deliberative Demokratie

deliberative Demokratie

Eine deliberative Demokratie betont die aktive Mitwirkung aller Bürger einer Demokratie im Sinne einer partizipatorischen Demokratie. Wesentliches Kennzeichen einer deliberativen Demokratie ist ein Diskurs über alle politischen Themen, der auch als Deliberation bezeichnet wird.

Im Zentrum der Theorie der deliberativen Demokratie steht das Legitimationsideal der öffentlichen Beratung politischer Fragen. Der Kern dieser Theorie ist daher eine Kritik der liberalen Theorie der Demokratie, vor allem der rein aggregativen Sichtweise und der Übertragung des Marktmodells auf die Politik.

Der Begriff deliberative Demokratie wurde von Joseph M. Bessette in dem 1980 erschienenen Buch Deliberative Democracy: The Majority Principle in Republican Government geprägt und in dem 1994 erschienenen Buch The Mild Voice of Reason weiter ausgearbeitet. Diese Denkrichtung wurde u. a. von Seyla Benhabib, James Bohman, Joshua Cohen, Jon Elster, James S. Fishkin, Amy Gutmann, Jürgen Habermas und Dennis Thompson aufgegriffen.

Im Folgenden wird Jürgen Habermas' Ansatz dieser Theorieentwicklung dargestellt.

Inhaltsverzeichnis

Ansatz von Habermas

Diskurs

Deliberative Demokratietheorie geht davon aus, dass Bürger in Diskursen über politische Themen diskutieren. Habermas charakterisiert die Regeln dieses Diskurses wie folgt (Habermas 1992: 370 f.):

  • Ein Diskurs besteht aus Diskussionen und Beratungen, in denen verschiedene Parteien Informationen einbringen, geregelt austauschen und kritisch prüfen.
  • Diese Beratungen sollen öffentlich sein. Niemand, der auch nur potentiell von den Beschlüssen betroffen ist, darf ausgeschlossen werden.
  • Kein Teilnehmer darf Druck von außen ausgesetzt werden. Die einzigen Bedingungen, an die sich die Akteure zu halten haben, sind die Kommunikationsvoraussetzungen (Verständlichkeit) und der Verfahrensmodus der Argumentation (Begründungsprinzip: die Orientierung an Geltungsansprüchen).
  • Kein Teilnehmer darf Zwängen innerhalb eines Diskurses ausgesetzt sein. Jeder Akteur muss die gleichen Chancen haben, sich zu jeder Information, die in den Diskurs einfließt, zu äußern und neue Informationen selbst einzubringen.
  • Politische Diskurse umfassen alle Themen, die im allgemeinen Interesse geregelt werden können. Besonders relevant sind also Fragen der Ungleichverteilung von Ressourcen, von denen die Wahrnehmung gleicher Teilnahme- und Kommunikationsrechte abhängen.[1]

Anmerkung zu dem oben stehenden: Diese Regeln stammen nicht von Habermas, sondern von Joshua Cohen und werden von Habermas in „Faktizität und Geltung“ als mangelhaft bezeichnet. Zitat: „In diesem Bild deliberativer Demokratie fehlen nicht nur wichtige interne Differenzierungen sondern auch Aussagen zum Verhältnis zwischen den entscheidungsorientierten Beratungen, die durch demokratische Verfahren reguliert sind und den informellen Meinungsbildungsprozessen in der Öffentlichkeit.“[2]

Öffentlichkeit

Diskurse vollziehen sich öffentlich bzw. in der Öffentlichkeit:

„Die Öffentlichkeit lässt sich am ehesten als ein Netzwerk für Kommunikation von Inhalten und Stellungnahmen, also von Meinungen beschreiben“ (Habermas 1992: 436). Öffentlichkeit ist also kein vorgefundener Raum, sondern muss durch ein interessiertes Publikum und durch kommunikativ handelnde Teilnehmer erst hergestellt werden. Öffentlichkeit besitzt bei Habermas drei Funktionen:

  • Erkennen und Wahrnehmen gesamtgesellschaftlicher Probleme
  • Thematisieren und Herantragen dieser Themen an die Entscheidungsträger im politischen Zentrum
  • Kontrolle des politischen Zentrums.

Die nicht-staatlichen wie nicht-ökonomischen Akteure der Zivilgesellschaft (oder: der „zivilgesellschaftlichen Öffentlichkeit“) als „(...) das Substrat jenes allgemeinen, aus der Privatsphäre gleichsam hervortretenden Publikums von Bürgern, die für ihre gesellschaftlichen Interessen und Erfahrungen öffentliche Interpretationen suchen und auf die institutionalisierte Meinungs- und Willensbildung Einfluß nehmen“ (Habermas 1992: 444) sollen diese Funktionen übernehmen (nicht näher thematisiert werden soll hier die sog. „vermachtete Öffentlichkeit“, in der sich etwa finanzstarke Lobbygruppen wiederfinden würden).

Zentrum/Peripherie: Legitimität demokratischer Entscheidungen

Legitimität politischer Entscheidungen beruht auf deren Anbindung an öffentlich artikulierte, im Diskurs zustande gekommene Meinungen:

Eine starke Zivilgesellschaft ist nach Habermas' Theorie zweigleisiger Politik das Bindeglied zwischen politischer Peripherie und politischem Zentrum. Das politische Zentrum, ein aus der Lebenswelt ausgegliedertes, spezifisches Handlungssystem, trifft verbindliche administrative Entscheidungen. Typische Akteure sind etwa Mitglieder einer Regierung. Gleichwohl sind sie auf Eingaben aus der Peripherie angewiesen und mit dieser auch über den Mechanismus der Wahl verbunden. Die politische Peripherie führt lediglich informelle Meinungsbildung in Öffentlichkeiten und Zivilgesellschaft durch, hat keinerlei Entscheidungskompetenz. Dennoch kommt ihr und insbesondere der zivilgesellschaftlichen Öffentlichkeit als Rückgrat deliberativer Politik eine überaus wichtige Aufgabe zu. Sie fungiert „(...) als wichtigste Schleuse für die diskursive Rationalisierung der Entscheidungen einer an Recht und Gesetz gebundenen Regierung und Verwaltung“. In ihr vollzieht sich also eine demokratische Willensbildung, „(...) welche die Ausübung politischer Macht nicht nur nachträglich kontrolliert, sondern mehr oder weniger auch programmiert“ (Habermas 1992: 364). Nur wenn Entscheidungen des politischen Systems also angemessen an zivilgesellschaftlich artikulierte öffentliche Meinungen angebunden sind, können sie demokratische Legitimität beanspruchen.

Gegenpositionen

Kritisiert wird, dass es in der gesellschaftlichen Realität nicht umsetzbar sei. Zum Beispiel müssten in Deutschland 80 Millionen Menschen an einem Diskurs teilnehmen. Wird aber dieser Diskurs über Medien in die Öffentlichkeit getragen, so ist die Kommunikation systematisch verzerrt. Zum einen, weil die Medien ihre Ware verkaufen müssten und so nicht das veröffentlichen, was normalerweise veröffentlicht werden muss. Zum anderen, weil die Medien eine Nähe zur wirtschaftlichen oder politischen Macht haben. Eine Deliberation ist nach Meinung der Kritiker nur in einer Gemeinde oder auf Kreisebene möglich.

In diesem Zusammenhang liegt auch die Kritik, dass die Bürger durch die Medien manipuliert werden und somit gar nicht objektiv urteilen können. Dem wäre entgegenzusetzen, dass gerade im Diskurs eine Aufklärung stattfindet.

Ein weiterer Kritikpunkt ist der organisatorische Aufwand, der viel Zeit und Geld kostet. Dem wird entgegengehalten, dass sich in einem rationalen Diskurs die Reibungsverluste vermindern, die bei der Befolgung von neuen oder alten Regeln oder Gesetzen entstehen, weil die Bürger sie sich selber gegeben haben.

Es wird auch eingewandt, dass man es nicht jedem recht machen kann. Aber es sollte versucht werden, möglichst jeden von Regelungen zu überzeugen bzw. jedenfalls soweit einen Diskurs führen, damit er die Regelung versteht und akzeptieren kann.

Ein wichtiger Problembereich besteht darin, dass der Leitsatz „Nur die Argumente zählen!“ nur als eine Idealvorstellung zur Meinungsbildung gesehen werden kann: auf Grund von Machtgefällen zwischen den Diskursteilnehmern ist ein neutrales Abwägen der Argumente in der Realität häufig nicht erreichbar.

Dieses Problem, sowie der negative Einfluss der Medien auf den Diskurs, wird in der Theorie als Schweigespirale behandelt.

Literatur

  • Daniel Göler: Deliberation – Ein Zukunftsmodell europäischer Entscheidungsfindung? Analyse der Beratungen des Verfassungskonvents 2002-2003, Baden-Baden 2006.
  • Hubertus Buchstein: Jürgen Habermas. In: Peter Massing/Gotthard Breit (Hrsg.): Demokratie-Theorien. Von der Antike bis zur Gegenwart, Bonn 2003.
  • Jürgen Habermas: Faktizität und Geltung. Beiträge zur Diskurstheorie des Rechts und des demokratischen Rechtsstaates, Frankfurt a.M. 1992.
  • Jürgen Habermas: Strukturwandel der Öffentlichkeit. Untersuchungen zu einer Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft (Habil.), Neuwied 1962 (Neuaufl.: Frankfurt a.M. 1990).
  • Jürgen Habermas: Theorie des kommunikativen Handelns (Bd.1: Handlungsrationalität und gesellschaftliche Rationalisierung, Bd. 2: Zur Kritik der funktionalistischen Vernunft), Frankfurt a.M. 1981.
  • Jürgen Habermas: Drei normative Modelle der Demokratie: Zum Begriff deliberativer Demokratie. In: Herfried Münkler (Hrsg.): Die Chancen der Freiheit. Grundprobleme der Demokratie. München und Zürich 1992. S. 11-24. [Erneut abgedruckt in: Jürgen Habermas: Die Einbeziehung des Anderen. Frankfurt a.M. 1996, S. 277-292.]
  • Ralf Heming: Öffentlichkeit, Diskurs und Gesellschaft – Zum analytischen Potential und zur Kritik des Begriffs der Öffentlichkeit bei Habermas, Wiesbaden, 1997
  • Roland Lhotta: Konsens und Konkurrenz in der konstitutionellen Ökonomie bikameraler Verhandlungsdemokratie: Der Vermittlungsausschuss als effiziente Institution politischer Deliberation. In: Heinrich Oberreuter u.a. (Hrsg.): Der deutsche Bundestag im Wandel. Verl. 2001. S. 93-117
  • Bettina Lösch: Deliberative Politik. Moderne Konzeptionen von Öffentlichkeit, Demokratie und politischer Partizipation. Verlag Westfälisches Dampfboot, Münster 2005 FR, 1. Juni 2005
  • Rainer Schmalz-Bruns: Deliberativer Supranationalismus. Demokratisches Regieren jenseits des Nationalstaats, in: ZIB 1999, S. 185 bis 244. (online)
  • Martin Scheyli: Politische Öffentlichkeit und deliberative Demokratie nach Habermas: Institutionelle Gestaltung durch direktdemokratische Beteiligungsformen?, Baden-Baden 2000. Sehr kompakte und verständliche Darstellung. Gut zur Einführung
  • Juan Carlos Velasco: "Deliberation / deliberative Demokratie", in: Hans Jörg Sandkühler (Hg.): Enzyklopädie Philosophie, 2. Aufl., Felix Meiner, Hamburg, 2010, S. 360-363. (online)

Siehe auch

Weblinks

Fußnoten

  1. vgl. Habermas, Jürgen: Faktizität und Geltung – Beiträge zur Diskurstheorie des Rechts und des demokratischen Rechtsstaats, Frankfurt am Main, 1992, S. 371
  2. Habermas, Jürgen: Faktizität und Geltung, 4. Auflage, Suhrkamp 1994. S. 372

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