Charles Olson

Charles Olson

Charles Olson (* 27. Dezember 1910 in Worcester (Massachusetts); † 10. Januar 1970 in New York City) war ein US-amerikanischer Dichter.

Inhaltsverzeichnis

Leben

Charles Olson war das einzige Kind von Karl (genannt Charles) Joseph Olson und Mary Theresa Olson (geborene Hines). Die Mutter stammte von irischen, der Vater, ein Postbote, von schwedischen Einwanderern ab.[1] Die Familie verbrachte seit 1915 ihre Sommerferien in dem alten Fischerstädtchen Gloucester auf Cape Ann, der der mythische Ort von Olsons Hauptwerk, den Maximus Poems, werden sollte.

Olson studierte von 1928 bis 1932 Englisch an der Wesleyan University in Middletown, erwarb den Magistertitel mit einer Arbeit über den von ihm verehrten Schriftsteller Herman Melville. Nachdem er zwei Jahre als Englisch-Dozent gearbeitet hatte, schrieb er sich 1936 an der Harvard University ein. 1938 ermöglichte es ihm ein Guggenheim-Stipendium, seine Forschungen über Melville fortzusetzen. Er promovierte sich in diesem Jahr, jedoch ohne eine Dissertationsschrift einzureichen.[2]

1940 zog er nach New York, wo er für verschiedene öffentliche Institutionen, unter anderem das Office of War Information, in leitender Stellung tätig war. Ab diesem Jahr lebte er mit Constance (Connie) Wilcock zusammen. Aus der Verbindung ging 1951 die Tochter Katherine Mary (Kate) hervor.[3]

1944 gehörte er zum Wahlkampfteam von Franklin D. Roosevelt. Nach Roosevelts Tod 1945 entschloss sich Olson, der seit 1940 Gedichte schrieb, zu einer schriftstellerischen Karriere. Er besuchte den damals in der psychiatrischen Anstalt St. Elizabeth in Washington internierten Dichter Ezra Pound insgesamt 24-mal, brach aber, nach einer politischen Kontroverse mit ihm, 1948 den Kontakt ab.[4]

1951 reiste Olson mit Connie Wilcock nach Yucatán. Dort entstanden die „Maya-Briefe“ an seinen lebenslangen Freund und Korrespondenten, den Dichter Robert Creeley.

Olson hatte, auf Einladung des Malers Josef Albers, seit 1948 immer wieder als Gastdozent am Black Mountain College, einem Treffpunkt der künstlerischen Avantgarde, unterrichtet. Von 1951 an war er dort als Lehrer, ab 1954 bis zur Schließung des College 1957 als Rektor beschäftigt. Während seiner Zeit am College entwickelte sich eine kurze, aber intensive Korrespondenz mit dem deutschen Dichter Rainer Maria Gerhardt.[5]

1954 lernte Olson am College die 28-jährige Studentin Elizabeth (Betty) Kaiser kennen. Im Jahr darauf wurde der gemeinsame Sohn Charles Peter Olson geboren.

Im Jahr 1957 übersiedelte Olson nach Gloucester, wo er bis zu seinem Tod an seinen Maximus Poems arbeitete. 1964 kam Betty Olson bei einem Autounfall ums Leben. 1966 hielt sich Olson in Berlin auf. Im Dezember 1969 wurde bei ihm Leberkrebs diagnostiziert. Der Krankheit erlag er wenige Wochen später.

Werk

Neben seinen Gedichten hat Olson bedeutende Essays vorgelegt. Ab 1945 entstand seine Melville-Studie Call Me Ishmael (1947), in dem er nicht nur die Einflüsse Shakespeares auf Moby Dick erläutert, sondern auch den unbegrenzten Raum zur grundlegenden Kategorie des amerikanischen Denkens erklärt. Wesentlich einflussreicher wurde sein Essay über den „Projektiven Vers“ (1950). Angelehnt an die physikalische Feldtheorie, beschreibt Olson darin das Gedicht als einen dynamischen, offenen Akt und wendet sich so gegen eine akademische und kontemplative Poetik.[6] Diese pragmatische, körperliche, ereignishafte, wirklichkeitsbezogene Auffassung des Dichtens müsse sich unmittelbar auf dessen Inhalt auswirken. „Vom Augenblick an, wo die projektive Absicht des Aktes eines Verses begriffen wird, ändert sich – zwangsläufig – der Inhalt. Wenn Atem der Anfang und das Ende ist, Stimme im weitesten Sinne, dann verschiebt sich das Material des Verses. Es muß. Es beginnt bei dem, der schreibt.“[7]

In seinen Vorlesungen und theoretischen Äußerungen ist Olson stark von Alfred North Whitehead, vor allem von dessen Hauptwerk Process and Reality (1927/28), beeinflusst. Realität, so Olson im Anschluss an Whitehead, dürfe nicht länger als ein Sachzusammenhang, sondern müsse als ein Aktionszusammenhang begriffen werden.[8]

Olson zeigt in seinen „Maya-Briefen“ und in seinen Vorlesungen den Willen, das westliche Denken („western box“), das ihm metaphysisch und starr erscheint, in Richtung auf eine pragmatische, offene, relativistische Philosophie zu überwinden. Er sieht nicht nur den Dichter, sondern den Menschen ganz allgemein als einen Handelnden.[9] Geschichte sei die Praxis des Raums in der Zeit.[10] In diesem Zusammenhang verwendet er bereits in den fünfziger Jahren den Begriff „postmodern“.[11]

Seine auf Genauigkeit bedachte Dichtung zeigt zwar den Einfluss Ezra Pounds und der Objektivisten, insbesondere von William Carlos Williams, ist aber wesentlich dynamischer angelegt. An seinem bekanntesten Gedicht „The Kingfishers“[12] lässt sich die kühne Verschränkung verschiedener Sinnbezirke nach Art einer literarischen Montage beobachten. Jedoch ist die Montage stets auf das Hier und Jetzt des dichterischen Sprechens – den „stance“ (die Haltung, die Einstellung, den Zugriff) [13] – bezogen.

Der Titel seines Hauptwerks The Maximus Poems (1950–1969) geht unter anderem auf den Sophisten Maximos von Tyros zurück, verweist aber auch auf (körperliche) Größe („maximus“, lateinisch „der Größte“; Olson maß 204cm). Das aus über 600 Einzelgedichten bestehende Werk ist eine von Fakten und mythologischen Assoziationen angeregte Bestimmung des Ortes Gloucester als einer neuen Polis.[14]

Schriften (Auswahl)

  • Gedichte. Übertragen von Klaus Reichert. Frankfurt/M. 1965
  • Selected Writings. Hg. von Robert Creeley. New York 1966
  • Call Me Ishmael. A Study of Melville. London 1967 (Deutsche Ausgabe: Nennt mich Ismael. Eine Studie über Herman Melville. Übers. v. Klaus Reichert. München 1979)
  • West. Übersetzt und annotiert von Klaus Reichert. Berlin 1969
  • The Special View of History. Hg. v. Ann Charters. Berkeley 1970
  • The Post Office. A Memoir of his Father. Einleitung von George F. Butterick. Bolinas 1975 (Deutsche Ausgabe: Das Postamt. Eine Erinnerung. Übersetzt von Michael Mundhenk. Augsburg 1997)
  • Muthologos. The Collected Lectures & Interviews. Hg. v. George F. Butterick. Bolinas 1978
  • Charles Olson and Robert Creeley: The Complete Correspondence. Hg. v. George F. Butterick und Richard Blevins. 10 Bände. Berkeley 1980–1990
  • The Maximus Poems. Hg. v. George F. Butterick. Berkeley, Los Angeles, London 1983
  • The Collected Poems. Excluding the Maximus Poems. Hg. v. George F. Butterick. Berkeley, Los Angeles, London 1987
  • Ich jage zwischen Steinen. Briefe und Essays. Hg. v. Rudolf Schmitz. Bern, Berlin 1998
  • Selected Letters. Hg. v. Ralph Maud. Berkeley, Los Angeles, London 2000

Literatur über Charles Olson (Auswahl)

  • Sherman Paul: Olson’s Push. Origin, Black Mountain and Recent American Poetry. Baton Rouge, London 1978
  • George F. Butterick: A Guide to the Maximus Poems of Charles Olson. Berkeley, Los Angeles, London 1978
  • Don Byrd: Charles Olson’s Maximus. Urbana, Chicago, London 1980
  • Gerd Schäfer: „Verse, janusköpfig nach vorne, nach hinten. Vor 100 Jahren wurde der amerikanische Dichter Charles Olson geboren“, Deutschland Radio Kultur, 27. Dezember 2010
  • Norbert Lange, Gerd Schäfer, Norbert Wehr (Hg.): „Charles Olson. Gloucester/Massachusetts. Die Maximus-Gedichte“, Schreibheft, 77/2011

Einzelnachweise

  1. Ralph Maud: „A Chronology of Charles Olson’s Life and Correspondence“, in: Charles Olson: Selected Letters. Hg. v. Ralph Maud. Berkeley, Los Angeles, London 2000, S. XXVIIff. Über den früh verstorbenen Vater schrieb Olson 1948 in den posthum veröffentlichten Erzählungen Stocking Cap, Mr. Meyer und The Post Office. Veröffentlicht in The Post Office. A Memoir of his Father. Einleitung von George F. Butterick. Bolinas 1975 (auch deutsch).
  2. Peter Grant: Chronology of Charles Olson’s life and work.
  3. Peter Grant: Chronology of Charles Olson’s life and work.
  4. Den Immigrantensohn Olson empörte unter anderem eine abfällige Bemerkung Pounds über William Carlos Williams' „mixed blood“. Ralph Maud: „Olson and Pound“, in: Ders.: Charles Olson at the Harbor. Vancouver 2008, S. 59–69, besonders S. 68.
  5. Vgl. die Darstellung auf der Website „zugeritten in manchen sprachen. Über Werk und Wirkung des Dichters und Vermittlers Rainer Maria Gerhardt“.
  6. Vgl. Don Byrd: Charles Olson’s Maximus. Urbana, Chicago, London 1980, S. 38.
  7. Charles Olson: „Projektiver Vers“, in: Ders.: Gedichte. Übertragen von Klaus Reichert. Frankfurt/M. 1965, S. 105–120, hier S. 117.
  8. Stefan Ripplinger: „Roll over Plato. Vor 100 Jahren wurde Charles Olson geboren, der den Raum der Dichtung neu vermessen hat“, konkret, 12/2010, S. 48f., hier S. 49. Siehe auch Robin Blaser: „The Violets. Charles Olson and Alfred North Whitehead“, in: Ders.: The Fire. Collected Essays. Hg. v. Miriam Nichols. Berkeley, Los Angeles, London 2006, S. 196–228.
  9. „Man is, He acts“, Charles Olson, The Special View of History. Hg. v. Ann Charters. Berkeley 1970, S. 34.
  10. „History is the practice of space in time“, Charles Olson: The Special View of History. Hg. v. Ann Charters. Berkeley 1970, S. 27.
  11. Vgl. Charles Olson: The Special View of History. Hg. v. Ann Charters. Berkeley 1970, S. 25.
  12. Deutsch „Die eisvögel“, in: Charles Olson: Gedichte. Übertragen von Klaus Reichert. Frankfurt/M. 1965, S. 7–14.
  13. Vgl. Charles Olson: The Special View of History. Hg. v. Ann Charters. Berkeley 1970, S. 19. Vgl. auch Don Byrd: Charles Olson’s Maximus. Urbana, Chicago, London 1980, S. 54ff.
  14. „I compell Gloucester / to yield, to / change / Polis / is this“, Charles Olson: „Maximus to Gloucester, Letter 27 (withheld)“, in: Ders.: The Maximus Poems. Hg. v. George F. Butterick. Berkeley, Los Angeles, London 1983, S. 185. Etwa: „Ich dringe in Gloucester / sich zu fügen, sich / zu verändern / Dies ist / Polis“. Zum Begriff der „Polis“, siehe auch Charles Olson: The Special View of History. Hg. v. Ann Charters. Berkeley 1970, S. 25: „History is the new localism, a polis to replace the one which was lost in various stages all over the world from 490 B.C. on (...)“ (Geschichtlichkeit bezeichnet die neue Ortsbezogenheit, eine Polis, die diejenige ersetzt, welche in unterschiedlichen Etappen auf der ganzen Welt seit 490 v.Chr. verloren gegangen ist).

Weblinks


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