- Johann Christian Reil
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Johann Christian Reil (* 20. Februar 1759 in Rhaude; † 22. November 1813 in Halle (Saale)) war ein deutscher Mediziner und Wegbereiter der romantischen Medizin. Er war Anatom, Chirurg, Gynäkologe, Augenarzt, Badearzt und Reformer. Sein Nachruhm gründet sich vor aber allem auf seine Arbeiten im Bereich der Psychosomatik. Er gilt heute als Begründer der modernen Psychiatrie, wobei er 1808 auch erstmals den Begriff „Psychiatrie“ verwendete.
Inhaltsverzeichnis
Leben
Reil wurde als Sohn eines Pfarrers im ostfriesischen Rhaude geboren. Er studierte 1779 in Göttingen und ab 1780 in Halle a. d. Saale unter den Professoren Philipp Friedrich Theodor Meckel und Johann Friedrich Gottlieb Goldhagen (1742–1788) Medizin. Letzterer nahm als Meister vom Stuhl der Freimaurerloge „Zu den drei Degen“ (1777–1786) am 1. März 1782 Reil persönlich auf. Nach seiner Promotion zum Doktor der Medizin und Chirurgie im Jahr 1782 absolvierte Reil in Berlin ein obligatorisches Praktikum für die Approbation als preußischer Arzt. Hier wohnte er bei Henriette und Markus Herz. Letzterer war Arzt am Jüdischen Krankenhaus und beeindruckte Reil durch seine Verbindung der aufklärerischen Philosophie Kants mit der Medizin und den Naturwissenschaften. Anschließend arbeitete Reil einige Jahre als praktischer Arzt in Norden. Hier verfasste er 1785 einen praktischen Ratgeber mit dem Titel Diätetischer Hausarzt für meine Landsleute.
1787 erhielt er eine außerordentliche Professur der Medizin an der Universität Halle. Nach dem überraschenden Tod seines Mentors und Vorgängers Goldhagen wurde Reil 1788 ordentlicher Professor der Therapie und Direktor des Klinikums. Im gleichen Jahr heiratete er Johanna Wilhelmine Leveaux († 1813), die Tochter einer wohlhabenden Halleschen Hugenotten-Familie. 1789 wurde Reil außerdem zum Stadtphysikus ernannt. 1792 erwarb die Degen-Loge auf Vorschlag Reils den „Jägerberg“ neben der Moritzburg (Halle), auf dem später das Logenhaus Zu den drei Degen errichtet wurde. Ein Jahr später wurde Reil Mitglied der Leopoldina. 1809 ernannte man ihn zum auswärtigen Mitglied der Bayerischen Akademie der Wissenschaften.[1]
In Halle profilierte Reil sich nicht nur als Arzt, als Hochschullehrer, Hirnanatom und Philosoph, sondern auch als Förderer des Badewesens. So engagierte er sich für die Errichtung einer Kur-Badeanstalt, die 1809 eröffnet wurde. Als er 1810 an die neu gegründete Berliner Universität berufen wurde, hatte er sich vorher ausbedungen, jährlich zur Badesaison mehrere Monate als Badearzt in Halle weilen zu dürfen. Zu Reils Konzept mit Parks und Salons gehörte auch ein Theaterbetrieb, den er 1811 in der Kirche des ehemaligen Barfüßerklosters gründete. Zu den vielen Kurgästen aus ganz Deutschland gehörten Johann Wolfgang Goethe, der Reil hoch schätzte und sich bereits 1805 von ihm hatte behandeln lassen, und Wilhelm Grimm.[2] Für die Theatereröffnung verfasste Goethe den „Prolog für Halle“. Als Nachruf widmete Goethe ihm 1814 außerdem das Vorspiel „Was wir bringen“.
Reil erhielt verschiedene Rufe auf andere Professuren, so 1802 nach Göttingen und 1809 nach Freiburg. Zum Dank für seine Verdienste und die Ablehnung des Rufes nach Göttingen schenkte ihm der preußische König Friedrich Wilhelm III. 1803 einen als Weinberg und Schafweide genutzten Berg auf dem Giebichenstein (heute „Reilsberg“). Reil baute hier eine Villa (heute „Reilsvilla“), ließ den Berg zu einem Park umgestalten und suchte sich dort noch zu Lebzeiten ein prähistorisches Steingrab als Grabstätte aus. 1901 wurde auf dem Gelände der Hallesche Bergzoo eröffnet. 1808 wurde Reil außerdem der Titel eines Oberbergrats mit dem dazu gehörigen Gehalt verliehen.
1810 gehörte Reil bei der Berliner Universitätsgründung zu den Ratgebern Wilhelm von Humboldts und ließ sich bewegen, auch ein Ordinariat an der Charité zu übernehmen. 1811 wurde er der erste gewählte Dekan der Medizinischen Fakultät und übernahm die Leitung der „Wissenschaftlichen Deputation für das Medizinalwesen“ beim Ministerium des Innern. Dabei setzte sich Reil unter anderem für die Verbesserung der katastrophalen Zustände der Lazarette im gesamten Preußen ein. In den Befreiungskriegen übernahm er Anfang Oktober 1813 die Leitung der Militärhospitäler in Leipzig und Halle. Dort erlebte er die Völkerschlacht bei Leipzig vom 16. bis zum 18. Oktober 1813, deren 30.000 Verwundete kaum ausreichend versorgt werden konnten. Er selbst erkrankte an Typhus und reiste bereits im Fieber zurück nach Halle, wo er am 22. November 1813 morgens gegen zwei Uhr starb. Er hinterließ zwei Söhne und drei Töchter. Seine Frau starb im Dezember 1813 im Kindbett.[3] 1830 ließ der Schwiegersohn Reils, der Medizinprofessor Peter David Krukenberg, über dem Grab Reils ein sarkophagähnliches Sandsteindenkmal errichten.
Werk
Reil galt als einer der bedeutendsten Ärzte und medizinischen Schriftsteller seiner Zeit, der sowohl die theoretische als auch die praktische Medizin beherrschte. Seine Untersuchungen über den Bau des Gehirns und der Nerven in „Excercitationum anatomicarum Fasc. I, de structura nervorum“ von 1796 wirkten bahnbrechend. 1795 gründete er das „Archiv für die Physiologie“, in welchem er versuchte, die praktische Mediuin mit der Physiologie auf einer wissenschaftlicher Grundlage zu vereinen. In seiner programmatischen Abhandlung über die Lebenskraft vertrat er dabei die Ansicht, dass alle Erscheinungen entweder Materie oder Vorstellungen seien, und dass alle an tierischen Körpern vorkommenden Erscheinungen auf der Verschiedenheit der tierischen Grundstoffe und auf der Mischung und Form derselben beruhten. Da jedes Organ ihm eigentümliche Erscheinungen darbiete, besitze jedes auch eine besondere Lebenskraft, Irritabilität und Krankheitsanlage. Mit diesem Denkansatz erwies sich Reil als ein Hauptvertreter des Vitalismus und Wegbereiter der romantischen Medizin, die wesentlich auf der von Friedrich Wilhelm Joseph Schelling hervorgebrachten Naturphilosophie beruhte und versuchte, den Menschen in ein universelles System der Natur einzuordnen.[4] Reil war außerdem ein überzeugter Anhänger der Lehren Franz Anton Mesmers und versuchte diesen nach Berlin zu holen. Zusammen mit Christoph Wilhelm Hufeland empfahl Reil in Berlin eine „Kommission zur Prüfung des Magnetismus“, die 1812 unter dem Vorsitz Hufelands ihre Arbeit aufnahm.[5]
Fiebertheorie
Zu seinem Hauptwerk wurde „Ueber die Erkenntniß und Cur der Fieber“ (5 Bde., Halle 1799–1815). Darin verwarf Reil den Ansatz, Fieber ausschließlich als veränderte Reizbarkeit zu erklären und argumentierte, die Symptome des Fiebers müssten von einer „dem fiebernden Organ selbst innewohnenden Krankheit herrühren“, dies allein sei aber noch kein Fieber. Alle Organe könnten Fieber erzeugen, aber das Fieber sei dennoch keine „absolut allgemeine Krankheit“. Reil löste damit die Symptomatik des Fiebers von einer eigentlichen Krankheit ab und verstand es statt dessen als einheitliche Reaktionsweise verschiedener Organe aus unterschiedlicher Ursache. Eine wesentliche Errungenschaft der Reilschen Fieberlehre liegt dabei darin, das Fieber als eine organische Funktionsweise unter pathologischen Bedingungen zu begreifen und dadurch als eine einheitliche Reaktion des Organismus in verschiedenen Erkrankungen zu charakterisieren.[6]
Psychiatrie
Bereits den vierten Band seiner Fieberlehre hatte Reil den Nervenkrankheiten gewidmet. Aber geradezu klassisch sollte seine Schrift „Rhapsodien über die Anwendung der psychischen Kurmethode auf Geisteszerrüttungen“ (1803) werden, in der er sich in zwangloser Form mit dem gesamten Gebiet der Psychiatrie auseinandersetzte. Auf der einen Seite versuchte Reil dabei, die Pathologie und Therapie der psychischen Krankheiten durch die „psychische Kurmethode“ auf das Nervensystem zurückzuführen. Auf der anderen Seite besprach er das bestehende Irrenwesen und entwickelte eigene Reformvorschläge. So forderte er die Errichtung eigener Heilanstalten, die mit Lehrstühlen der Psychiatrie verbunden werden sollten und empfahl Therapien, die im weiteren Sinne psychotherapeutische Techniken wie das Psychodrama, die Beschäftigungs- und die Schocktherapie vorwegnahmen. Zudem gründete er gemeinsam mit dem Naturphilosophen Adalbert Bartholomäus Kayßler mit dem „Magazin für psychische Heilkunde“ (1803–1805) das erste deutsche psychiatrische Periodikum und gab später mit dem Philosophen Johann Christoph Hoffbauer die „Beyträge zur Beförderung einer Kurmethode auf psychischem Wege“ (1808–1812) heraus.
Reil gilt auf Grund seiner psychiatrischen Arbeiten nicht nur als „deutscher Pinel“ und Begründer der modernen Neurologie und Psychiatrie. Er prägte auch den Begriff „Psychiatrie“ und zwar erstmals 1808 in einem Aufsatz „Über den Begriff der Medizin und ihre Verzweigungen, besonders in Beziehung auf die Berichtigung der Topik in der Psychiaterie“ in seiner Zeitschrift „Beyträge zur Beförderung einer Kurmethode auf psychischem Wege“.[7] Literarischen Widerhall fanden seine Konzepte in den Werken E. T. A. Hoffmanns.[8]
Neurologie
Als Ergebnis der anatomischen Forschungen Reils ist die Insula reilii in die Nomenklatur der Hirnanatomie eingegangen.
Würdigung
In Halle ist Reils Name noch in verschiedener Form präsent. Nach ihm sind die Reilstraße, das Reileck, der Reilshof, die Reilsbäder und die Poli-Reil benannt. Seine Büste steht in der Reilstraße. Des Weiteren wurde Reil am 25. Mai 2011 durch eine an seinem ehemaligen Wohnhaus in der Großen Ulrich-Straße 36 angebrachte Gedenktafel geehrt.
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Gedenktafel für Johann Christian Reil in Rhaude am Pfarrhaus
Schriften (Auswahl)
- Diätetischer Hausarzt für meine Landsleute, praktischer Ratgeber, 1785
- Von der Lebenskraft, 1795 (Neuauflage Leipzig 1910)
- Ueber die Erkenntnis und Cur der Fieber. 5 Bde., Halle 1799-1815.
- Rhapsodieen über die Anwendung der psychischen Kurmethode auf Geisteszerrüttungen, Curtsche Buchhandlung, Halle 1803, 1818 (E-Text, Titelblatt)
- Entwurf einer allgemeinen Pathologie, Curtsche Buchhandlung, Halle 1815
- Johann Christian Reil, Johann Christoph Hoffbauer (Hrsg.): Beyträge zur Beförderung einer Kurmethode, 2 Bände, Curtsche Buchhandlung, Halle 1808, 1812
- Johann Christian Reil (Hrsg.): Archiv für die Physiologie (Digitalisate: 4. Bd. 1800; 5. Bd. 1802; 6. Bd. 1805; 8. Bd. 1807/1808; 9. Bd. 1809)
Literatur
- Rudolf Beneke: Johann Christian Reil. In: Historische Kommission für die Provinz Sachsen und für Anhalt (Hrsg.): Mitteldeutsche Lebensbilder. 2. Band Lebensbilder des 19. Jahrhunderts. Selbstverlag, Magdeburg 1927, S. 30–45
- Ursula Engel: Zum Verhältnis von Psychiatrie und Pädagogik. Aspekte einer vernunftkritischen Psychiatriegeschichte. Mabuse, Frankfurt 1996 (Wissenschaft Band 26) ISBN 978-3-929106-21-3 (Dissertation zu Kant und Reil)
- Arthur Kronfeld: Einige Bemerkungen über die ersten psychotherapeutischen Veröffentlichungen, insbesondere J.C. Reil. Allg Ärztl Ztg Psychother 1928: 1, 10-23
- Andreas Marneros: Das Wort Psychiatrie wurde in Halle geboren. Schattauer, Stuttgart 2005 ISBN 3-7945-2413-6
- Ingeborg von Lips: Der Hallische Magnet : Johann Christian Reil. Halle: Projekte-Verlag, 2009. ISBN 978-3-86634-687-1.
- Melchior Josef Bandorf: Reil, Johann Christian. In: Allgemeine Deutsche Biographie (ADB). Band 27, Duncker & Humblot, Leipzig 1888, S. 700 f.
- Heidi Ritter / Eva Scherf: Habe unbändig viel zu tun... Johann Christian Reil. Hasenverlag Halle/Saale, 2011. ISBN 978-3-939468-59-2 (Biografie)
- Ulrich Schwetschke: Zur Biografie Johann Christian Reils. In: Kriegszeitung der Loge zu den drei Degen in Halle a. S., als Handschrift für Br. Freimaurer gedruckt (1915-1919), Gebauer-Schwetschke, Halle (Saale), o. D., Nr. 4 - 7.
Einzelnachweise
- ↑ Rückschau - verstorbene Mitglieder (R), BAdW
- ↑ Gero von Wilpert: Goethe. Die 101 wichtigsten Fragen. München 2007, S. 17. Wilhelm Grimm an Jacob Grimm, 10. April 1809.
- ↑ Bernhard Meyer: „Ewig in der Welt Gedächtnis“. Der Mediziner Johann Christian Reil (1759–1813). In: Berlinische Monatsschrift Heft 7/2000, S. 67–73. Henrich Steffens: Johann Christian Reil. Eine Denkschrift. Halle 1815.
- ↑ Meyer: Ewig, S.67-68.
- ↑ Walter Artelt: Der Mesmerismus in Berlin, Mainz 1965, S. 28-42.
- ↑ Volker Hess: Der wohltemperierte Mensch. Wissenschaft und Alltag des Fiebermessens (1850-1900). Frankfurt a. M. 2000, S.65-66.
- ↑ Andreas Marneros: Psychiatry’s 200th Birthday. In: The British Journal of Psychiatry 108 (2008), S. 1-3.
- ↑ Henriett Lindner: "Schnöde Kunststücke gefallener Geister". E. T. A. Hoffmanns Werk im Kontext der zeitgenössischen Seelenkunde. Würzburg 2001.
Weblinks
Commons: Johann Christian Reil – Album mit Bildern und/oder Videos und AudiodateienWikiversity: Reil, Johann Christian (1803) – Kursmaterialien, Forschungsprojekte und wissenschaftlicher Austausch
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