Ritual

Ritual

Ein Ritual (von lateinisch ritualis: „den Ritus betreffend“) ist eine nach vorgegebenen Regeln ablaufende, meist formelle und oft feierlich-festliche Handlung mit hohem Symbolgehalt. Sie wird häufig von bestimmten Wortformeln und festgelegten Gesten begleitet und kann religiöser oder weltlicher Art sein (z. B. Gottesdienst, Begrüßung, Hochzeit, Begräbnis, Aufnahmefeier usw.). Ein festgelegtes Zeremoniell (Ordnung) von Ritualen oder rituellen Handlungen bezeichnet man als Ritus.

Inhaltsverzeichnis

Funktionen des Rituals

Rituale sind ein Phänomen der Interaktion mit der Umwelt und lassen sich als geregelte Kommunikationsabläufe beschreiben (vgl. Walter Burkerts Definition[1] des Rituals als kommunikative Handlung). Sie finden überwiegend im Bereich des menschlichen Miteinanders statt, wo rituelle Handlungsweisen durch gesellschaftliche Gepflogenheiten, Konventionen und Regeln bestimmt und in den unterschiedlichsten sozialen Kontexten praktiziert werden können (Begegnungen, Familienleben, Veranstaltungen, Feste und Feiern, religiöse Kulte und Zeremonien usw.). Zugleich sind Rituale oder ritualisierte Handlungsweisen aber auch auf der Ebene des individuellen Verhaltens anzutreffen (persönliche Rituale, autistische Rituale, Zwangshandlungen).

Ein Ritual ist normalerweise kulturell eingebunden oder bedingt. Es bedient sich strukturierter Mittel, um die Bedeutung einer Handlung sichtbar oder nachvollziehbar zu machen oder über deren profane Alltagsbedeutung hinaus weisende Bedeutungs- oder Sinnzusammenhänge symbolisch darzustellen oder auf sie zu verweisen.

Indem Rituale auf vorgefertigte Handlungsabläufe und altbekannte Symbole zurückgreifen, vermitteln sie Halt und Orientierung. Das Ritual vereinfacht die Bewältigung komplexer lebensweltlicher Situationen, indem es „durch Repetition hochaufgeladene, krisenhafte Ereignisse in routinierte Abläufe überführt“[2]. Auf diese Weise erleichtern Rituale den Umgang mit der Welt, das Treffen von Entscheidungen und die Kommunikation. Durch den gemeinschaftlichen Vollzug besitzen viele Rituale auch einheitsstiftenden und einbindenden Charakter und fördern den Gruppenzusammenhalt und die intersubjektive Verständigung.

Rituale dienen nach Karl Bücher[3] insbesondere auch der Rhythmisierung zeitlicher und sozialer Abläufe. Demnach gibt es

Rituale ermöglichen darüber hinaus die symbolische Auseinandersetzung mit Grundfragen der menschlichen Existenz, etwa dem Bedürfnis nach zwischenmenschlicher Beziehung, dem Streben nach Sicherheit und Ordnung, dem Wissen um die eigene Sterblichkeit oder dem Glauben an eine transzendente Wirklichkeit (z. B. durch Freundschaftsrituale, Staatsrituale, Begräbnisrituale, Grabbeigaben). Derartige Rituale sind daher Ausdruck der Conditio humana, des menschlichen Selbstbewusstseins, der symbolischen Verfasstheit menschlichen Handelns und nach Auffassung einiger anthropologischer Denker (etwa Helmuth Plessner[4]) einer Art „Veranlagung“ (grob vereinfachend ausgedrückt) des Menschen zur Religiosität.

Manchmal verkehren sich ihre Wirkungen aber auch ins Negative, Rituale werden als abgegriffen, überholt, sinnentleert oder kontraproduktiv empfunden und einer Ritualkritik unterzogen.

Rituale, die nur von „Eingeweihten“ verstanden oder praktiziert werden können, können auch der Ausgrenzung oder Beherrschung „Unwissender“ dienen. Von derlei elitären oder geheimnisvollen Ritualen besonders stark geprägt sind magische Riten und Kulte oder Geheimlehren. Auch die in vielen Kulturen praktizierten schamanistischen Rituale, die der Anrufung oder Beschwörung der Geister von Tieren, Pflanzen oder Verstorbenen dienen sollen, sind in der Regel nur ausgewählten Schamanen oder Heilern bekannt.

Medizinisch relevant sind Rituale auch als Zwangshandlungen (Zwangsrituale), die im Zusammenhang mit Zwangsstörungen von den Betroffenen gegen ihren Willen praktiziert werden.

Das Menschenopfer und der Ritualmord sind Formen der rituellen Tötung eines Menschen.

Katholischer Gottesdienst in Riga:
Gottesdienstliche Vollzüge sind generell stark von Ritualen geprägt (hier z. B. Kniefall der Gläubigen, besondere Gewandungen der Mitwirkenden etc.). Die Kirche als Ritualgebäude ist besonders dafür ausgelegt (Beleuchtungseffekte, Einrichtung etc.).

Religiöse Rituale

Rituale sind häufig im Bereich der Religion verankert (hierzu siehe ausführlicher: Religiöse Riten und Grundbegriffe der Religionssoziologie). Derartige Rituale fördern den Zusammenhalt religiöser Gruppen. So ergab die Auswertung von Daten über 83 US-amerikanische Religionsgemeinschaften aus dem 19. Jahrhundert, dass Religionsgemeinschaften desto langlebiger sind, je stärker sie von Ritualen und festen Verhaltensregeln bestimmt sind. Für weltliche Gemeinschaften lässt sich ein solcher Zusammenhang angeblich nicht feststellen.[5]

Sozialwissenschaftliche Forschung und Praxis

Mit Ritualen beschäftigen sich eine Reihe von Sozialwissenschaften, unter anderen die Ethnologie, die Soziologie, die Psychologie, die Pädagogik, die Religionswissenschaft und die Politikwissenschaften.

Ethnologisch sind beobachtbare Rituale vielfach ein Einstieg in die Erforschung von Stammeskulturen.

Soziologisch lassen sich Rituale in allen Gesellschaften beobachten. Beispielsweise ermöglichen Macht-, Unterwerfungs- oder Kampfrituale die Klärung oder Festigung sozialer Rangordnungen und vermeiden gleichzeitig verlustreiche physische Auseinandersetzungen innerhalb der Gruppe (vgl. Ritualisierung im Tierreich). Übergangsriten dienen der Regelung des Zugangs zu höheren Rang- oder Ansehensstufen innerhalb einer gesellschaftlichen Hierarchie. Dabei sind Rituale einem ständigen Wandel unterworfen. Sie erneuern sich und treten in veränderter Gestalt in die gewandelte gesellschaftliche Wirklichkeit. So lassen sich etwa moderne soziale Rituale in gesellschaftlichen Kontexten wie dem Sport, dem Personenkult, der Jugendkultur und der Werbung erkennen.

Im Geschlechterverhältnis spielen Rituale eine bedeutende Rolle. Übergangsriten sorgen für den Eintritt der Mädchen und Jungen in die Welt der Frauen und Männer und heben häufig die Unterschiede zwischen den Geschlechtern hervor. Für Mädchen gibt es - ausgenommen in matrilinaren Gesellschaften - signifikant weniger Rituale als für Jungen. Rituale und Ritualisierungen werden in der Genderforschung gemäß ihrer Handlungsorientierung im Konzept des Doing Gender besprochen. Ähnlich wie andere Soziale und Befreiungs-Bewegungen haben auch die Frauenbewegungen des 19. und 20. Jahrhunderts eigene, identitätsbestärkende Rituale entwickelt, beispielsweise für Aktionen und Frauenfeste [6].

Rituale in der Psychotherapie

Auch in der Psychotherapie spielt die Ritualisierung eine wichtige Rolle. Mit ihrer Hilfe sollen Ordnungen wiederhergestellt werden, wo sie nicht mehr als Struktur vorhanden sind. Auch die struktur- und bedeutungsstiftende Kraft von Ritualen für den sozialen Zusammenhalt von Gruppen soll im therapeutischen Raum nutzbar gemacht werden. Auf symbolische Weise wird der Kern der Gesamtproblematik herausgearbeitet. Rituale und symbolische Handlungen (z. B. eine Versöhnungsgeste) unterstützen den Therapieerfolg etwa in der Familientherapie und können einen bindungsverstärkenden Einfluss in der Paarbeziehung ausüben[7].

Rituale in der vorschulischen Pädagogik

Rituale haben im komplexen System verschiedener sozialer Interaktionen in der Kinderkrippe oder im Kindergarten die Funktion, dem jungen Kind Sicherheit und Geborgenheit zu vermitteln. Es ermöglicht dem Kind das Gefühl, einen Teil des pädagogischen Alltags selbst aktiv mitgestalten und kontrollieren zu können. Rituale strukturieren den Tagesablauf im normalen Alltag.

Beispiele können sein:
  • Tischspruch oder Tischgebet vor der Mahlzeit: wenn eine Handlung (Beginn der Mahlzeit) mit einem Ritual verknüpft ist, erleichtert es Kindern, mit dem gemeinsamen Beginn zu warten, bis alle Kinder am Tisch sitzen und mit dem Tischspruch begonnen werden kann
  • verschiedene eingeübte Rituale während einer Kindergeburtstagsfeier unterstützen die Bereitschaft zur Teilnahme
  • Zähneputzen, Händewaschen und andere ritualisierte Handlungen fördern, dass Hygienemaßnahmen nicht vergessen werden
  • Pädagogische Programmelemente wie Vorlesen, Fingerspiele oder Singen z. B. während des Stuhlkreises oder zu anderen festgelegten Anlässen können ebenfalls ritualisiert erfolgen und fördern das Geborgenheitsgefühl

Je kleiner die Kinder sind, desto wichtiger ist dieser äußere Rahmen einer Programmgestaltung, da Kinder im Vorschulalter den Sinn von Regeln noch nicht begreifen und verinnerlichen können.

Rituale in der Schulpädagogik

Zunehmend wird auch in der neueren Schulpädagogik, insbesondere in der Grundschule, bewusst mit Ritualen gearbeitet, um den Unterricht zu strukturieren und lebendiger zu machen. Auch früher waren Rituale im Schulalltag gang und gäbe (z. B. Aufstehen, wenn der Lehrer den Klassenraum betritt; Morgengebet).

Rituale in der Politik

Auch in der Politik spielen Rituale von jeher eine bedeutende Rolle. In jüngerer Zeit sind besonders die inszenierten Rituale der Weltanschauungsdiktaturen des 20. Jahrhunderts aufgefallen: die Moskauer Paraden zum 1. Mai, der „Römische Gruß“ der italienischen Faschisten, die „Fahnenweihen“ der Nazis am 9. November u. v. a. m. Der US-amerikanische Politologe Murray Edelman (1919–2001) hat in seinem Werk Politik als Ritual den Standpunkt zur Geltung gebracht, dass auch moderne Demokratien Rituale zu propagandistischen Zwecken einsetzen. Er geht dabei insbesondere auf den „mythisierenden“ Gebrauch von Ritualen ein, d. h. den Ersatz eines eigentlich notwendigen oder verlangten politischen Handelns durch ritualisierte (Schein-)Maßnahmen und Debatten, die nur den Eindruck erwecken, dass etwas geschieht, obwohl die zugrunde liegenden Probleme in Wirklichkeit ungelöst bleiben. So können Wähler durch „bloß symbolische“ Rituale gewonnen oder überzeugt werden, auch wenn die tatsächliche Politik ihren Interessen rein sachlich betrachtet nicht oder zumindest nicht in dem angenommenen Maße dient. Die starke Abhängigkeit politischen Handelns in demokratischen Systemen von der Öffentlichkeitswirkung begünstigt diese Entwicklung. Das „Ritual“ in Edelmans Definition wird auf diese Weise zu einer Art „Selbstzweck“ der Politik.

Siehe auch

Literatur

  • Gerd Althoff, Jutta Götzmann, Matthias Puhle, Barbara Stollberg-Rilinger (Hrsg.): Spektakel der Macht. Rituale im Alten Europa 800–1800. Katalog zur Ausstellung vom 21. September 2008 bis zum 5. Januar 2009 im Kulturhistorischen Museum Magdeburg. Primusverlag, Darmstadt 2008, ISBN 978-3-89678-634-0 (Rezension).
  • Claus Ambos, Stephan Hotz, Gerald Schwedler, Stefan Weinfurter (Hrsg.): Die Welt der Rituale. Von der Antike bis heute. 2. unveränderte Auflage. Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 2006, ISBN 3-534-18701-6.
  • Andréa Belliger, David J. Krieger (Hrsg.): Ritualtheorien. Ein einführendes Handbuch. Westdeutscher Verlag, Opladen 1998, ISBN 3-531-13238-5.
  • Burckhard Dücker: Rituale. Formen - Funktionen - Geschichte. Eine Einführung in die Ritualwissenschaft. Metzler, Stuttgart u. a. 2006, ISBN 3-476-02055-X.
  • Mary Douglas: Ritual, Tabu und Körpersymbolik. Sozialanthropologische Studien in Industriegesellschaft und Stammeskultur. S. Fischer, Frankfurt am Main 1974, ISBN 3-10-815601-2.
  • Murray Edelman: Politik als Ritual. Die symbolische Funktion staatlicher Institutionen und politischen Handelns. Campus-Verlag, Frankfurt am Main 1976, ISBN 3-593-32512-8 (Originaltitel: The Symbolic Uses of Politics).
  • Arnold van Gennep: Les rites de passage. Nourry, Paris 1909 (Deutsch: Übergangsriten. Aus dem Französischen von Klaus Schomburg. Mit einem Nachwort von Sylvia Schomburg-Scherff. Campus, Frankfurt am Main 1986, ISBN 3-593-36248-1).
  • Daniel B. Lee: Ritual and the Social Meaning and Meaninglessness of Religion. In: Soziale Welt 56, H. 1, 2005, ISSN 0038-6073, S. 5–16.
  • Roy A. Rappaport: Ritual and Religion in the Making of Humanity. Cambridge University Press, Cambridge u. a. 1999, ISBN 0-521-22873-5.
  • Victor Turner: Das Ritual. Struktur und Anti-Struktur. Neuauflage. Campus Verlag, Frankfurt am Main 2005, ISBN 3-593-37762-4 (Campus-Bibliothek).

Weblinks

Wiktionary Wiktionary: Ritual – Bedeutungserklärungen, Wortherkunft, Synonyme, Übersetzungen

Einzelnachweise

  1. In: W. Burkert: Homo necans (1972), S. 31-39.
  2. So drückt es die Feuilletonistin Christine Tauber in der FAZ vom 30. Januar 2008 (auf S. 36 in der Rezension zu einem Buch von I. Walther und R. Zapperi) aus.
  3. Vgl. K. Bücher: Arbeit und Rhythmus (1904)
  4. Vgl. H. Plessner, Die Stufen des Organischen und der Mensch (1928)
  5. Gehirn & Geist Nr. 1-2/2005
  6. Cäcilia Rentmeister: Frauenfeste als Initiationsritual und 7 Passages between Life and Death. (abgerufen am 29. August 2010)
  7. Anke Birnbaum: Rituale - Ihre Bedeutung für die Paarbeziehung, Online-Familienhandbuch (abgerufen am 4. Februar 2008)

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