Die Hundeblume

Die Hundeblume

Die Hundeblume ist eine Erzählung des deutschen Schriftstellers Wolfgang Borchert. Sie ist datiert auf den 24. Januar 1946, wurde erstmals am 30. April und 4. Mai 1946 in der Hamburger Freien Presse veröffentlicht und leitete Borcherts erste Prosasammlung Die Hundeblume. Erzählungen aus unseren Tagen als Titelgeschichte ein.

Die Erzählung handelt von einem jungen Gefangenen, in dessen tristen Alltag eine Hundeblume auf dem Gefängnishof zum Objekt der Sehnsucht wird. Borchert verarbeitete hierin autobiografische Erinnerungen an seine eigene Inhaftierung in einem Militärgefängnis zur Zeit des Nationalsozialismus. Entstanden während eines Krankenhausaufenthalts des bereits schwer kranken Borchert ist Die Hundeblume seine erste umfangreichere Prosaarbeit. Sie markiert in Borcherts Werk einen einschneidenden Wendepunkt von den frühen Gedichten zu den Kurzgeschichten aus seinen letzten beiden Lebensjahren, die neben dem Drama Draußen vor der Tür den Grundstein für seine Popularität legten.

Gewöhnlicher Löwenzahn, umgangssprachlich auch als Hundeblume bekannt

Inhaltsverzeichnis

Inhalt

Ein 22-jähriger Gefangener, der nur durch die Nummer 432 auf seiner Zellentür bezeichnet wird, berichtet von seinem Gefängnisalltag. Mehr und mehr entfernt er sich in seiner Einzelzelle von der Außenwelt und ist auf die Beschäftigung mit sich selbst zurückgeworfen. Die einzige Unterbrechung der Einsamkeit bietet der tägliche Hofgang. Dort entlädt sich die Wut des Gefangenen über den vorgegebenen Trott an seinem Vordermann, von dem er nicht mehr als seinen Rücken sieht, den er darum bloß „Perücke“ nennt und subtil zu schikanieren beginnt.

Eines Tages entdeckt Nummer 432 auf dem Gefängnishof eine einsam blühende Hundeblume. Dieser ungewohnte Einbruch von Leben und Natur in den tristen grauen Gefängnisalltag bestimmt von nun an das Denken des Gefangenen. Während er zuerst bemüht ist, seine Entdeckung vor den anderen zu verbergen, genügt ihm der Anblick der Blume schon bald nicht mehr und er sehnt sich nach ihrem Besitz. Beharrlich lenkt er den Kreislauf der Gefangenen Runde um Runde näher an die Blume heran. Just als sie für ihn endlich in Reichweite ist, bricht sein Vordermann in einer komischen Pirouette zusammen und stirbt, was Nummer 432 als letzten Triumph der „Perücke“ über seine Pläne begreift. Erst als er dem Sterbenden ins Angesicht sieht, löst sich sein Hass auf diesen.

In der Folge hat der Gefangene einen neuen Vordermann, der in den nächsten Wochen seine Aufmerksamkeit von der Blume abzieht. Dieser verbeugt sich so devot vor jedem Wachmann, dass Nummer 432 mit aller Willenskraft dagegen ankämpfen muss, nicht selbst von solcher Unterwürfigkeit angesteckt zu werden. Erst als ihm der Wechsel des Vordermanns gelingt, kann Nummer 432 seinen Plan in die Tat umsetzen. Er bückt sich, um seine Schuhe zu binden, und pflückt unbemerkt die Hundeblume. Deren Anblick erfüllt ihn anschließend in seiner Zelle mit Güte und Zärtlichkeit: Er möchte alle Zivilisation hinter sich lassen und werden wie die Blume. In der Nacht träumt er davon, dass Erde über ihn gehäuft wird, dass er selbst zu Erde wird und aus ihm Blumen sprießen.

Autobiografischer Hintergrund

Während des Zweiten Weltkriegs wurde Borchert in der Heeresgruppe Mitte zum deutschen Angriff auf die Sowjetunion kommandiert. Am 23. Februar 1942 kam es in der Nähe von Smolensk bei einem Postengang zu einer Schussverletzung seiner linken Hand, in deren Folge sein Mittelfinger amputiert werden musste. Wegen Verdacht auf Selbstverstümmelung wurde Borchert nach seiner Rückkehr im Heimlazarett verhaftet und ins Nürnberger Militärgefängnis überführt. Am 31. Juli fand der Prozess statt, bei dem die Anklage die Todesstrafe forderte, das Gericht jedoch auf Freispruch entschied. Aufgrund des gesammelten Belastungsmaterials an kritischen Äußerungen Borcherts über das Dritte Reich folgte ein zweites Verfahren wegen Verstoßes gegen das Heimtückegesetz, das mit einer Verurteilung zu sechs Wochen verschärften Arrests mit anschließender so genannter „Frontbewährung“ endete. Am 8. Oktober 1942 kam Borchert wieder frei, doch 1944 wurde er nach einer Goebbels-Parodie, die ein Beobachter denunziert hatte, wegen Wehrkraftzersetzung abermals zu neun Monaten Gefängnis verurteilt.[1]

Borchert stellte mehrfach den Einfluss seiner Zeit im Nürnberger Militärgefängnis auf die Erzählung Die Hundeblume heraus.[2] So schrieb er im Mai 1946 an eine Freundin: „wenn ich nicht ins Gefängnis gekommen wär, hätte ich keine Hundeblume geschrieben.“[3] An anderer Stelle betonte er, dass jenes Werk „mehr ein privatestes als ein dichterisches ist“.[4] Kurz vor seinem Tode erklärte Borchert, „daß es diesen Hundeblumen-Mann gibt, daß er 21 Jahre alt war und 100 Tage in einer Einzelzelle saß mit dem Antrag des Anklagevertreters auf Tod durch Erschießen! 100 Tage. 21 Jahre. Er hat wirklich eine Hundeblume geklaut und durfte zur Strafe eine Woche nicht mit im Kreise gehen! […] Und dann liefen ihm diese 100 Tage vier Jahre lang durch alle Nächte hindurch nach, bis es ihm plötzlich gelang, sie förmlich auszukotzen! So, da waren sie! Man war sie los. Und so schrieb Wolfgang Borchert seine erste Geschichte.“[5]

Entstehungsgeschichte

Nach der Rückkehr aus dem Zweiten Weltkrieg war Borchert in den ersten Monaten in der Hamburger Theaterszene aktiv. Er schrieb Texte fürs Kabarett, trat selbst als Schauspieler auf, gründete mit Freunden ein Hinterhoftheater und arbeitete als Regieassistent am Hamburger Schauspielhaus. Doch seine in Folge des Krieges und mehrfacher Inhaftierungen angegriffene Gesundheit verschlechterte sich gegen Ende des Jahres 1945 zusehends. Leberkrank, von Fieberanfällen geschwächt und bettlägerig wurde Borchert Anfang Dezember ins Hamburger Elisabeth-Krankenhaus eingeliefert. In einem Brief vom 6. Januar stellte Borchert fest, dass eine rasche Genesung nicht zu erwarten sei und bekannte: „Im Augenblick bin ich allerdings ganz ohne Mut zu mir selbst.“[6]

Literarisch war Borchert seit seiner Jugend vor allem der Lyrik zugeneigt. Er hatte bereits einige Gedichte in Zeitschriften veröffentlicht und schrieb auch im Krankenhaus ein selbstironisches Gedicht mit dem Titel Tolle Abenteuer eines leberkranken Knaben, die ihn fast zerrüttet haben, das zwischen dem 21. und 27. Januar entstand. Ganz im Gegensatz zu dieser Ballade in frivolem Ton stand der Prosatext der Hundeblume, den Borchert am 24. Januar niederschrieb und dessen Inhalt er seiner Mutter als „Angst, Einsamkeit und Verlassenheit eines Todeskandidaten“ beschrieb. Neben den Erinnerungen an die eigene Gefängniszeit ließ Borchert sich auch vom Krankenhausaufenthalt inspirieren. So diente ein Mitpatient, von dem Borchert den ganzen Tag nichts als den Haarkranz sah, als Vorlage der „Perücke“.[2] Ein Vorläufer der Hundeblume findet sich bereits 1941 in Borcherts früher Prosaskizze Die Blume.[7] Auch diese mündet in der Anbetung einer Blume als Symbol für das Leben, allerdings fehlt noch die Thematik der Gefangenschaft. Peter Rühmkorf nannte Die Blume „ein sentimentales Reflexionsstück“, das ohne konkreten Stoff die „allgemeinsten Lamentationen und Rührseligkeiten“ biete.[5]

Über den Wechsel von Lyrik zu Prosa bekannte Borchert in einem Brief aus dem Krankenhaus: „Ich muß mich erst an Prosa gewöhnen – Prosa geht mir zu langsam, ich bin zu sehr an Tempo gewöhnt.“ In einem anderen Brief betonte er, dass seine Art zu schreiben „keine Arbeit ist – sondern höchstens ein kurzer Rausch“. Die Texte würden nicht erkämpft, sondern niedergeschrieben, sobald eine Idee vorhanden sei, und hinterher kaum mehr verändert.[8] Auch das ursprüngliche Manuskript von Die Hundeblume weist nur geringe Bearbeitungen. In der 2007 neu von Michael Töteberg herausgegebenen Gesamtausgabe von Borcherts Werk sind stilistische und grammatikalische Korrekturen durch den Verlag wieder revidiert, drei gestrichene Passagen werden im editorialen Anhang aufgeführt. So war dem Manuskript ursprünglich ein später entfernter Schluss angehängt: „Als sie ihn am nächsten Morgen um 4 Uhr abholten und er wußte, daß er nicht zurückkehren würde, sah er den letzten blassen Sternen ohne Angst ins Gesicht. / Er war bereit zu jedem Abenteuer, das die Seele erwartete, Ja zu sagen.“[9]

Wolfgang Borchert schickte die Erzählung am 18. Februar 1946 an Hugo Sieker, Leiter des Feuilletons der Hamburger Freien Presse und langjähriger Freund der Familie Borchert, mit den Worten: „ich muß da etwas mit machen – ganz einfach weil ich Geld verdienen muß, um meinen Krankenhausaufenthalt bezahlen zu können.“[10] Sieker veröffentlichte die Erzählung in einer gekürzten Fassung und auf zwei Ausgaben verteilt in der Hamburger Freien Presse vom 30. April und 4. Mai 1946. Borchert selbst äußerte sich über die Bearbeitung kritisch: „Zwei ergötzliche Linolschnitte machten die Kürzung auf die Hälfte auch nicht wieder gut.“[11] Allerdings wurde durch die Veröffentlichung der Verleger Heinrich Maria Ledig-Rowohlt auf Borchert aufmerksam und stellte diesem einen Sammelband in Aussicht, falls er noch mehr „Hundeblumen“ anzubieten habe. Erich Kästner publizierte die Erzählung in seiner Jugendzeitschrift Pinguin.[12]

Erst nach dem Erfolg des Hörspiels Draußen vor der Tür im Februar 1947 kam es tatsächlich zu einer Buchausgabe der Hundeblume. Im Juni 1947 erschien Borcherts erste Prosasammlung Die Hundeblume. Erzählungen aus unseren Tagen im Verlag Hamburgische Bücherei von Bernhard Meyer-Marwitz, der zuvor schon eine Gedichtsammlung Borcherts verlegt hatte. Die Erstausgabe betrug 5000 Exemplare. 1949 folgte eine „friedensmäßig ausgestattete“ Neuauflage von weiteren 2000 Exemplaren auf besserem Papier. Im selben Jahr publizierte der Rowohlt Verlag die Erzählung im Rahmen von Borcherts Gesamtwerk.[13]

Rezeption

Peter Rühmkorf wertete in seiner Biografie über Wolfgang Borchert die Erzählung Die Hundeblume als plötzlichen Ausbruch eines literarischen Genius, nachdem alle bisherigen Arbeiten Borcherts kaum vielversprechend gewesen seien und keines seiner Gedichte einen wirklichen Rang besäße. Die Hundeblume war für ihn „eine von Grund auf eigentümliche, auf Anhieb moderne, ohne jeden Umschweif und ohne Nachkorrektur meisterliche Erzählung“, der keine schrittweise Entfaltung eines schriftstellerischen Talents vorhergegangen sei, „sondern die wider alle Vernunft und Erklärungsversuche unvermittelte Geburt des Vermögens“, als deren Folge Borchert „auf einen Schlag alle Mittel zur Hand hat, alle Methoden beherrscht, über Stil nicht nachdenkt und den Satzbau nicht reflektiert“.[14]

Die Hundeblume wurde von Michael Blume verfilmt[15] sowie von verschiedenen Theatern für die Bühne adaptiert.[16][17][18]

Literatur

Textausgaben

  • Wolfgang Borchert: Die Hundeblume. Erzählungen aus unseren Tagen. Hamburgische Bücherei, Hamburg 1947, S. 11–33.
  • Wolfgang Borchert: Die Hundeblume. Nachts schlafen die Ratten doch. Faksimiledruck des Manuskripts. Rowohlt, Reinbek 1986.
  • Wolfgang Borchert: Das Gesamtwerk. Rowohlt, Reinbek 2007, ISBN 978-3-498-00652-5, S. 27–43.

Sekundärliteratur

  • Károly Csúri: Semantische Feinstrukturen: Literaturästhetische Aspekte der Kompositionsform bei Wolfgang Borchert. In: Gordon Burgess, Hans-Gerd Winter (Hrsg.): „Pack das Leben bei den Haaren“. Wolfgang Borchert in neuer Sicht. Dölling und Gallitz, Hamburg 1996, ISBN 3-930802-33-3, S. 157–159.
  • Harro Gehse: Wolfgang Borchert: Draußen vor der Tür. Die Hundeblume und andere Erzählungen. Beyer, Hollfeld 2007, ISBN 978-3-88805-134-0, S. 55–65.
  • János Kohn: Ausdrucksformen der inneren Wirklichkeit bei Wolfgang Borchert: Die Multivalenz von und in der Erzählung „Die Hundeblume“. In: Gordon Burgess, Hans-Gerd Winter (Hrsg.): „Pack das Leben bei den Haaren“. Wolfgang Borchert in neuer Sicht, S. 140–153.
  • Peter Rühmkorf: Wolfgang Borchert. Rowohlt, Reinbek 1961, ISBN 3-499-50058-2, S. 67–75.
  • Hans-Gerd Winter: „Mir liegt kaum daran …, gedruckt zu werden – ich fühle, daß mein Tag kommt.“ Wolfgang Borcherts Eintritt in das literarische Feld 1940–1946. In: Gordon Burgess, Hans-Gerd Winter (Hrsg.): „Pack das Leben bei den Haaren“. Wolfgang Borchert in neuer Sicht, S. 102–107.

Einzelnachweise

  1. Gordon Burgess: Wolfgang Borchert. Ich glaube an mein Glück. Aufbau, Berlin 2007, ISBN 978-3-7466-2385-6, S. 112–119, 148.
  2. a b Gordon Burgess: Wolfgang Borchert. Ich glaube an mein Glück, S. 180–181.
  3. Wolfgang Borchert: Allein mit meinem Schatten und dem Mond. Briefe, Gedichte und Dokumente. Rowohlt, Reinbek 1996, ISBN 3-499-13983-9, S. 174.
  4. Wolfgang Borchert: Allein mit meinem Schatten und dem Mond. Briefe, Gedichte und Dokumente, S. 171.
  5. a b Peter Rühmkorf: Wolfgang Borchert, S. 67.
  6. Wolfgang Borchert: Allein mit meinem Schatten und dem Mond. Briefe, Gedichte und Dokumente, S. 161.
  7. Wolfgang Borchert: Die Blume. In: Das Gesamtwerk (2007), S. 511–512.
  8. Wolfgang Borchert: Allein mit meinem Schatten und dem Mond. Briefe, Gedichte und Dokumente, S. 167–169.
  9. Wolfgang Borchert: Das Gesamtwerk (2007), S. 532–533.
  10. Wolfgang Borchert: Allein mit meinem Schatten und dem Mond. Briefe, Gedichte und Dokumente, S. 165.
  11. Wolfgang Borchert: Allein mit meinem Schatten und dem Mond. Briefe, Gedichte und Dokumente, S. 181.
  12. Gordon Burgess: Wolfgang Borchert. Ich glaube an mein Glück, S. 182–183.
  13. Gordon Burgess: Wolfgang Borchert. Ich glaube an mein Glück, S. 214.
  14. Peter Rühmkorf: Wolfgang Borchert, S. 117–118.
  15. Die Hundeblume auf der Seite von Michael Blume.
  16. Die Hundeblume beim theater pudels-kern.
  17. Die Hundeblume bei Eigenreich.
  18. Die Hundeblume bei der Volksbühne Spinnrad.

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