Kamera-Werke Niedersedlitz

Kamera-Werke Niedersedlitz
Ehemalige Kamerawerke Niedersedlitz in der Bismarckstraße 56 in Dresden; Altbau von 1939 links, "Hochhaus" ganz rechts

Der VEB Kamerawerke Niedersedlitz und dessen private Vorgängerunternehmen (Kamera-Werkstätten Guthe & Thorsch GmbH und Kamera-Werkstätten Charles A. Noble) gehörten zu den technisch innovativsten Unternehmen der sächsischen Kameraindustrie der 1930er bis 1950er Jahre. Hier wurde die weltbekannte Praktica konstruiert. Nach dreißigjähriger Zugehörigkeit zu den Kombinaten der optischen Industrie der DDR existiert seit 1992 wieder ein privates Nachfolgeunternehmen (Kamera Werk Dresden).

Inhaltsverzeichnis

Geschichte

Nachdem Paul Guthe bereits seit 1915 im Bereich der Kamerafabrikation tätig war, gründete er zusammen mit Benno Thorsch 1919 die Kamera-Werkstätten Guthe & Thorsch GmbH („KW“) in Dresden-Niedersedlitz. Thorsch zahlte in den 1930er Jahren Paul Guthe aus. Als Schweizer Staatsbürger mit einem jüdischen Elternteil verließ Benno Thorsch 1938 Deutschland in Richtung USA. [1] Das Unternehmen tauschte er gegen ein prosperierendes Fotogeschäft in Detroit.[2]

Der Dresdner Betrieb wurde so von der deutschstämmigen, US-amerikanischen Familie Noble erworben und von Charles A. Noble und dessen Sohn John H. Noble geleitet. Das Unternehmen firmierte nun als Kamera-Werkstätten Charles A. Noble. Charles A. Noble traf die strategische Entscheidung, sich geschäftlich auf einäugige Spiegelreflexkameras zu konzentrieren, und bezog 1939 größere Betriebsräume in der Bismarckstr. 56.[3][4] Auch während des Zweiten Weltkriegs konnten weiter Kameras produziert werden. Der Betrieb blieb unzerstört.[5]

Am 5. Juni 1945 wurden Charles A. und John H. Noble von der sowjetischen Besatzungsmacht enteignet, in NKWD-Lager verschleppt und der Betrieb verstaatlicht.[6][7] Charles konnte 1952 in die USA zurückkehren. Dessen Sohn John wurde jedoch 1950 zu 15 Jahren Zwangsarbeit im sibirischen Gulag verurteilt. Er kam erst 1955 frei.

Um die aussichtslos erscheinende Produktion der 50.000 von der SMA geforderten Kameras der Modelle der Praktiflex und Pilot Super zu beschleunigen, wurde der Zeiss Ikon-Konstrukteur Siegfried Böhm in das Unternehmen geschickt. Böhm begann am 12. Januar 1946 und führte mit der Version 13 der Praktiflex der 2. Generation die ersten konstruktiven Änderungen ein. Mit der Praktiflex II wurde der Objektivanschluss von M40 auf M42 umgestellt. Ab dem 1. Januar 1948 war Böhm zum Betriebsleiter ernannt worden. Selbst die noch immer bescheidenen Produktionsziffern konnten 1948 nur durch ungeseztliche "Tauschgeschäfte" erreicht werden. Eine offizielle Untersuchung gegen Böhm würde Anfang 1950 eingestellt. Erst mit der ab 1948 entwickelten Praktiflex III - der ersten "Praktica" - konnten durch die Einführung industrieller Konstruktions- und Produktionsmethoden durch Böhm ab 1950 nennenswerte Produktionssteigerungen erreicht werden.[8]

Ab 1949 entstanden die ersten Erweiterungsbauten in Niedersedlitz, u.a. ein Zischenbau (1949-1951), der die Betriebsfläche in etwa verdoppelte. In den Jahren 1953-1957 entstand, teilweise auf einem Nachbargrundstück, eine weitere erhebliche Vergrößerung (sechsgeschossiges "Hochhaus").[9]

In einem ersten Konzentrationsschritt wurde am 1. Januar 1957 der VEB Belca-Werk.[10] Zusammen mit einer Reihe anderer Dresdner Kamerabetriebe wurden die Niedersedlitzer Mechanik Kamera Werkstätten VEB 1959 in den neu gegründeten VEB Kamera- und Kinowerke Dresden eingegliedert. Ab 1964 gehörten die Kamerawerke damit zum VEB Pentacon, Dresden, wie sich die VEB Kamera- und Kinowerke Dresden dann nannten.

Im Jahr 1990 kehrte John H. Noble mit seinem Brüder Georg Noble nach Dresden zurück, wo er sich bei der Treuhandanstalt um Restitution seiner früheren Kamerafabrik und der Namensrechte bemühte. Noble erhielt das gesamte, mittlerweile stark vergrößerte Betriebsgelände, nicht jedoch die Namensrechte an Pentacon, Praktica und Praktina. Die Treuhand verkaufte die Namensrechte stattdessen an Heinrich Manderman. Eine von Noble zunächst geplante Wiederaufnahme der Praktica-Produktion (BX 205) mit 122 Mitarbeitern kam daher nicht zu stande. Stattdessen wurde 1991 v.a. mit Arbeiten an einer Panoramakamera (siehe unten) begonnen (36 Mitarbeiter). Wegen des Erfolg des Kamera waren 1996 wieder 96 Mitarbeiter beschäftigt. Danach kam es jedoch zu eienr finanziellen Krise, in deren Folge Noble das Unternehmen 1997 verkaufte (u.a. an den Noblex-Entwickler Hans-Jörg Schönberg). Ab dem 25. Mai 1998 firmierte das Unternehmen als Kamera Werke Dresden GmbH. 1999 schieden SChönberg und Matthias Richer aus und bauten in Pirna ein Unternehmen für Spezialkameras auf. Optikentwicklung findet in den Kamera Werke Dresden nicht mehr statt.[11][12]

Produkte

Patent Etui (1920-1938)

Den ersten geschäftlichen Erfolg feierten die Kamera-Werkstätten mit der Patent Etui, einer sehr kleinen Faltkamera für Filme der Größen 9 × 12 cm und 6,5 × 9 cm. Die Patent Etui wurde von 1920 bis 1938 hergestellt.[13]

Pilot (ab 1931)

KW brachte 1931 mit der Pilot die erste zweiäugige Spiegelreflexkamera für 3x4-cm-Negative heraus. Es folgten 1932 die Pilot Box für 6x9 cm Mittelformat-Rollfilm und 1939 die Pilot 6 für 6x6-cm-Negative. Die ab 1938 angebotene Pilot Super hatte austauschbare Objektive.[14]

Reflex-Box (1933)

Als frühe, einäugige Spiegelreflex-Kamera hatte WK eine Boxkamera im Angebot. Als Objektiv diente u.a. ein Steinheil-Actinar 1:4,5/105 mm (höherwertige Option). Die Kamera nutzt das Filmformat 6 x 9 cm.

Praktiflex und Praktica

Bereits 1938 – zwei Jahre nach der Kine Exakta von Ihagee – stellten Guthe & Thorsch die ersten einäugigen Kleinbild-Spiegelreflexkameras des Modells Praktiflex her. Die Hauptarbeit der Entwicklung lag bei Benno Thorsch and Alois Hoheisel.[15] Die neuen Eigentümer der Familie Noble brachten 1939 die Praktiflex auf den Markt.

Die erste Praktica-Kamera wurde dann auf der Grundlage der Praktiflex von Siegfried Böhm 1948 konstruiert und im Jahre 1949 (erneut) vorgestellt.[16]

Praktina

Eine für den professionellen Einsatz vorgesehene, ebenfalls von Böhm für das Kamerawerk Niedersedlitz entwickelte Kamera war die Praktina. Sie wurde zur photokina 1952 herausgebracht und in den Folgejahren kontinuierlich weiterentwickelt (zum Beispiel Praktina FX, Serienproduktion ab 1953; Praktina IIa: 1958–1960).[17] Die Praktina benutzt ein eigenes Praktina-Bajonett und nicht den für die frühe Praktica-Reihe typischen M42-Anschluss.

Praktisix und Pentacon Six

Die Praktisix und ihre Nachfolgemodelle der Pentacon Six-Reihe waren 6x6-cm-Mittelformatkameras. Konstruktiv waren sie einäugigen Kleinbild-Spiegelreflexkameras wie der Praktina aus dem eigenen Hause ähnlicher als etwa den Konkurrenzprodukten von Rollei oder Hasselblad. An der Konstruktion war ebenfalls Siegfried Böhm beteiligt.[18]

Als erstes Modell wurde die Praktisix 1956 zur photokina vorgestellt und ab dem Folgejahr serienmäßig hergestellt. 1959 wurde das "KW"-Logo gegen den Ernemann-Turm des späteren VEB Pentacon ausgetauscht. Die Praktisix II kam 1964, die Praktisix IIa mit herausziehbaren Spulengegenlagern 1966 auf den Markt.[19] Insgesamt wurden etwa 28.000 Stück produziert.

Ebenfalls bereits 1966 erschien die mit weiteren konstruktiven Änderungen versehene Pentacon Six, ab 1969 in der Version einer Pentacon Six TL. Für die Pentacon Six TL wurde ein TTL-Prisma zur vereinfachten Belichtungsmessung angeboten (Through The Lens metering). Die Pentacon Six TL wurde bis 1990 gebaut.

Unter der Bezeichnung „Exakta 66“ brachte ein Unternehmen des späteren Pentacon-Erwerbers Heinrich Manderman ab 1984 drei aufgewertete Versionen der Pentacon Six TL auf den Markt, die teilweise aus Pentacon-Six-Originalteilen bestanden.

Panoramakamera Noblex

Die Noblex Pro, eine Panoramakamera, wurde 1992 entwickelt. Die Kleinbildversion Noblex 135 kam 1994 hinzu.

Andere Produkte

Guthe & Thorsch („KW“) verkauften auch ein kleineres Episkop, das als ganzes auf die zu projizierende Unterlage gestellt wurde. Im Jahre 1938 war der Vergrößerer Praxidos mit "vollautomatischer Scharfeinstellung" im Angebot.

Weblinks

 Commons: Kamera-Werke Niedersedlitz – Sammlung von Bildern, Videos und Audiodateien

Einzelnachweise

  1. www.john-noble.de, Richtigstellung von Katharina Förster-Noble, abgerufen 15. Juni 2011
  2. www.nytimes.com, Douglas Martin, November 26, 2007; abgerufen 15. Juni 2011
  3. http://www.camerapedia.org/wiki/KW
  4. Gerhard Jehmlich (2009) Der VEB Pentacon Dresden - Geschichte der Dresdner Kamera- und Kinoindustrie nach 1945. Sandsteinverlag. S. 220
  5. Gerhard Jehmlich (2009) Der VEB Pentacon Dresden - Geschichte der Dresdner Kamera- und Kinoindustrie nach 1945. Sandsteinverlag. S. 68
  6. MDR: Sir John H. Noble im Porträt, 11. Februar 2005
  7. Gerhard Jehmlich (2009) Der VEB Pentacon Dresden - Geschichte der Dresdner Kamera- und Kinoindustrie nach 1945. Sandsteinverlag. S. 68
  8. Gerhard Jehmlich (2009) Der VEB Pentacon Dresden - Geschichte der Dresdner Kamera- und Kinoindustrie nach 1945. Sandsteinverlag. S. 68-72
  9. Gerhard Jehmlich (2009) Der VEB Pentacon Dresden - Geschichte der Dresdner Kamera- und Kinoindustrie nach 1945. Sandsteinverlag. S. 72-73
  10. Gerhard Jehmlich (2009) Der VEB Pentacon Dresden - Geschichte der Dresdner Kamera- und Kinoindustrie nach 1945. Sandsteinverlag. S. 72
  11. Gerhard Jehmlich (2009) Der VEB Pentacon Dresden - Geschichte der Dresdner Kamera- und Kinoindustrie nach 1945. Sandsteinverlag. S. 220-222
  12. http://www.kwdo.de/deutsch/historie/inhalt.htm
  13. http://www.camerapedia.org/wiki/Patent_Etui
  14. http://www.camerapedia.org/wiki/KW
  15. http://www.camerapedia.org/wiki/KW
  16. Wolfgang Mesow, Heinz Kuhn: Photographie: 150 Jahre Kameras aus Dresden. Herausgeber: VEB Pentacon Dresden, 1988.
  17. http://www.dresdner-kameras.de/praktina-system/praktina-system.html
  18. W. Mesow, H. Kuhn (1988) Photographie - 150 Jahre Kameras aus Dresden. Herausgegeben vom VEB PENTACON DRESDEN. S. 27
  19. http://www.dresdner-kameras.de/pentacon_six/baureihen/entwicklung.html

Wikimedia Foundation.

Игры ⚽ Поможем сделать НИР

Schlagen Sie auch in anderen Wörterbüchern nach:

  • Praktica — IHG Praktica Kamera Praktica ist ursprünglich der Markenname für eine Baureihe von Spiegelreflexkameras des Herstellers VEB Kamera Werke Niedersedlitz ( KW ) der von Pentacon …   Deutsch Wikipedia

  • Dresden — Wappen Deutschlandkarte …   Deutsch Wikipedia

  • Welta — Die Firma Welta war ein deutscher Kamerahersteller in Freital (Sachsen) und ein Markenname von Fotoapparaten, die dort fabriziert wurden. Inhaltsverzeichnis 1 Geschichte 2 Modelle 2.1 Dubla 2.2 Perle …   Deutsch Wikipedia

  • Pentacon — 51.0301813.7984 Koordinaten: 51° 1′ 48,65″ N, 13° 47′ 54,24″ O …   Deutsch Wikipedia

  • Bodenbacher Straße (Dresden) — Bodenbacher Straße Straße in Dresden …   Deutsch Wikipedia

  • Pentacon Six — Mittelformatkamera Pentacon Six mit Fisheye Arsat 30 mm Pentacon Six mit …   Deutsch Wikipedia

  • Jürgen Brauer — (* 6. November 1938 in Leipzig) ist ein deutscher Kameramann, Filmregisseur und Drehbuchautor. Inhaltsverzeichnis 1 Leben und Werk 2 Filmografie (Auswahl) 2.1 Kameramann 2.2 …   Deutsch Wikipedia

  • P6-Bajonett — Das P6 Bajonett (auch: K 6 Bajonett) ist ein Objektivanschluss, der Anfang der 1950er Jahre von der Firma VEB Kamera Werke Niedersedlitz für die Praktisix Mittelformatkamera entwickelt worden ist. Es handelt sich nicht um eine offizielle… …   Deutsch Wikipedia

  • Praktica FX — 2 Die Praktica FX ist eine Kamera des Herstellers VEB Kamera Werke Niedersedlitz aus Dresden. Sie wurde ab 1951 bis 1956 gebaut und hat drei Synchronbuchsen auf der linken Vorderseite. Die obere Buchse entspricht dem X Kontakt, die mittlere… …   Deutsch Wikipedia

  • Praktica IV — Die Praktica IV ist eine Spiegelreflexkamera des Herstellers VEB Kamera Werke Niedersedlitz aus Dresden. Sie war die erste einer neuen Kamerageneration, welche mit einem fest eingebauten Pentaprismensucher ausgestattet wurde. Von Juni 1959 bis… …   Deutsch Wikipedia

Share the article and excerpts

Direct link
Do a right-click on the link above
and select “Copy Link”