Zaubermärchen

Zaubermärchen

Die Zaubermärchen bilden eine spezielle Untergattung von Erzählungen im Bereich der Märchen. Ihr gemeinsames Merkmal ist die Vorstellung, dass es möglich sei, die Wirklichkeit durch magische Praktiken zu beeinflussen. Magische Kräfte, die Kenntnis von Zaubersprüchen, der Besitz von sogenannten Wünscheldingen spielen eine große Rolle. Zu dieser Gattung gehören sowohl Volksmärchen als auch Kunstmärchen.

Inhaltsverzeichnis

Arten von Zaubermärchen

Die Einordnung geht zurück auf Antti Aarne, der als erster eine Einteilung der Volksmärchen in Tiermärchen, den Schwank und das so genannte "eigentliche Märchen" vornahm. Der letztgenannte Typ wurde von ihm wiederum in vier Untertypen untergliedert: Novellenartige Märchen, Legendenartige Märchen, Zaubermärchen und Märchen vom dummen Teufel (Riesen)'.

Nach dem Aarne-Thompson-Index rechnen zu den Zaubermärchen die folgende Arten (mit Verweisen auf die Klassifizierung des Aarne-Thompson-Index (AaTh):

  • Erzählungen von der Heirat des Jägers mit einem Tiermädchen (in Europa und Nordasien gewöhnlich ein Vogelmädchen, im nordwestlichen Europa ein Seehundmädchen). Aus den Vogelmädchen sind in manchen Überlieferungssträngen Feen, Himmelsjungfrauen oder verzauberte Prinzessinnen geworden. Die traditionelle Märchenforschung stellt diese Erzählungen irrtümlich zum Typus AaTh 400 „Der Mann auf der Suche nach seiner verschwundenen Gattin“.
  • Menschenfressermärchen, so die Varianten AaTh 327 B „Der Däumling und der Menschenfresser“ und AaTh 328 „Der Knabe stiehlt die Schätze des Unholds“. Das Märchen vom Däumling, der mit seinen Brüdern im Hause eines Menschenfressers übernachtet und denselben wiederholt übertölpelt (AaTh 327 B + AaTh 328), kommt in der Folklore westafrikanischer Völker und sogar in der Folklore der nordamerikanischen Indianer vor, was auf ein hohes Alter schließen lässt (siehe Literatur: Schild, Serauky bzw. Frobenius).
  • Die Märchen vom guten und vom schlechten Mädchen (AaTh 480). Diese sind über Europa, Afrika und Asien verbreitet. Die zwei Helden begegnen übernatürlichen Wesen. Es geht immer darum, dass der eine Held das Richtige tut und der andere unter denselben Umständen das Falsche. Gewöhnlich erscheint der positive Held als höflich, bescheiden, hilfsbereit, fleißig usw. Das bekannte Grimmsche Märchen Frau Holle ist eine unter hunderten Varianten.
  • Die Märchen von den drei Zaubergaben (AaTh 563). In den ursprünglichen Varianten tritt der Wind als alleiniger Spender auf, in der stark entstellten Grimmschen Bearbeitung „Tischleindeckdich, Goldesel und Knüppel aus dem Sack“ sind es drei voneinander unabhängige Handwerksmeister.
  • Die Initiationsmärchen [1]. Diese Überlieferungen spiegeln in mehr oder weniger entstellter Form die Erlebnisse der Knaben und Mädchen bei der kollektiven archaischen Jugendweihe im Rahmen der Buschschule wider, deshalb strotzen sie vom Glauben an magische Praktiken. Erstens wurde die Buschschule vom Stammeszauberer oder von der Stammeshexe geleitet, zweitens gehörte das Zaubern als Lehrfach zum Programm der Buschschule. Zaubern bedeutet hier das Erlernen von magischen Praktiken, z. B. Liebeszauber, Heilzauber, Abwehrzauber, auch in Form von Liedern und Tänzen. Wie Diedrich Westermann bei den Kpelle im Hinterland von Liberia in Erfahrung brachte (s. Literatur), wurden alle Schüler mit solchen Praktiken vertraut gemacht; die künftigen Zauberer besuchten einen Sonderlehrgang, ebenso wie die künftigen Beamten und potenziellen Häuptlinge. Aufschlussreich für das alte Europa sind die Märchen vom Zauberer und seinem Lehrling (AaTh 325). Von der traditionellen Märchenforschung werden die Initiationsmärchen als „eigentliche Zaubermärchen“ bezeichnet.

Zaubermärchen in der Märchenforschung

Die traditionelle Märchenforschung verwendet den Begriff Zaubermärchen häufig, doch beim praktischen Umgang mit den Überlieferungen erweist sich dieser Begriff als wenig hilfreich. Im Aarne-Thompson-Index steht zum Beispiel bei der Liste der Zaubermärchen an erster Stelle der Typus 300, „Der Drachentöter“. In diesem Fall handelt es sich jedoch nicht um ein Zaubermärchen. In den Märchen vom Drachentöter spiegelt sich die Überwindung eines alten Brauchs wider: Als die Menschen gelernt hatten, ihre Felder zu bewässern, verzichteten sie darauf, dem Flussgott (den man sich als Schlange oder „Drache“ vorstellte) im Hinblick auf eine gute Ernte alljährlich eine Jungfrau zu opfern. Diese Überlieferung hat sich im Laufe der Jahrhunderte mit zahlreichen Initiationsmärchen (also echten Zaubermärchen) verbunden, z. B. mit AaTh 301 „Die Prinzessinnen in der Unterwelt“ und mit AaTh 303 „Die zwei Brüder“.

Der russische Märchenforscher Wladimir Jakowlewitsch Propp (1895-1970) verband den Begriff Zaubermärchen mit einem sehr elastischen Handlungsschema, welches eine lange Reihe von "Funktionen" umfasst (maximal 31); die Reihe beginnt mit einem Verlust, mit der Zufügung eines Schadens (Raub, Verjagung u. ä.) oder mit dem Wunsch, eine Sache zu besitzen (der Zar schickt seinen Sohn nach dem Feuervogel aus) und endet mit der Rückkehr und Heirat des Helden, fallweise mit seiner Thronbesteigung. Zum Schema gehören die Prüfung des Helden, die Begegnung mit dem Schenker, der ihm ein Zaubermittel schenkt, mit dessen Hilfe der gesuchte Gegenstand gefunden wird, schwere Aufgaben, der Kampf mit einem Gegner, Flucht nebst Verfolgung usw. Dabei sind nicht alle Funktionen verpflichtend, die Flucht etwa oder die Thronbesteigung kann fehlen. Im Falle des Kampfes ist es gleichgültig, ob der Held mit den drei Drachen kämpft, welche die Gestirne raubten, oder mit dem Drachen, der einen Brunnen sperrt und als Tribut Jungfrauen fordert, oder mit dem Riesen, der die Königstochter entführte. Mit diesem etwas schwammigen Begriff des Zaubermärchens arbeitet Propp in den zwei Abhandlungen "Morphologie des Märchens" und "Die historischen Wurzeln des Zaubermärchens". Er spricht von einem kompositionellen Kern, der sehr vielen und ganz verschiedenartigen Sujets zugrunde liegt ("Wurzeln" S. 14), und bezieht in seine Analyse Überlieferungen ein, die der Herkunft nach wie auch dem Inhalt nach verschieden sind: Menschenfresser-Märchen (wie AaTh 327 A "Hänsel und Gretel"), Märchen vom guten und vom schlechten Mädchen (AaTh 480), Drachentöter-Märchen (AaTh 300), Initiationsmärchen u. a.

Literatur

  • Aarne, Antti: Die Zaubergaben. Eine vergleichende Märchenuntersuchung. Helsingfors: Societé Finno-ougrienne, 1909.
  • Aarne, Antti: The Types of the Folk-tale. A classification and bibliography. Translated and enlarged by Stith Thompson. Suomalainen Tiedeakatemia: Helsinki 1961.
  • Propp, Wladimir J.: Morphologie des Märchens. Russisch: Leningrad 1928, deutsch: München 1972.
  • Propp, Wladimir J.: Die historischen Wurzeln des Zaubermärchens. Russisch: Leningrad 1946, deutsch: München und Wien 1987.
  • Frobenius, Leo: Das Zeitalter des Sonnengottes. Berlin: Reimer, 1904. S. 377.
  • Grimm, Brüder Grimm: Kinder- und Hausmärchen. 1957.
  • Roberts, Warren E.: The Tale of the Kind and the Unkind Girls. Berlin/West: de Gruyter, 1958.
  • Schild Ulla (Hg.): Westafrikanische Märchen. Düsseldorf und Köln: Diederichs, 1975. S. 82-86.
  • Serauky, Christa (Hg.): Der Streit mit Kalunga. Leipzig und Weimar: Kiepenheuer, 1988. S. 86-91.
  • Diedrich Westermann: Die Kpelle. Ein Negerstamm in Liberia. Dargestellt auf der Grundlage von Eingeborenenberichten. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht; Leipzig: Hinrich; 1921.

Referenzen

  1. Typen von Initiationsmärchen nach AaTh: AaTh 301, 302, 303, 310, 311, 313, 314, 325, 326, 333, 361, 400, 402, 403, 408, 409 A, 410, 425 A, 425 B, 425 C, 433, 437, 440, 441, 450, 461, 475, 502, 507 A, 516, 709, 710, 894 u. a.

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