vom Fraunhofer-Institut für Produktionsanlagen und Konstruktionstechnik (Fraunhofer IPK) entwickelt. Das Programm befindet sich in der Erprobung.

Den Begriff „Stasi-Schnipselmaschine“ prägte die CDU-Bundestagsabgeordnete Beatrix Philipp, die sich zusammen mit weiteren Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens für die Finanzierung der Software zur virtuellen Rekonstruktion der Stasi-Unterlagen einsetzt.

Inhaltsverzeichnis

Entstehung der zerrissenen Stasi-Unterlagen

Ende 1989 wurden bei der DDR-Staatssicherheit zahlreiche Dokumente heimlich beseitigt. Aufgrund der sich überstürzenden Ereignisse reichte die Kapazität der vorhandenen Feuchtschredder, der so genannten „Verkollerungsanlagen“, nicht aus, um die Masse der Akten zu beseitigen. Die Stasi-Mitarbeiter begannen deshalb, Dokumente in großer Zahl per Hand zu zerreißen, um die Schnipsel anschließend in Garagen und Höfen mit Wasser zu übergießen und zu einem Papierbrei zu verstampfen oder in Papiermühlen abfahren zu lassen. Daneben wurden Akten in gewöhnlichen Reißwolfanlagen geschreddert oder in Heizöfen oder auf Müllhalden verbrannt. Aus der Befehlslage der Stasi Ende 1989 ergibt sich, dass vorrangig Akten vernichtet werden sollten, welche die innere Repression belegen, die Zusammenarbeit mit der SED zeigen oder Informanten der Stasi enttarnen könnten. So ordneten etwa die Stasi-Offiziere Wolfgang Reuter und Günther Lohr die Vernichtung der Akte über Gregor Gysi an, was sie später bedauerten, da die Akte heute die Vorwürfe entkräften könnte, dass Gysi „Inoffizieller Mitarbeiter“ (IM) der Stasi gewesen sei.[1]

Die heimlichen Aktenvernichtungen waren der Grund dafür, dass in der ganzen DDR Bürgerinnen und Bürger Stasi-Dienststellen erstürmten und besetzten, zuerst am 4. Dezember 1989 in Erfurt, Rostock und Leipzig, zuletzt am 15. Januar 1990 in Berlin. Die aufgebrachten Bürger stoppten das Vernichtungswerk, so dass noch tausende Säcke mit vorvernichteten, also zerrissenen, aber noch nicht endgültig beseitigten Materialien gerettet wurden. Als Erbe der Friedlichen Revolution verblieben so über 15.000 Säcke zerrissener Materialien in der Obhut der Stasi-Unterlagen-Behörde.

Manuelle Rekonstruktion zerrissener Stasi-Unterlagen

1995 wurde im Auftrag der Stasi-Unterlagen-Behörde mit der händischen Rekonstruktion begonnen. Die Arbeit wird hauptsächlich von Angehörigen des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (BAMF) in Zirndorf bei Nürnberg geleistet. Die Mitarbeiter sind in der Projektgruppe Manuelle Rekonstruktion zerrissener Stasi-Unterlagen zusammengefasst. Bisher wurden knapp 900.000 Blatt aus mehr als 400 Säcken rekonstruiert. Schwerpunkte der Rekonstruktion waren einerseits Schriftstücke der Stasi-Hauptabteilung XX, die mit ihrer breiten Zuständigkeit für Staatsapparat, Kirche, Kultur, Bildung, „politischen Untergrund“ (= DDR-Opposition) und Sport die Schaltstelle der inneren Überwachung und Repression in der DDR war. Unter den aus der Hauptabteilung XX wieder hergestellten Materialien befinden sich bspw. die Opferakte Stefan Heyms (OV „Diversant“) sowie Teile der Opferakte von Jürgen Fuchs (ZOV „Opponent“), aber auch die IM-Akten des früheren thüringischen Landesbischofs Ingo Braecklein (IM „Ingo“)[2], des Szene-Schriftstellers Sascha Anderson (IM „David Mentzer“, IM „Fritz Müller“)[3], des Theologie-Professors und späteren Rektors der Humboldt-Universität Heinrich Fink (IM „Heiner“)[4] und vieler weiterer Funktions- und Würdenträger der DDR. Außerdem konnte anhand rekonstruierter Schriftstücke das gezielte Doping an Minderjährigen im DDR-Leistungssport durch verdeckte „Offiziere im besonderen Einsatz“ (OibE) der Stasi belegt werden. Die beiden Blätter, welche die Mitnahme des DDR-Dissidenten Thomas Klingenstein im Fahrzeug des IM „Notar“ im Jahre 1979 dokumentieren und zu neuerlichen Vorwürfen gegen Gregor Gysi führten, stammen gleichfalls aus der manuellen Rekonstruktion.[5]

Anderserseits wurden bisher vorrangig Schriftstücke der DDR-Auslandsspionage zusammengesetzt. Die Rekonstruktion dieser Unterlagen wird als besonders wichtig eingeschätzt, da es der Stasi-Auslandsspionage („Hauptverwaltung Aufklärung“ – HV A) Anfang 1990 noch fast vollständig gelungen war, ihre Akten zu vernichten. Die zerrissenen Schriftstücke stellen demnach eine beinahe singuläre Überlieferung dar und lassen auf eine wenigstens schmale Quellenbasis zur Organisation und Arbeitsweise der DDR-Auslandsspionage hoffen. Die bisher rekonstruierten Unterlagen belegen bspw. die Steuerung der Gruppe Ralf Forster, einer militärischen Tarnorganisation der DKP, durch die Stasi, das Untertauchen der RAF-Terrorristin Silke Maier-Witt in der DDR oder die Tätigkeit von Agenten der HV A in der alten Bundesrepublik wie IM „Wagner“.

Virtuelle Rekonstruktion zerrissener Stasi-Unterlagen

Angesichts der bisherigen Ergebnisse forderte im Jahr 2000 eine große Mehrheit der Bundestagsabgeordneten, die Rekonstruktion durch den Einsatz geeigneter IT-Verfahren zu beschleunigen.[6] 2003 konnte die Stasi-Unterlagen-Behörde europaweit eine Machbarkeitsstudie für das Projekt ausschreiben. Den Zuschlag bekam ein Konsortium unter Leitung des Fraunhofer IPK. Diesem gelang es 2004, die Machbarkeit der virtuellen Rekonstruktion nachzuweisen. Daraufhin forderten zahlreiche Bundestagsabgeordnete, die virtuelle Rekonstruktion in einem Pilotverfahren real zu erproben.[7] Nach längeren Verhandlungen wurde hierzu im Frühjahr 2007 dem Fraunhofer IPK ein Forschungsauftrag erteilt.

Im Pilotverfahren sollen Schnipsel aus 400 Säcken über Hochleistungscanner digitalisiert werden. Die Scan-Abbildungen werden in einem Rechnerverbund nach äußeren Merkmalen (Risskanten), nach ihrer Farbe sowie nach inneren Merkmalen (Schrift) virtuell zusammengesetzt. Mindestens 80 Prozent der Schnipsel-Sequenzen sollen im automatisierten Betrieb virtuell zusammengefügt werden. Ab dem Jahr 2009 sollen die virtuell rekonstruierten Seiten an die Stasi-Unterlagen-Behörde übergeben, im dortigen Archiv erschlossen und schließlich zugänglich gemacht werden. Die Benutzung der rekonstruierten Unterlagen unterliegt den gleichen Bedingungen, die nach dem Stasi-Unterlagen-Gesetz (StUG) für den Umgang mit Stasi-Akten gelten. Zur Begleitung und Kontrolle des Forschungsauftrages wurde bei der Stasi-Unterlagen-Behörde die Projektgruppe „Virtuelle Rekonstruktion zerrissener Stasi-Unterlagen“ eingerichtet.

Literatur

  • Johannes Weberling, Giselher Spitzer (Hrg.): Virtuelle Rekonstruktion "vorvernichteter" Stasi-Unterlagen. Technologische Machbarkeit und Finanzierbarkeit – Folgerungen für Wissenschaft, Kriminaltechnik und Publizistik, 2. Auflage, Berlin 2007 In: Schriftenreihe des Berliner Landesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR; Band 21.
  • Michael Richter: Die Staatssicherheit im letzten Jahr der DDR, Weimar/Köln/Wien 1996 In: Schriften des Hannah-Arendt-Instituts für Totalitarismusforschung: Bd. 4.
  • Jens Schöne: Erosion der Macht. Die Auflösung des Ministeriums für Staatssicherheit in Berlin, Berlin 2004 In: Schriftenreihe des Berliner Landesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR; Band 19.
  • Tobias Hollitzer: „Wir leben jedenfalls von Montag zu Montag“. Zur Auflösung der Staatssicherheit in Leipzig. Erste Erkenntnisse und Schlussfolgerungen, 2. Aufl., Berlin 2000 In: Die Entmachtung der Staatssicherheit in den Regionen; Bd. 6 = BStU Analysen und Berichte, Reihe B; H. 99,1.
  • Stefan Heym: Der Winter unseres Mißvergnügens. Aus den Aufzeichnungen des OV Diversant. München 1996 (u.ö.)
  • Roger Engelmann: Zum Wert der MfS-Akten. In: Materialien der Enquete-Kommission „Überwindung der Folgen der SED-Diktatur in Deutschland" (12. Wahlperiode der Deutschen Bundestages), Bd. VIII, Baden-Baden 1995, S. 243-296
  • Erhart Neubert: Vergebung oder Weißwäscherei? Zur Aufarbeitung des Stasi-Problems in den Kirchen. Freiburg (Brsg.) 1993.
  • Erhart Neubert (Bearb.): Abschlußbericht des Stolpe-Untersuchungsausschusses, Köln 1994.
  • Rainer Eckert: Die Rolle des Ministeriums für Staatssicherheit an den Hochschulen der DDR an den Beispielen der Humboldt-Universität zu Berlin und der Universität Rostock. In: Materialien der Enquete-Kommission „Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED-Diktatur im Prozeß der Deutschen Einheit" (13. Wahlperiode der Deutschen Bundestages), Bd. IV/2, Baden-Baden 1999, S. 1013-1070
  • Klaus Michael: Alternativkultur und Staatssicherheit 1976-1989. In: Materialien der Enquete-Kommission „Überwindung der Folgen der SED-Diktatur in Deutschland" (12. Wahlperiode der Deutschen Bundestages), Bd. III/2, Baden-Baden 1995, S. 1636-1675
  • Irene Chaker: Die Arbeit der Hauptverwaltung Aufklärung (HV A) im "Operationsgebiet" und ihre Auswirkungen auf oppositionelle Bestrebungen in der DDR. In: Materialien der Enquete-Kommission „Überwindung der Folgen der SED-Diktatur in Deutschland" (12. Wahlperiode der Deutschen Bundestages), Bd. VIII, Baden-Baden 1995, S. 126-242
  • Werner W. Franke: Funktion und Instrumentalisierung des Sports in der DDR: Pharmakologische Manipulation (Doping) und die Rolle der Wissenschaft. In: Materialien der Enquete-Kommission „Überwindung der Folgen der SED-Diktatur in Deutschland" (12. Wahlperiode der Deutschen Bundestages), Bd.III/1, Baden-Baden 1995, S. 904-1143.
  • Giselher Spitzer: Sicherungsbereich Sport. Das Ministerium für Staatssicherheit und der Spitzensport. Schorndorf 2005.

Weblinks

Einzelnachweise

  1. Wolfgang Hübner: „Gregor“ und „Notar“ lebten von zahlreichen Quellen In: Neues Deutschland vom 27./28. Juni 1998, S. 3
  2. Olaf Olpitz: Zerrissene Schicksale In: Focus Nr. 40 (1996)
  3. Sascha Anderson: Mehr als tausend Stasi-Seiten aufgetaucht In: Der Spiegel vom 3. Oktober 1999]
  4. Renate Oschlies: Der Denunziant In: Berliner Zeitung vom 16. Juni 2005
  5. Franziska Augstein, Heribert Prantl: Wir berichten, was die Akten sagen In: Süddeutsche Zeitung vom 26. Juni 2008
  6. BT-Dr. 14/4885
  7. BT-Dr. 15/3718

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