Festungsartillerie (Schweiz)

Festungsartillerie (Schweiz)
Getarnte 10.5 cm-Turmkanone einer Schweizer Festung

Die Festungsartillerie war vom 19. Jahrhundert bis 2011 ein Kampfmittel der Schweizer Armee.

Inhaltsverzeichnis

Geschichte

Erste Befestigungen

Bereits 1814 erstellte der Zürcher Offizier Johann Conrad Finsler Konzepte für eine befestigte "Zentralstellung" in den Alpen. Die Eröffnung des Gotthardtunnels 1882 veranlasste die Schweizer Armee noch vor dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs zum Bau von in den Fels geschlagenen Artilleriewerken nördlich und südlich des nun wichtigsten europäischen Alpenübergangs.[1]

Nach dem Ersten Weltkrieg führten Geldmangel und die Überzeugung, dass Befestigungen militärisch nicht mehr wertvoll seien, zum vorläufigen Ende des Festungsbaus. Als aber in anderen europäischen Ländern Riesenfestungen wie die Maginotlinie entstanden, wurden auch in der Schweiz vor allem die Grenzräume weiter befestigt. Die Zentralfestungen Gotthard und St-Maurice wurden verstärkt und, mit Blick auf den Anschluss Österreichs an Deutschland, auch der Raum Sargans zur Festung ausgebaut.[1]

Das Réduit

Hauptartikel: Schweizer Reduit

Unter dem Eindruck der Blitzkriege Deutschlands gegen Frankreich und Polen legte General Henri Guisan die dreistufige Strategie des Réduit fest: Ein blosser Verzögerungskampf im Grenzraum sollte durch eine erste Befestigungslinie im Mittelland und der schwer befestigten Zentralraumstellung, dem eigentlichen Réduit, ergänzt werden. Dazu wurden, meist durch die Truppe selbst, ab 1940 im ganzen Alpenraum unter hohem Zeitdruck gewaltige Festungswerke erstellt. Von 1942 bis 1995 bewachte und betrieb eine Berufsformation der Armee, das Festungswachtkorps, die vielen Anlagen.[1]

Im Kalten Krieg

Im Kalten Krieg mass die Armeeführung der Festungsartillerie weiterhin grosse Bedeutung zu, um Engnisse gegen einen mechanisierten Angriff zu sperren und die Alpentransversalen zu schützen. Die bestehenden Werke wurden der Bedrohung durch Atom- und chemische Waffen angepasst, und auf den Passhöhen wurden vorgefertigte kleine Minenwerferstellungen vergraben.[1]

Eine letzte wichtige Modernisierung der Festungsartillerie erfolgte in den 1980er und 1990er Jahren. Ab 1980 wurden die Sperrstellungen bei den passages obligées – den Engnissen, durch die ein Gegner in die Schweiz stossen würde – mit unterirdischen 12-cm-Festungsminenwerfern verstärkt. Und anfangs der 1990er Jahre wurden in den Festungsregionen Gotthard, St. Maurice und Sargans sehr leistungsfähige 15,5-cm-Festungskanonen „BISON“ installiert.[1]

Das Ende der Festungsartillerie

Nach dem Ende des Kalten Krieges wurden mit der Armeereform 1995 alle Festungsartilleriemittel mit Ausnahme der neuen Festungsminenwerfer und „BISON“-Stellungen ausser Dienst gestellt. Auch das ursprünglich auf einen umfassenden Schutz der Alpentransversalen ausgelegte System „BISON“ wurde nicht zu Ende gebaut.[1]

Verschiedene Tendenzen führten dazu, dass das Kosten-Nutzen-Verhältnis der Festungsartillerie zusehends schlechter wurde:[1]

  • Die geänderte Bedrohungslage liess einen mechanisierten Angriff auf die Schweiz, zu dessen Bekämpfung die Festungsartillerie ausgelegt war, immer unwahrscheinlicher werden.
  • Durch neue Angriffswaffen, insbesondere Präzisions-Lenkwaffen, wurden die Festungen stets verwundbarer.
  • Die Geheimhaltung der Artilleriestellungen war kaum mehr möglich, zumal im Internet bald genaue Beschriebe und Fotografien der Stellungen auftauchten.
  • Viele Wirkungsräume der Festungsminenwerfer wurden irrelevant, da sie überbaut wurden oder die zugehörigen Sperrstellen bzw. Sprengobjekte aufgehoben wurden.

Im Mai 2011 zog das Departement für Verteidigung, Bevölkerungsschutz und Sport (VBS) die Konsequenz daraus und gab die vollständige Ausserdienstsetzung der verbleibenden Festungsartillerie bekannt. Als Grund gab es die veränderte Bedrohungslage, den reduzierten Kampfwert dieser Systeme in Anbetracht moderner Präzisions- und Abstandswaffen und die nicht mehr ausreichende Munition an.[2] Die Festungsartillerieabteilung 13 leistete im Juni 2011 ihren letzten Wiederholungskurs und feuerte am 22. Juni 2011 das letzte Übungsgeschoss aus einer „BISON“-Kanone ab.[1]

Kampfmittel

Die Festungsartillerie setzte folgende Waffensysteme ein:

  • 15,5-cm-Festungsgeschütz „BISON“ (1990er Jahre – 2011):[3] Die BISON-Geschütze verschossen gleiche Munition wie die Panzerhaubitze M109 und verfügten über eine praktische Einsatzdistanz von mehr als 30 km. Durch ihre hohe Schussfolge ersetzten sie je die Feuerkraft von drei mobilen Geschützen.
  • 12-cm-Zwillings-Festungsminenwerfer (ab 1980–2011): Diese Geschütze verfügten über eine praktische Einsatzdistanz von ca. 9 km bei einer Schusskadenz von 20 Schuss pro Minute. Sie verschossen auch die selbstzielsuchende Munition „Strix“.
  • 15-cm-Kanone (Kasematte und Turmkanone)
  • 10,5-cm-Turmkanone (Panzerturm)
  • 10,5-cm-Festungsgeschütze: Kanone auf Hebel- und Ständerlafette, Haubitze auf Hebellafette
  • 10,5-cm-Panzerabwehrkanone
  • 7,5-cm-Kasemattengeschütz

Artilleriefestungen

Einzelnachweise

  1. a b c d e f g h Heinz Nüssle: Die Schweizer Festung: Eine Ära geht zu Ende. In: Schweizer Soldat 9/2011, S. 24-27. 
  2. Weitere Ausserdienststellung von veralteter Festungsartillerie, Medienmitteilung des VBS vom 25. Mai 2011
  3. Bilder des Geschützes

Weblinks


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