Volkserzählung

Volkserzählung

Mündliche Überlieferung oder Oralität bezeichnet die erzählende Weitergabe von geschichtlichen, gesellschaftlichen und religiösen Informationen – insbesondere in Form von Geschichten, Sagen, Legenden und Traditionen. Sie spielt in allen Kulturkreisen eine große Rolle, insbesondere in jenen, die keine oder erst in Ansätzen eine schriftliche Überlieferung (Schriftlichkeit / Literalität) kennen.

Inhaltsverzeichnis

Formen und Zeitdauer

Meist versteht man unter mündlicher Überlieferung Vorgänge von längerer Zeitdauer, deren Inhalte von Generation zu Generation weitererzählt werden und teilweise erst in jüngerer Zeit niedergeschrieben wurden. Bis heute sind sie von besonderer Wichtigkeit im Orient und in Gesellschaften mit ausgeprägter Erzählkultur, wie sie auch in Europa bis ins 19. Jahrhundert bestand. In der gesellschaftlichen Unterschicht, die nicht schreiben konnte, oder in schriftlosen Kulturen bilde(te)n mündliche Überlieferungen einen großen Teil der Geschichte. Auch bei vielen Gebräuchen ist die mündliche Weitergabe vorherrschend.

Um sicherzustellen, dass mündliche Formen der Überlieferung die Zeiten überdauern, kann man verschiedene Methoden verwenden. Oft werden wichtige Erzählungen in Rituale eingebaut, die sich dann wegen ihrer nonverbalen Inhalte den Beteiligten besonders ins Gedächtnis einprägen. Ein bekanntes Beispiel ist die jährliche Verlesung der Weihnachtsgeschichte in vielen Familien und im Gottesdienst – und ihre Verstärkung durch das Nachspielen der Kinder – die sich auch in „Hirtenspielen“ oder in unzähligen Volksliedern dokumentiert.

Hilfreich für eine dauerhafte Überlieferung ist auch die Gedichtform, weil Reim und Versmaß verhindern, dass einzelne Wörter leicht vergessen und verändert werden können. Allerdings werden gerade Gedichte aktuellen Bedürfnissen bewusst angepasst.

Er gilt als gesichert, dass große Teile des Alten Testamentes mündlich überliefert wurden, bevor man sie aufschrieb. Auch die Evangelien des Neuen Testaments wurden über einige Jahrzehnte mündlich überliefert, bevor ihre Form von einigen Zeitzeugen schriftlich niedergelegt wurde.

In der deutschen Romantik entstanden die beiden wichtigsten Sammlungen mündlich überlieferter Texte: Die Märchen der Brüder Grimm (Kinder- und Hausmärchen) und Des Knaben Wunderhorn von Achim von Arnim und Brentano. Bei beiden Werken ist allerdings zu beachten, dass die Herausgeber ihre Quellen nach ihren Bedürfnissen bearbeiteten. In den 60er Jahren gab Peter Rühmkorf seine Sammlung Über das Volksvermögen heraus, in dem er mündlich überlieferte Aphorismen, Gedichte und Abzählreime sammelte. Rühmkorf betonte dabei die derbe, brutale und sexuelle Seite dieser Überlieferung.

Bedeutende Untersuchungen zur mündlichen Überlieferung stammen u.a. von Milman Parry, Eric A. Havelock und Walter Jackson Ong sowie Jack Goody und Ian Watt. Ein Beispiel für mündliche Überlieferung, die genauer dokumentiert ist, ist die mündliche Dichtung der Atoin Meto

In der Geschichtswissenschaft kann mündliche Überlieferung die wichtigste Quelle für Zeiten und Kulturen sein, in denen es keine schriftliche Überlieferung gibt oder sie (etwa durch Kriegseinwirkungen) verloren ging. Dann muss der Historiker versuchen, den „wahren Kern“ in Sagen und Legenden zu finden. Viele Wissenschafter haben auf diesem Wege dazu beigetragen, in Form methodischer Textkritik auch manche schriftliche Überlieferung ihrer Urfassung näher zu bringen.

Oral History

Hauptartikel: Oral History

Oral History bezeichnet eine spezielle Methode der Geschichtswissenschaft, welche die offizielle Geschichtsschreibung um typische Alltagsgeschichten ergänzt und auf der Befragung von Zeitzeugen beruht. Sie ist seit jeher für die Volkskunde wichtig und heute vermehrt für die Lokal- und Sozialgeschichte relevant. Der Terminus kam in den 1930er-Jahren auf und wird seit den 1960er-Jahren auch im deutschen Sprachraum verwendet.

Oral Poetry

Die Oral Poetry bezeichnet eine relativ junge literaturwissenschaftliche Forschungsrichtung und beschäftigt sich mit allen Formen mündlichen Erzählens, mündlich tradierter Literatur. Dabei wird besonderes Augenmerk auf Umgangssprachliches und sog. Volksgut gelegt. Vergleiche Homerische Frage, Märchen und Volksbuch.

Siehe auch

Literatur

  • H. Günther, O. Ludwig (Hrsg.): Schrift und Schriftlichkeit. Ein interdisziplinäres Handbuch internationaler Forschung. De Gruyter, Berlin 1994–1996, ISBN 3-11-011129-2 (Bd. 1), ISBN 3-11-014744-0 (Bd. 2).
  • Edward R. Haymes: Das mündliche Epos. Einführung in die „Oral-poetry-Forschung“. Metzler, Stuttgart 1977, ISBN 3-476-10151-7.
  • D. R. Olson, N. Torrance (Hrsg.): Literacy and Orality. Cambridge 1991.
  • Walter J. Ong: Oralität und Literalität. Die Technologisierung des Wortes. Westdeutscher Verlag, Opladen 1987, ISBN 3-531-11768-8.
  • Oral Tradition. ISSN 1542-4308. Open-Access-Zeitschrift des Center for Studies in Oral Tradition, Columbia MO (Volltexte).

Weblinks


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