Blutmord Konitz

Blutmord Konitz

In der Konitzer Mordaffäre 1900/02 eskalierten die aus dem Mittelalter tradierten Ritualmordbeschuldigungen gegen Juden zu Pogromen. Diese waren begleitet von intensiv geführten innenpolitischen Debatten zwischen antisemitischen und christlich-konservativen Politikern und Redakteuren auf der einen und sozialdemokratischen und linksliberalen Politikern auf der anderen Seite. Antisemitische Politiker und Presseorgane trugen mit ihrer Agitation dazu bei, dass jüdische Gebäude demoliert wurden, die Synagoge von Konitz brannte fast vollständig aus.

Inhaltsverzeichnis

Chronik

Am Sonntag, dem 11. März 1900 verschwand in der westpreußischen Kleinstadt Konitz der 18jährige Gymnasiast Ernst Winter. Zwei Tage später fand der Vater den Torso seines Sohnes in einem nahe der Stadt gelegenen See. Am Fundort trafen zu einer ersten Begutachtung der Konitzer Bürgermeister Deditius als Vertreter der örtlichen Polizeibehörde, der erste Staatsanwalt Settegast und der Kreisphysikus Dr. Müller ein.

Eine vorläufige Obduktion ergab: Die Arme und Beine von Ernst Winter wurden „kunstgerecht mit scharfen Schnitten aus den Gelenken gelöst, die Wirbelsäule mit feiner, scharfer Säge durchtrennt“. Dies legte den Verdacht nahe, dass nur ein Fleischermeister den Mord begangen haben könnte.

Weil der Kreisphysikus zudem eine signifikante Blutleere diagnostizierte und zu dem Ergebnis kam, dass Ernst Winter durch Verbluten getötet worden sei, nährte sich in weiten Bevölkerungskreisen der Verdacht, dass ein von Juden verübter Ritualmord vorliegen könnte. Dieser Verdacht wurde durch die mittlerweile aus Konitz berichtende antisemitische Staatsbürger-Zeitung bestärkt.

Neben dem christlichen Fleischermeister Hoffmann geriet so auch die Familie des jüdischen Schächters Lewy in Verdacht. Doch die Hausdurchsuchungen bei beiden Familien belasteten die verdächtigten Personen nicht.

In der Zwischenzeit meldeten sich immer mehr Zeugen, die etwas zu dem Mordgeschehen glaubten beitragen zu können. So gab beispielsweise der Arbeiter Massloff zu Protokoll, er habe in der Nacht vom 11. auf den 12. März gegen 23 Uhr Auffälligkeiten im Hause der jüdischen Familie Lewy bemerkt: Licht im Keller, Stimmengewirr, „Gewimmere und Gestöhne“.

Da die Ermittlungsbehörden aufgrund der mannigfachen Zeugenaussagen in Konitz überfordert waren, schickte das preußische Innenministerium am 25. März 1900 einen erfahrenen Kriminalbeamten nach Konitz. Gleichzeitig riefen angesehene Konitzer Bürger eine Nebenuntersuchungskommission ins Leben, sie waren davon überzeugt, dass die Ermittlungsbehörden zu lasch gegen die in ihren Augen schuldige jüdische Familie Lewy ermittele.

Die zerfahrene Situation in Konitz erhielt am 18. April 1900 neue Nahrung. Der Botenmeister des Landgerichts von Konitz gab zu Protokoll, er habe einen jüdischen Lumpensammler mit einem Sack gesehen, in dem dieser vermutlich den Kopf von Ernst Winter abtransportiert habe. Der Lumpensammler wurde umgehend verhaftet, doch der spätere Prozess gegen ihn endete mit seinem Freispruch.

Trotz intensiver Ermittlungen und einer Erhöhung der Belohnung für die Ergreifung des Täters auf schwindelerregende 20.000 Mark ließen sich die Verdachtsmomente weder gegen den Fleischermeister Hoffmann noch gegen die Familie Lewy und vermeintliche Unterstützer erhärten. Vielmehr entlud sich in Konitz und Umgebung ein antisemitischer Volkszorn: Fensterscheiben von jüdischen Häusern wurden demoliert, auch die Synagoge war nicht mehr sicher vor Übergriffen. Als die Ausschreitungen eskalierten, beorderte der Innenminister Militär nach Konitz. Dieses sorgte für die Aufrechterhaltung der Ordnung, konnte jedoch nicht verhindern, dass die Synagoge fast vollständig niedergebrannt wurde.

Parallel zu den Ermittlungen in Konitz kamen Zweifel an dem Gutachten des Konitzer Kreisphysikus auf. Das Medizinal-Kollegium in Danzig kam zu folgendem Ergebnis, welches auch die renommierten Berliner Ärzte Virchow und Bergmann zu einem späteren Zeitpunkt teilen: „1. Der Tod des Ernst Winter ist durch Erstickung erfolgt. 2. Die Annahme, dass der an der zerstückelten Leiche Ernst Winters vorgefundene Halsschnitt bei Lebzeiten Winters ausgeführt wurde und den Verblutungstod herbeiführte, entbehrt der wissenschaftlichen Begründung. 3. Der Tod erfolgte am 11. März innerhalb der ersten sechs Stunden nach der genossenen Mahlzeit. 4. Der Nachweis von Spermaflecken an der Außenseite von Hose und Weste macht es wahrscheinlich, dass Winter kurz vor dem Tode den Beischlaf ausführte oder auszuführen versuchte.“ Die Gutachten belegten also, dass ein Verbluten von Ernst Winter als Todesursache nicht ernsthaft in Frage kam.

Die medizinischen Gutachten widerlegten insbesondere auch die Aussage eines der Hauptbelastungszeugen. Massloff konnte am Abend des 11. März in dem Haus der Familie Lewy unmöglich das Gewimmere von Ernst Winter gehört haben, wie er es stets zu suggerieren versucht hatte. Er wurde deshalb in einem Meineidsprozess zu einer Zuchthausstrafe verurteilt.

Aber nicht nur Bernhard Massloff wurde verurteilt. Auch Moritz Lewy, der Sohn des jüdischen Schächters von Konitz, wurde wegen Meineides verurteilt. Er hatte behauptet, Ernst Winter nicht zu kennen, was Zeugen jedoch in Zweifel zogen. Ihren Angaben folgte auch das Gericht.

Der Mörder von Ernst Winter wurde nie gefasst und für seine Tat zur Rechenschaft gezogen. Die Existenz der Familie Lewy war in Konitz zerstört. Der abschließende Prozess gegen zwei Redakteure der antisemitischen Staatsbürger-Zeitung endete mit deren Verurteilung wegen Landfriedensbruchs.

Vier Jahre nach dem grausigen Mord an Ernst Winter sorgte ein Bericht, der vermutlich von dem Kriminalkommissar Braun verfasst worden war, noch einmal für Aufsehen. Der Kommissar glaubte nunmehr nachweisen zu können, dass vermutlich der Arbeiter Bernhard Massloff den Gymnasiasten Ernst Winter getötet haben könnte. Anders als zunächst angenommen wäre auch ein geübter landwirtschaftlicher Knecht wie Bernhard Massloff in der Lage gewesen, eine Leiche so kunstgerecht zu zerstückeln wie dies bei Ernst Winter der Fall gewesen war. Doch auf Seiten der Staatsanwaltschaft bestand kein Interesse mehr, den Fall ein weiteres Mal aufzurollen.

Parlamentsdebatten

Vom 4. bis 7. Februar 1901 debattierte der Reichstag und am 8. und 9. Februar 1901 das Preußische Abgeordnetenhaus über den Konitzer Ritualmordvorwurf. Zuvor hatten antisemitische Reichstagsabgeordnete die Broschüre „Der Blutmord von Konitz“ an die Mitglieder des Reichstages und des Preußischen Abgeordnetenhauses verschickt und darin propagandistisch die „Legende vom jüdischen Blutmord“ zu untermauern versucht.

In den Debatten, welche die Antisemitische Volkspartei (AVP) initiiert hatte, begründete diese, dass Konitz ein weiteres Beispiel für den übermäßigen Einfluss des Judentums auf die Ermittlungsbehörden offenbare und deutlich zeige, dass der im Volk gärende Ritualmordverdacht gegen den in ihren Augen mitschuldigen Moritz Lewy zu wenig verfolgt werde.

Gegen diese Argumentationsweise verwahrten sich die sozialdemokratischen Reichstagsabgeordneten Joseph Herzfeld und Arthur Stadthagen energisch. Sie diskreditierten die Ritualmordlegende „als blödsinniges, albernes Märchen“ und machten die AVP-Mitglieder für die Verbreitung des Ritualmordvorwurfs verantwortlich. Im preußischen Abgeordnetenhaus verurteilte der linksliberale Abgeordnete Heinrich Rickert, der zwischen 1895 und 1902 Vorsitzender des „Vereins zur Abwehr des Antisemitismus“ war, dezidiert die Pogrome in Konitz. In seinen Augen hatten die Antisemiten durch ihre „Nebenuntersuchungskommission“ wesentlich diese Pogrome mitverursacht. Er hob zudem hervor, dass sich die Justizbehörden zu nachsichtig gegenüber den antisemitischen Verleumdungen verhalten hätten.

Im preußischen Abgeordnetenhaus beteiligten sich lediglich die „kleinen“ Parteien an der Debatte um den Konitzer Ritualmordvorwurf, die großen Parteien wie das Zentrum und die Konservative Partei äußerten sich dazu nicht.

Medienereignis

Schon Gustav George, der die Konitzer Affäre und ihre Eskalationen vor Ort verfolgt hatte, bilanzierte, dass die antisemitische Partei mit ihrer Agitation die mediale Herrschaft in Konitz errungen habe. Er begründete dies u.a. damit, dass der zunächst neutral und objektiv berichtende „Konitzer Landbote“ sich nach und nach antisemitischer Argumentationsweisen bedient habe.

Die antisemitische Staatsbürger Zeitung, das Pamphlet „Der Blutmord von Konitz“ des Reichstagsabgeordneten Max Liebermann von Sonnenberg und die christlich konservative von dem dem Reichstagsabgeordneten Adolph Stoecker herausgegebene Zeitung Das Volk unterließen keinen Versuch, den Mord von Konitz als einen von Juden verübten Ritualmord zu ventilieren. Sie erreichten, dass – vor allem in der Phase intensiver Ermittlungen der Behörden – der antisemitischen Vorstellung vom Ritualmord Vorschub geleistet wurde.

Literatur

  • Johannes T. Groß: Ritualmordbeschuldigungen gegen Juden im Deutschen Kaiserreich (1871–1914). Metropol, Berlin 2002, ISBN 3932482840
  • Christoph Nonn: Eine Stadt sucht einen Mörder. Gerücht, Gewalt und Antisemitismus im Kaiserreich. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2002, ISBN 3525362676
  • Helmut Walser Smith: Die Geschichte des Schlachters. Mord und Antisemitismus in einer deutschen Kleinstadt. Wallstein Verlag, Göttingen 2002, ISBN 3892446121

Weblinks


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