Zweite Marokkokrise

Zweite Marokkokrise
Das Kanonenboot SMS Panther

Die zweite Marokkokrise, auch als Panthersprung nach Agadir bekannt, wurde 1911 durch die auf persönlichen Befehl Wilhelms II.[1] erfolgte Entsendung[2] des deutschen Kanonenboots Panther nach Agadir ausgelöst, nachdem französische Truppen Fès und Rabat besetzt hatten. Die am 1. Juli 1911 eingetroffene Panther wurde nach wenigen Tagen durch zwei andere deutsche Kriegsschiffe, den Kleinen Kreuzer Berlin und das Kanonenboot Eber, ersetzt.[3] Ziel der deutschen Aktion war die Abtretung von Kolonialgebieten Frankreichs an das Deutsche Reich als Gegenleistung für die Akzeptanz der französischen Herrschaft über Marokko in Folge der ersten Marokkokrise. Drohgebärden wie die Entsendung der Panther sollten dieser Forderung Nachdruck verleihen.

Inhaltsverzeichnis

Verlauf und Beilegung der Krise

Großbritannien befürchtete, wie schon während der ersten Marokkokrise, das Ziel des Deutschen Reiches sei die Errichtung einer Flottenbasis in Agadir, um von dort aus die äußerst wichtigen britischen Seeverbindungen nach Ägypten und Indien zu beherrschen. Zu diesem Zeitpunkt stand das deutsch-britische Wettrüsten auf dem Höhepunkt, die Beziehungen zwischen beiden Ländern waren äußerst angespannt. Die deutsche Regierung unter Reichskanzler Theobald von Bethmann Hollweg hielt es jedoch nicht für nötig, andere Mächte dabei zu konsultieren, was zu dem Missverständnis beitrug. Als Folge dessen schlug sich Großbritannien auf die Seite Frankreichs, das daraufhin nicht zu den erhofften Zugeständnissen gegenüber Deutschland bereit war. Das jetzt isolierte Deutsche Reich drohte daraufhin immer offener mit Krieg, wollte diesen gleichzeitig aber nicht riskieren. Darauf fing die kriegserregte deutsche Öffentlichkeit an, Kaiser Wilhelm II. Feigheit vorzuwerfen, und Politiker, die einen Präventivkrieg forderten, gewannen an Einfluss.

Die Krise wurde schließlich am 4. November 1911 mit dem Marokko-Kongo-Vertrag beigelegt, in dem das Deutsche Reich auf seine Ansprüche in Marokko verzichtete und dafür mit einem Teil der französischen Kolonie Französisch-Äquatorialafrika (Neukamerun) entschädigt wurde. Die Gebietsgewinne waren nur ein Bruchteil dessen, was die deutsche Regierung angestrebt hatte. Durch diese Krise wurde die außenpolitische Isolation des Deutschen Reichs in Europa weiter verschärft.

Im Vertrag von Fès verlor Marokko 1912 seine Souveränität an Frankreich, das sein Protektorat Französisch-Marokko errichtete und Spanien Teile im Norden, Spanisch-Marokko, überließ.

Hintergründe der Krise

Am 21. Mai 1911 marschierten französische Truppen unter General Charles Moinier nach Marokko ein und besetzten Fès und Rabat. Aus Paris wurde der Schritt damit begründet, dass es einen Hilferuf des Sultans Mulai Abd al-Hafiz gegeben hätte. Dieser war in derselben Zeit in Auseinandersetzungen mit aufständischen Stämmen verwickelt. Frankreich führte an, dass es durch die Intervention einen Bürgerkrieg verhindern und die Autorität des Sultans stärken wollte. Nach dem Einmarsch der französischen Truppen dementierte der Sultan jedoch, um Hilfe gebeten zu haben und wies darauf hin, dass er sich weiterhin an die Algeciras-Akte halte. Trotzdem zeigte er sich dankbar für die Niederschlagung der gegen ihn gerichteten Aufstände. Das Sultanat Marokko war bei der Aufteilung des Osmanischen Reiches bis dahin unabhängig geblieben sah sich seit der Kolonisierung Algeriens aber immer stärker unter Druck aus Frankreich. Außerdem rangen deutsche und französische Rüstungskonzerne um die reichen Erzvorkommen des Landes und den damit verbundenen Waffenhandel.[4]

Während der französischen Aktion begann auch Spanien seine Truppen in Alarmbereitschaft zu versetzen, da sich das Königreich durch die militärische Präsenz Frankreichs im direkten Nachbarland in seinen Interessen bedroht sah.

Als offizielle Begründung für die Entsendung der Panther wurde eine Bedrohung deutscher Firmenhäuser im Süden Marokkos („des maisons allemandes, établies au Sud du Maroc et notamment à Agadir et dans ses environs“[5]) geltend gemacht. Ein entsprechender Hilferuf wurde auf Bestellung des Auswärtigen Amtes von der Hamburg-Marokko-Gesellschaft unter der Leitung von Wilhelm Regendanz veranlasst und lag unterzeichnet erst nach dem 1. Juli in der Wilhelmstraße vor.[6]

Hinter dem aggressiven Vorgehen in Marokko standen kolonial- und bündnispolitische Überlegungen des Auswärtigen Amtes. Zum Einen sollte die Agadir-Aktion (ähnlich wie die Erste Marokkokrise) einen Keil zwischen die Bündnispartner Großbritannien und Frankreich treiben, zum Anderen schwebten dem Staatssekretär mittelafrikanische Kompensationen vor, welche längerfristig eine Verbindung Deutsch-Kameruns und Deutsch-Ostafrika herstellen sollten.[7] Im Laufe der Verhandlungen zwischen Kiderlen-Wächter und dem französischen Botschafter Jules Cambon, bei denen von Anfang an Kompensationsgedanken im Vordergrund standen, sah sich die deutsche Außenpolitik zunehmend in dem Zwiespalt, sich durch tatkräftige Rhetorik Vorteile in den Verhandlungsgesprächen zu verschaffen, ohne einen Krieg, bei dem man Großbritannien an der Seite Frankreichs sah, zu provozieren.

Das im Marokko-Kongo-Abkommen erreichte Resultat wurde in der Presse und Öffentlichkeit enttäuscht als „neues Olmütz“ aufgenommen, was sich auf die diplomatische Niederlage Preußens in der Olmützer Punktation von 1850 bezog.[8] Die Reichstagsdebatte mit der verteidigenden Rede Bethmann Hollwegs stand unter diesem Vorzeichen. Die innenpolitischen Rückwirkungen, die von einer erfolgreichen Marokkopolitik erhofft worden waren, blieben aus, verschlechterten gar das politische Klima, sodass der „schwarz-blaue Block“ in der Reichstagswahl 1912 eine herbe Niederlage erfahren musste.

Protestkundgebungen in Europa

Die zweite Marokkokrise war der bis dahin gefährlichste Konflikt zwischen den Europäischen Mächten. Vielen Menschen war die Gefahr eines Weltkrieges bewusst und entsprechend regte sich vielfältiger Protest. In den meisten europäischen Ländern gingen massenhaft Menschen auf die Straßen oder versammelten sich in großen Sälen, um gegen die Kriegsgefahr zu protestieren. Neben bürgerlichen Pazifisten und liberalen Rüstungsgegnern war die wichtigste Akteurin dieser Proteste die europäische Sozialdemokratie und in vielen Ländern auch die Gewerkschaftsbewegung. In Paris und anderen französischen Städten fanden regelmäßig Kundgebungen, Demonstrationen und Versammlungen statt. Demonstrativ wurden Gewerkschafter oder Vertreter der jeweiligen sozialdemokratischen oder Arbeiterparteien aus den in den Konflikt involvierten Ländern eingeladen. Selbst im Vereinigten Königreich, das keine Protest- und Demonstrationsgeschichte besitzt, versammelten sich in zahlreichen Städten Menschen, um gegen die Kriegsgefahr zu protestieren. Hier fiel die Marokkokrise allerdings in eine für das Land ungekannte Phase radikalisierter Arbeitskämpfe, die sogar den Einsatz des Militärs zur Folge hatten. Am 13. August kamen mehrere Tausend Menschen auf dem Londoner Trafalgar Square zusammen und hielten gemeinsam mit gerade anwesenden französischen Arbeitern eine Kundgebung ab.
Die größten Kundgebungen fanden derweil in Deutschland statt, wo mit der SPD die mitgliederstärkste sozialistische Arbeiterpartei der Welt existierte. Allerdings tat sich der Parteivorstand lange Zeit schwer, überhaupt eine Stellungnahme zum Konflikt zu veröffentlichen oder zu Protesten aufzurufen. So weigerte sich die SPD-Führung eine Sondersitzung des ISB einzuberufen. Dieses Verhalten wurde vor allem durch Rosa Luxemburg und den linken Parteiflügel mit Hilfe der Leipziger Volkszeitung äußerst scharf kritisiert, was den Vorstand, nach heftigen Angriffen auf die Parteilinke um Luxemburg, schließlich dazu bewog, massenhaft zu Protestveranstaltungen zu mobilisieren.[9] Über den gesamten August hinweg fanden praktisch täglich in vielen Orten massenhaft besuchte Protestversammlungen statt. Die größte von ihnen fand aber am 3. September in Berlin statt. Hier versammelten sich mehr als 200.000 Menschen im Treptower Park, um gegen die Kriegsgefahr zu protestieren. Diese Demonstration war damit wohl die größte, die bis dahin auf der Welt stattgefunden hatte.[10]

Siehe auch

Weblinks

Einzelnachweise

  1. Luciano Canfora: August 1914. Oder: Macht man Krieg wegen eines Attentats? Köln 2010, S. 36
  2. Telegramm der Admiralität vom 26. Juni 1911
  3. Telegramm der Admiralität vom 28. Juni 1911
  4. Gerd Fesser: Der Panthersprung nach Agadir. Mit dem deutschen Marineabenteuer vor Marokkos Küste begann am 1. Juli 1911 der Weg in den Ersten Weltkrieg. In: Die Zeit, Nr. 27, 30. Juni 2011, S. 24
  5. Die Große Politik der Europäischen Kabinette 1871–1914. Sammlung der Diplomatischen Akten des Auswärtigen Amtes, hrsg. v. Johannes Lepsius, Albrecht Mendelssohn Bartholdy, Friedrich Thimme, 29. Bd., Berlin 1927, Nr. 10578.
  6. Willibald Gutsche: Monopole, Staat und Expansion vor 1914. Zum Funktionsmechanismus zwischen Industriemonopolen, Großbanken und Staatsorganen in der Außenpolitik des Deutschen Reiches 1897 bis Sommer 1914, Berlin 1986, S. 145.
  7. Emily Oncken: Panthersprung nach Agadir. Die deutsche Politik während der Zweiten Marokkokrise 1911, Düsseldorf 1981, S. 234
  8. Klaus Wernecke: Der Wille zur Weltgeltung. Außenpolitik und Öffentlichkeit im Kaiserreich am Vorabend des Ersten Weltkrieges, Düsseldorf 1970, S. 62.
  9. Kleinbürgerliche oder proletarische Weltpolitik? in: RLGW 3, S. 26–31; Unser Marokkoflugblatt, in: RLGW 3, S. 32–36.
  10. Vorwärts, 4. September 1911.

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