- Landsgemeinde
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Die Landsgemeinde ist in der Schweiz eine der ältesten und einfachsten Formen der direkten Demokratie. Die wahl- und stimmberechtigten Bürger eines Kantons versammeln sich an einem bestimmten Tag unter freiem Himmel, um die legislativen Arbeiten zu erledigen. Je nach Kanton unterscheiden sich diese; so wird in den Kantonen Appenzell Innerrhoden und Glarus über die Gesetze und Ausgaben entschieden, während die Landsgemeinde im Kanton Appenzell Innerrhoden zudem die Regierung wählt.
Inhaltsverzeichnis
Allgemeines
An der Landsgemeinde kann jeder zu einer Frage das Wort ergreifen. Beim Abstimmen, oder beim «Mehren» (gesetzliche Bezeichnung der Abstimmung) wird in Glarus der Stimmrechtsausweis in die Höhe gehalten. Im Kanton Appenzell Innerrhoden gilt das offene Handmehr. Um dort in den Ring, den Bereich der Stimmberechtigten, zu gelangen, kann neben dem papierenen Stimmrechtsausweis auch der meist ererbte Degen (Seitengewehr genannt) vorgezeigt werden.[1]
Kantonale Landsgemeinden gibt es heute noch in den Kantonen Appenzell Innerrhoden und Glarus. Regionale Landsgemeinden werden in einigen Bezirken des Kantons Schwyz und kleineren Kreisen des Kantons Graubünden organisiert. Letztlich sind auch die in den kleineren und mittleren Schweizer Gemeinden üblichen Gemeindeversammlungen örtliche «Landsgemeinden».
Die Landsgemeinde ähnelt anderen frühdemokratischen Beschlussforen, wie dem Thing oder der athenischen Volksversammlung. Die schweizerischen Landsgemeinden haben ihren Ursprung allerdings in den mittelalterlichen Korporationen.
Geschichte
Ursprünglich gab es in acht Schweizer Kantonen eine Landsgemeinde auf kantonaler Ebene – so in Zug, Schwyz, Uri, Obwalden, Nidwalden und Appenzell Ausserrhoden (1403 erstmals urkundlich erwähnt).
Die Landsgemeinde wurde abgeschafft
- 1848 in Zug und Schwyz
- 1928 in Uri (durch Landsgemeinde-Abstimmung)
- 1996 in Nidwalden (durch Urnenabstimmung)
- 1997 in Appenzell Ausserrhoden (durch Urnenabstimmung)
- 1998 in Obwalden (durch Urnenabstimmung)
Heute gibt es die Landsgemeinde auf kantonaler Ebene nur noch in Appenzell Innerrhoden und Glarus, wo sie die höchste politische Instanz des Kantons ist. Im Kanton Graubünden finden noch regionale Landsgemeinden («Bsatzig») statt.
Regionale Unterschiede
Appenzell Innerrhoden und Glarus
Im Kanton Appenzell Innerrhoden findet die Landsgemeinde in Appenzell am letzten Sonntag im April statt, ausser wenn dieser sich mit dem Ostersonntag überschneidet. Dann wird die Versammlung auf den ersten Sonntag im Mai verschoben. Die Glarner Landsgemeinde findet dagegen am ersten Maisonntag statt (bei sehr schlechtem Wetter Verschiebung um eine Woche).
An der Glarner Landsgemeinde dürfen die Stimmberechtigten «raten, mindern, mehren und wählen». Das heisst, sie können über jedes einzelne Sachgeschäft das Wort verlangen, eine Änderung beantragen, eine Vorlage verschieben oder zurückweisen. Durch das Abänderungsrecht wurde 1971 das Frauenstimm- und -wahlrecht auf allen Ebenen eingeführt. Die ursprüngliche Abstimmungsvorlage beinhaltete lediglich Rechte auf tieferen Gemeindeebenen (zum Beispiel Schulgemeinde). Im Mai 2006 wurde ebenfalls durch das Abänderungsrecht eine Fusion der bislang 25 Gemeinden des Kantons zu nur noch drei beschlossen. Die ursprüngliche Vorlage sah zehn Gemeinden vor.
In Appenzell Innerrhoden wie auch in Glarus gibt es das besondere Recht der Einzelinitiative. Der im Kanton Glarus genannte Memorialsantrag kann von jedem Stimmbürger schriftlich eingereicht werden. Die Landsgemeinde stimmt anschliessend darüber ab. Durch solche Einzelinitiativen wurden in Appenzell beispielsweise Gewaltentrennung und Finanzreferendum eingeführt.
Appenzell Ausserrhoden
Die Landsgemeinde in Appenzell Ausserrhoden wurde an einer zuvor an der Landsgemeinde beschlossenen Urnenabstimmung am 28. September 1997 abgeschafft (mit 54,0 Prozent Ja-Stimmen-Anteil bei einer Stimmbeteilung von 61 Prozent). An der Landsgemeinde 1993 hatte diese sich noch klar für ihre Beibehaltung ausgesprochen.
Der Abschaffung war ein jahrzehntelanger Streit über die Einführung des kantonalen Frauenstimmrechts vorausgegangen. Das männliche Schweizer Stimmvolk hatte der Einführung des Frauenstimmrechts auf eidgenössischer Ebene bereits 1971 zugestimmt, der Kanton Appenzell Ausserrhoden lehnte dies jedoch wie die gesamte Ostschweiz mehrheitlich ab (Neinstimmenanteil: 60,1 Prozent; auf Bundesebene nur 34,3 Prozent).[2] Die sehr knappe Annahme der entsprechenden Verfassungsänderung an der Landsgemeinde 1989 war umstritten. Wenn nämlich eine klare Entscheidung durch «Mehren» (optische Ermittlung der Mehrheit vom Podium der Regierung aus) nicht möglich war, sah das Reglement eigentlich ein Auszählen der Stimmen vor. Nach wiederholtem Mehren und langem Zögern erklärte der Regierungsrat die Vorlage diesmal jedoch ohne Auszählung der Stimmen für angenommen. Der Regierungsrat begründete sein Verhalten mit der – seiner Meinung nach – klaren Stimmenmehrheit, während Kritiker dies als bewusste Missachtung des Volkswillens und «Erzwingen» eines Entscheids im Sinne des Regierungsrates erklären. Dieser Vorfall zeigte anschaulich die Anfälligkeit der Entscheidungsfindung an der Landsgemeinde. Daraufhin zogen sich viele Verfechter der ursprünglichen Form im Zorn zurück und nahmen nicht mehr an der Landsgemeinde teil.
Eine Ausserrhoder Volksinitiative zur «Wiedereinführung der Landsgemeinde im Kanton Appenzell Ausserrhoden»[3] wurde am 13. Juni 2010 in einer Urnenabstimmung mit 70,3 Prozent Nein-Stimmen abgelehnt.[4]
Kritik an der Landsgemeinde
Nur schon die Tatsache, dass die Landsgemeinde in den meisten Kantonen – allerdings aus verschiedenen Gründen und mit viel Wehmut – abgeschafft wurde, zeigt, dass es sich nicht um eine unumstrittene Institution handelt.
- Kritiker monieren, dass das demokratische Grundrecht auf geheime Stimmabgabe durch diese Form der Demokratie nicht gewährleistet sei. Die Schweiz musste denn auch einen Vorbehalt zu Art. 25 des Internationalen Paktes über bürgerliche und politische Rechte anbringen.
- Dazu kommen logistische Probleme, da in grösseren Gemeinwesen wie Appenzell Ausserrhoden nicht leicht Platz für eine Versammlung von Zehntausenden von Bürgern zur Verfügung gestellt werden kann und der Zubringerdienst ebenfalls nicht einfach ist.
- Im Kanton Glarus besteht das Problem, dass es keine genaue Auszählung der Stimmen gibt. Stattdessen entscheidet der Landammann (bei knapper Entscheidung mit Hilfe der vier übrigen Mitglieder der Regierung) per Auge, wie die Mehrheit ist. Um Ungerechtigkeiten zu vermeiden, gilt das ungeschriebene Gesetz, dass der Landammann im Zweifelsfalle gegen sich selbst entscheidet.
- Ein weiteres Problem sind Personen, die unberechtigterweise an der Landsgemeinde abstimmen, in Glarus werden mittlerweile jedoch Eingangskontrollen vorgenommen. Die gegenseitige soziale Kontrolle (jeder kennt jeden) schränkt den Betrug ein. Das gleiche gilt, wenn jemand beide Hände hochhält, um abzustimmen. Um diesem Unsicherheitsfaktor aber entgegenzuwirken, wird seit der Landsgemeinde 2005 mittels farblich eindeutigen Stimmrechtsausweisen abgestimmt. Die Farbe des Ausweises ändert sich dabei jedes Jahr. Die Einführung einer elektronisch gestützten Stimmabgabe ist, obwohl technisch machbar, vorderhand aus Kostengründen zurückgestellt.
Im Kanton Glarus ist die Landsgemeinde trotz diesen Kritiken grösstenteils unumstritten. Das oberste Gericht der Schweiz (Bundesgericht) hat diese Art der Entscheidungsfindung geschützt (BGE 104 IA 428 und BGE 121 I 138).
Zudem hat die Schweiz bei der Ratifizierung der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) eine Ausnahmeklausel für die Landsgemeinden eingefügt, da diese eigentlich verschiedenen Punkten, unter anderem der geheimen Stimmabgabe, widersprechen.
Die Kritik an der genossenschaftlichen Demokratieform der Landsgemeinde spiegelt das in der Moderne gewandelte Demokratieverständnis:
- Während der Bürger im neuzeitlich-liberalen Rechtsstaat ein Individualrecht (Stimmrecht) ausübt und bei dieser Rechtsausübung vor dem Staat geschützt werden muss (Stimmgeheimnis), übt der Bürger in der Landsgemeinde eine Staatsfunktion aus und ist dabei selber Teil des Staates. Ähnlich einem Parlamentarier übt er seine Funktion dabei offen aus.
- In einem genossenschaftlichen Verständnis von Demokratie ist die Entscheidfindung ein kollektiver, öffentlicher Akt (res publica). Er kann nicht individuell und im Geheimen an der Urne oder mittels Briefsendung stattfinden. Demokratie wird gemeinsam zelebriert, was in traditionellen Ritualen mit einem anschliessenden Volksfest seinen Ausdruck findet.
- Die offene Diskussion (insbesondere an der Glarner Landsgemeinde) führt zudem zu einem offenen Diskurs, an dem sich alle teilnehmenden Stimmbürger beteiligen können. Demgegenüber wird der Diskurs in einer modernen Brief- oder Urnendemokratie über politische Parteien und Medien mediatisiert. Deutlich hat sich dies etwa an der Glarner Landsgemeinde vom Mai 2006 gezeigt, an der die beschlossene Gemeindefusion (auf nur noch 3 Gemeinden) von einem einzelnen Bürger (aber keiner Partei) beantragt wurde.
Kunst
Das Gemälde Die Landsgemeinde, welches im Bundeshaus in Bern die Südwand des Ständeratssaales ziert, zeigt eine Landsgemeinde im 18. Jahrhundert. Die Maler Albert Welti und Wilhelm Balmer stellten dabei den Landsgemeindeplatz in Stans dar, jedoch mit der Landschaft um Sarnen.
Weblinks
Commons: Landsgemeinde – Sammlung von Bildern, Videos und Audiodateien- Landsgemeinde im Historischen Lexikon der Schweiz
- Landsgemeinde-Dossier der Appenzeller Zeitung (Appenzell Ausserrhoden)
- Glarner Landsgemeinde
- Tonarchiv der Glarner Landsgemeinde
- Landsgemeinde in Appenzell Innerrhoden
Einzelnachweise
Kategorien:- Subnationale Legislative (Schweiz)
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- Staatsorgan (Schweiz)
- Direkte Demokratie in der Schweiz
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