Annemirl Bauer

Annemirl Bauer
Annemirl Bauer um 1966

Annemirl Bauer (* 10. April 1939 in Jena; † 23. August 1989 in Berlin-Friedrichshain) war eine deutsche Malerin und Grafikerin. Gleichzeitig galt sie als Regimekriterin in der DDR.

Inhaltsverzeichnis

Biografie

Annemirl Bauer wurde als Tochter der Malerin Tina Bauer-Pezellen[1] und des Fotografen Siegbert Bauer in Jena geboren. Von 1955 bis 1958 besuchte sie die Fachschule für angewandte Kunst, Fachbereich Keramik und Spielzeuggestaltung, in Sonneberg. Anschließend absolvierte ein Abendstudium an der Dresdner Kunstakademie, von 1960 bis 1962 ein Studium an der Kunsthochschule Berlin-Weißensee im Fach Malerei und Grafik bei Professor Fritz Dähn und von 1962 bis 1965 unter anderem bei Walter Womacka und Arno Mohr. Nach ihrem Diplom wurde sie in den Verband Bildender Künstler der DDR (VBK) aufgenommen. Studienreisen führten sie in diesen Jahren nach Ungarn, Bulgarien, Rumänien, Polen und die CSSR. In den 1970er Jahren fertigte sie im staatlichen Auftrag mehrere Wandbilder für öffentliche Gebäude in Berlin und Thüringen, geriet aber ab Ende der 1970er Jahre mit dem System in der DDR zunehmend in Konflikt. 1981 versuchten Mitarbeiter des Ministeriums für Staatssicherheit der DDR sie als Spitzel innerhalb der Künstlerszene, als Inoffiziellen Mitarbeiter (IM) anzuwerben, was sie verweigerte [2]

Im Februar 1984 forderte Annemirl Bauer in einer Eingabe an den Präsidenten des Verbands Bildender Künstler, Willi Sitte, in Kopie unter anderem an DDR-Kulturminister Hans-Joachim Hoffmann und das für Kulturfragen zuständige Politbüromitglied Kurt Hager, ein Reiserecht für alle DDR-Bürger[3]. Darin schrieb sie unter anderem: „Die Eingrenzung eines ganzes Volkes auf Dauer ist Gewaltanwendung und führt zu Isolierung und Entmündigung desselben“. Außerdem protestierte sie gegen die Selbstschussanlagen an der DDR-Grenze, die Freikaufgeschäfte und die „gewaltsame Ausbürgerung von Menschen, die ich zur schöpferischen Intelligenz zähle“, sowie gegen die staatlichen Maßnahmen gegen die kurz zuvor aus der Leitung des Verbands Bildender Künstler abgesetzte und mehrwöchig in der MfS-Untersuchungshaftanstalt Hohenschönhausen inhaftierte Malerin und Bürgerrechtlerin Bärbel Bohley. Als Reaktion auf die Eingabe wurde Annemirl Bauer im Juli 1984 aus dem Verband Bildender Künstler der DDR ausgeschlossen, was einem Berufsverbot gleichkam. Bereits im April 1984 eröffnete die Berliner Bezirksverwaltung Staatssicherheitsdienstes den Operativen Vorgang „Zelle“ mit dem Ziel, „gerichtsverwertbare Beweise“ gegen Annemirl Bauer wegen „staatsfeindlicher Hetze“ zu erarbeiten und „Zersetzungsmaßnahmen“ gegen sie zu organisieren. Dazu gehörte unter anderem, sie durch den „gezielten Einsatz von IM“, davon viele im Bereich des Verbands Bildender Künstler, unter anderem IM „Christian“, Jürgen Strand [4], in ihrem Kollegen- und Freundeskreis zu isolieren und wirtschaftlich in Bedrängnis zu bringen, wie mit vom MfS organisierten nachträglichen Steuernachforderungen des Finanzamts oder Schikanen durch die staatliche Wohnungsverwaltung sowie mehreren ebenfalls von Mitarbeitern des Ministeriums für Staatssicherheit der DDR initiierten Einbrüchen und Vandalismus in ihrem Atelier. Aufgrund der Fürsprache von Künstlerkollegen wurde sie 1986 trotzdem wieder in den Verband Bildender Künstler aufgenommen. Im Rahmen eines Verwandtenbesuchs in die BRD reiste sie 1987 illegal nach Spanien und kehrte anschließend in die DDR zurück.

Im Frühsommer 1989 wurde bei ihr Krebs diagnostiziert, dem sie im August 1989 in Ost-Berlin erlag. Sie hinterließ ein umfangreiches künstlerisches Werk, einige Werke davon sind heute im Besitz des Museums Junge Kunst Frankfurt (Oder) und der Sammlung der Berlinischen Galerie.

Bohley Eingeschlossene, Annemirl Bauer, undatiert
Letzter Mauertoter, Annemirl Bauer, Frühjahr 1989

Werke (Auswahl)

Annemirl Bauer hinterlässt ein umfangreiches Werk von rund 16.000 Bildnissen. Darunter befinden sich zahlreiche Darstellungen auf traditionellen Malgründen wie Papier, Leinen, Acryl oder Glas. Sie hat aber auch auf Amtsformulare, Türen, Fenster und sogar Teppiche gemalt.[5]

Postume Ehrung

Am 18. September 2010 wurde in Berlin-Friedrichshain, wo sie in ihren letzten Lebensjahren ihr Atelier unterhielt, eine zuvor namenlose Grünanlage am Bahnhof Ostkreuz in Annemirl-Bauer-Platz benannt.[6]

Künstlerische Rezeption

„Die zahlreichen Bilder, Zeichnungen und Texte der Künstlerin belegen, dass sie einen Weg gegangen ist, der ihrer unerschrockenen, kampfesmutigen und kreativen Lebensart entsprach. Dennoch hat sie die verschiedenen Möglichkeiten unseres Seins eindrucksvoll darzustellen verstanden. So lernen wir in ihrem Werk sowohl die Frau kennen, die »glanzlos und dumpf, ohne Konturen und ohne Feuer, ein unterwürfiges Opfer« war, »das ihrerseits jemanden in der Schlinge hatte«, als auch jene, »die blitzte und funkelte, ... scharfe Kanten, wissende Augen und ein schallendes Lachen« besaß und zugleich »Kämpferin und Trösterin, Provokateurin und Vorbild«  war“, schreibt die Direktorin des Museums Junge Kunst Frankfurt (Oder), Prof. Dr. Brigitte Rieger.[7]

Der einstige Ost-Berliner Galerist Christof Tannert schrieb 2007:[8] „Unbändiges Malen, unbändiges Sinnen. Opulent und dissident ist Annemirl Bauers Werk. Was da nämlich auf den ersten Blick heiter-naiv, selten auch düster, daherzukommen scheint, ist intim hintersinnig und tiefgründig fragend, immer und vor allem aber: malerisch. Da sind Farben Linien und Linien Farbe, da ist zufälliges Material und da sind Komposition und Opposition Bekenntnis“.

Die Kunsthistorikerin Inken Dohrmann schreibt über Annemirl Bauer: „Im Laufe der Jahre verdichteten sich ihre Zeichnungen zu einer Wort und Bild vereinenden Kunstsprache. »Über das Weibliche möchte ich sprechen«, so Annemirl Bauer in jener Zeit, »weil ich in einer männlichen Welt lebe, wo das weibliche Sein so gut wie nicht sichtbar ist.« Wortspiele webte sie in ihre Bildideen ein, entlarvte »weibliches Sein« als das »Seine«, das »Ihre« als das »Irre«, verwies auf »wohlfahrende Männlichkeit«, die »willfährige Weiblichkeit« zur Voraussetzung hat. In den Umrissen ihrer Figuren, die sie rasch und in sicherer Linienführung unter Aussparung des Individuellen aufs Papier bannte, wird neben persönlich Erlebtem allgemein Menschliches sichtbar.“[7]

Literatur

  • Wolf Deinert: Meine Heimat 1980
  • Asteris Kutulas (Hrsg.): Bizarre Städte, Kapitel 'Feminismus, Frankreich, Fanderole', Christine Müller im Gespräch mit Annemirl Bauer, 1989,
  • Frauenmuseum Bonn Ausstellungskatalog: 22. April-27. Mai 1990
  • Ausstellungskatalog: Intershop Global Art Exhibition 1999; Hamburg-Jena-Paris-San Francisco-Stuttgart
  • Inken Dohrmann: Der Fall Annemirl Bauer, in: Eingegrenzt – Ausgegrenzt, Bildende Kunst und Parteiherrschaft in der DDR 1961–1989 von Hannelore Offner und Klaus Schroeder, Akademie Verlag Berlin 2000
  • Bärbel Bohley, Gerald Praschl, Rüdiger Rosenthal: Mut – Frauen in der DDR , Herbig Verlag 2005, S.61f.
  • Ausstellungskatalog: Über das Weibliche…, Museum Junge Kunst Frankfurt (Oder), 2007

Einzelnachweise

  1. Tina Bauer-Pezellen
  2. vgl. Inken Dormann: Der Fall Annemirl Bauer in Eingegrenzt, Ausgegrenzt: Bildende Kunst und Parteiherrschaft in der DDR 1961−1989 , Hrsg.: Hannelore Offner/ Klaus Schröder, Akademie Verlag, 2000
  3. Eingabe von Annemirl Bauer an Willi Sitte, Kopie aus der Stasiakte OV "Zelle"
  4. vgl. dazu Inken Dohrmann: Der Fall Annemirl Bauer, Seite 232, dto.
  5. Biografische Kurzinformation anlässlich des Kiezfestes zur Benennung des Platzes; abgerufen am 1. Februar 2011
  6. Taz, 10. November 2009, Platz machen für eine Künstlerin, auf taz.de, gesichtet am 13. November 2010
  7. a b Ausstellungskatalog: „Über das Weibliche…“ Museum Junge Kunst Frankfurt (Oder), 2007
  8. Text von Christof Tannert, 2007

Weblinks


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