Bullet-Cluster

Bullet-Cluster

1E 0657−558 (auch bekannt als Bullet-Cluster, deutsch „Geschosshaufen“) ist ein Galaxienhaufen im Sternbild Kiel des Schiffes. Die genauen Koordinaten des Haufens sind Rektaszension 06h 58m 29s und Deklination −55° 57′ . Die Rotverschiebung beträgt z = 0.296[1], das entspricht einer Entfernung (Lichtlaufzeit) von 3,35 Milliarden Lichtjahren.

Beobachtungen im Röntgenlicht zeigten, dass der Galaxienhaufen vor etwa 100 Millionen Jahren von einem zweiten, kleineren Galaxienhaufen durchquert wurde, der wie ein „Geschoss“ in den Röntgenbildern erscheint. Genauere Untersuchungen der Verteilung der Galaxien (Beobachtungen im sichtbaren Licht), des heißen Plasmas (Beobachtungen im Röntgenbereich) und des Gravitationspotentials (durch Beobachtungen des schwachen Gravitationslinseneffektes) gaben Aufschluss über die Dynamik der Kollision, die zu einer ungewöhnlich deutlichen Trennung der einzelnen Komponenten des Galaxienhaufens führte. Insbesondere zeigt sich, dass sich die Verteilungen von dunkler und „heller“ (baryonischer) Materie deutlich voneinander unterscheiden. Diese Beobachtung stellt einen direkten empirischen Beweis für die Existenz von dunkler Materie dar und macht 1E 0657−558 zu einem außerordentlich wichtigen Objekt für die Forschung.[2]

Die Situation ist die folgende: Im Osten (links im Bild) befindet sich der weitaus massivere der beiden Haufen. Dieser wurde vor etwa 100 Millionen Jahren von einem kleineren Haufen (dem Geschoss, daher der Name) durchquert. Beide Haufen sind durch eine deutlich erhöhte Galaxiendichte ausgezeichnet und werden heute in einem gegenseitigen Abstand von etwa 0.72 Mpc beobachtet. Die Radialgeschwindigkeiten unterscheiden sich nur leicht, so dass der Zusammenstoß etwa in der Himmelsebene stattfindet (bzw. stattgefunden hat).

Galaxienhaufen sind Ansammlungen von einem Dutzend bis hin zu Tausenden von Galaxien. Die Masse, die in Sternen enthalten ist, macht dabei nur einen relativ kleinen Teil der Gesamtmasse aus. Wesentlich mehr Material als in den Sternen befindet sich in diffusem Gas, welches den Raum zwischen den Galaxien ausfüllt. Letzteres ist sehr heiß und konnte folglich erst entdeckt werden, als die aufkommende Raumfahrt der Röntgenastronomie den Weg ebnete. Die bisherigen Beobachtungen legen nahe, dass Galaxienhaufen gravitativ gebunden sind (sie werden von ihrer eigenen Schwerkraft zusammengehalten). Dieses ist jedoch nicht möglich, falls nur die baryonische Materie (Sterne + Gas) vorhanden sind und die Allgemeine Relativitätstheorie (ART) zugrunde gelegt wird.

Mögliche Lösungen dieses Widerspruchs sind die Einführung einer großen Menge nicht direkt sichtbarer Masse (der dunklen Materie) oder eine Modifikation der ART. Bisherige Beobachtungen (z. B. die Rotationskurven der Galaxien oder die (innere) Dynamik von Galaxienhaufen) konnten nur wenig zur Beantwortung dieser Frage beitragen. Dieses ist anders im Falle des Bullet-Clusters. Die dunkle Materie ist im Übrigen nicht per Definition nichtbaryonisch, es gibt jedoch gute Argumente dafür, dass sie es ist (Stichworte hier sind primordiale Nukleosynthese und kosmische Hintergrundstrahlung).

Im Falle des Bullet-Clusters werden drei Kerngrößen beobachtet. Dabei handelt es sich um die Verteilung der Galaxien, die Verteilung des intergalaktischen Gases (rot im Bild) und die Massenverteilung (blau im Bild). Diese Größen können unabhängig voneinander erfasst werden. Die Verteilung der Galaxien wird durch optische Beobachtungen bestimmt, das intergalaktische Gas ist im Röntgenbereich sichtbar (wurde hier mit Chandra beobachtet), und die Massenverteilung wird mit Hilfe des Gravitationslinseneffektes ermittelt (die Grundlage hierfür sind Aufnahmen des Hubble-Weltraumteleskopes). Der letzte Effekt ist recht klein und schlägt sich in einer Verformung der Bilder der Hintergrundgalaxien nieder (hier muss dann ein statistischer Ansatz gemacht werden).

Das Ergebnis lautet wie folgt: Die Verteilung der Masse folgt der Verteilung der Galaxien; das intergalaktische Gas tut das nicht. Es „hinkt“ dem Bullet-Cluster hinterher.

Das kann folgendermaßen verstanden werden. Die Galaxien fliegen praktisch ungestört (kollisionsfrei) aneinander vorbei. Der Abstand zwischen den Galaxien einerseits und den Sternen innerhalb derselben andererseits ist sehr groß im Vergleich zur Ausdehnung der Objekte. Sternkollisionen oder desgleichen kommen daher so gut wie nicht vor. Das intergalaktische Gas befindet sich in einer wolkenartigen Struktur, die sehr ausgedehnt ist. Die Gaswolken der beiden Haufen laufen nicht stoßfrei durcheinander, sondern es bilden sich Schocks (rot im Bild). An den Schockfronten kommt es zur Aufheizung des Materials. Die Schockbildung ist letztendlich auf die elektromagnetische Wechselwirkung der Gasteilchen zurückzuführen (nicht auf die Gravitation!). Durch den „Aufprall“ der Wolken verlieren diese an Geschwindigkeit, und so hinkt das Bullet-Cluster-Gas den Galaxien hinterher.

Für die dunkle Materie bedeutet das zuerst einmal, dass sie vorhanden ist. Sonst kann der gemessene Gravitationslinseneffekt nicht erklärt werden. Das ist wichtig, da es Grenzen für Theorien festlegt, die eine Abänderung der ART in Erwägung ziehen (beispielsweise Modifizierte Newtonsche Dynamik). Sie verhält sich wie die Galaxien. Das heißt, dass sie nahezu oder völlig stoßfrei durch den jeweils anderen Haufen strömt. Die Wechselwirkung mit sich selbst und mit dem intergalaktischen Gas muss also entsprechend schwach sein. Das ist ein Indiz dafür, dass sie nicht baryonisch ist.

Insbesondere die Separation von dunklem und baryonischem Materiebeitrag ist wichtig und wurde hier zum ersten mal beobachtet.

Der im Jahre 2006 erschienen Arbeit zum Bullet-Cluster ist inzwischen eine weitere Veröffentlichung mit gleicher Zielsetzung gefolgt. Diese behandelt die Situation im Abell 520 System, in dem ähnliche Beobachtungen gemacht werden wie im Bullet-Cluster. Während die hier gemachten Betrachtungen zur Dynamik der einzelnen Komponenten (Sterne, Gas und dunkle Materie) direkt auf die dortigen Verhältnisse übertragen werden können, ist die Gesamtsituation dort komplexer und bietet neue Möglichkeiten, etwas über die dunkle Materie zu lernen.

Einzelnachweise

  1. W. Tucker et al., 1E 0657-56: A Contender for the Hottest Known Cluster of Galaxies, Astrophysical Journal 496, L5 (1998) [1]
  2. D. Clowe et al., A Direct Empirical Proof of the Existence of Dark Matter, Astrophysical Journal 648, L109 (2006) Veröffentlichung,frei erhältlicher Preprint

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